Friederike Mayröcker Eigentlich ist es nichts anderes als ein poetischer Synthesizer Marcel Beyer im Gespräch mit Friederike Mayröcker am 28. März 1988 in Wien Beyer: Wie ist das eigentlich, wenn du ein Gedicht schreibst: wieso stehen bestimmte Stellen in dem einen und nicht in einem anderen Gedicht? Wie kommt es zustande, daß du diese ganzen Zettelchen zusammensammelst und dann sagst: diese ganzen Ideen könnten in einem Gedicht zusammenkommen? Mayröcker: Naja, meistens ist es so, daß ich in einem Sammelkorb nur Sachen habe, die für eine bestimmte Sache schon bereit liegen, das heißt, wenn ich einen Auftrag habe, dann gehen meine Gedanken und so weiter in diese Richtung des Auftrags. Und dann sammle ich in einem Korb eben nur die Sachen, die mir dazu einfallen, beziehungsweise Verbalsachen, die für mich selbst sehr faszinierend und anregend sein könnten, die vielleicht gar nicht in die Richtung des Auftrags gehen, aber die unter Umständen das fördern könnten, diese ganze Sache, die ich unter Umständen dann auch gar nicht verwende, sondern nur als Anregungsmittel. Beyer: Und die bleiben dann einfach übrig, die werden nachher auch nicht mehr verwendet? Mayröcker: Ja, beziehungsweise sie werden dann verwendet, entweder als Titel oder mitten hinein, unterstrichen, also kursiv, und so, also die sind mir dann sehr wichtig. Sie werden auch dann manchmal, wenn sie mich immer wieder faszinieren, immer wieder verwendet. Und dann, zum Beispiel jetzt wirds dann kritisch, weil ich jetzt ein Körbchen habe, das schiebe ich jeden Tag hin und her, da ist so viel drin, da sind zum Teil auch noch Reste von den Texten, die ich jetzt in der letzten Zeit gemacht habe drin, und dann kommen jeden Tag so Sachen dazu, die mir einfallen, beziehungsweise die ich exzerpiere und die mir wichtig sind, aber auch Traumsachen, und die warten also jetzt auf irgendwas Neues, einen neuen Anstoß. Beyer: Diesen verschwenderischen Zug erkennt man auch an deinen Materialsammlungen: du hast so viel Material, das am Ende vielleicht gar nicht im Text verwertet wird. Ich habe das Gefühl, wie du das eben erzählt hast, du brauchst so viel Material, wie einen Stein im Bach, auf den du springst, um zum anderen Ufer zu kommen, zum Text. Mayröcker: Ja. Beyer: Denn die Zettelchen dienen nicht alle dazu, wirklich im Text zu erscheinen, sondern sie werden teilweise nur benötigt, um Anregungen zu geben. Mayröcker: Ja, ganz richtig. Beyer: Da kann dann zum Beispiel ein Germanist suchen wie er will, er findet Arbeitsmaterial teilweise nicht im Text wieder, einfach, weil die Sachen nur wieder Assoziationen bei dir geweckt haben, die dann im Text erscheinen. Mayröcker: Richtig, ja. Beziehungsweise so große Verbalfaszinationen, daß es eben dann gezündet hat, durch irgendein Wort zündet es dann. Beyer: Das ist ja auch so, wenn man hier in Wien herumläuft, findet man viele Wörter aus Texten von dir. Zum Beispiel dieses eine Gedicht Leibenfrost in Gute Nacht, guten Morgen: da könnte man lange überlegen, was das heißt. Mayröcker: Ja, das ist eine Gasse hier im Bezirk, die Leibenfrostgasse. Beyer: Und da ist es dann mehr das Wort, das dich anregt, oder ist es auch die Bedeutung? Mayröcker: Nein, das war irgendein Mann, ich habe gar nicht nachgeschaut, wer das war, irgendein Arzt glaube ich. Einfach nur »Leibenfrost«, weil ich das Wort so gut finde. Beyer: Notizen und Verbalträume bieten dir Anlaß zu Assoziationen: bei Prosatexten sind diese vom Leser vielleicht noch eher nachzuvollziehen als bei Gedichten, weil es bei Auftragsarbeiten ein vorgegebenes Thema gibt, das der Leser kennt. Schwierig wird es eher bei Gedichten, deren Anlaß der Leser nicht kennt. Da könnte man dann mit dem Vorwurf kommen, es handele sich lediglich um Konglomerate verschiedener Satzfetzen, weil man keine direkten Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen sieht. Zudem haben deine Titel selten erklärenden Charakter für den folgenden Text. Warum trägt das Gedicht Leibenfrost genau diesen Titel? Mayröcker: Ja, dieses Gedicht ist eine Überarbeitung eines Gedicht-Kerns und eines ganz alten Gedichts, das hier: »Sperlinge fallen aus dem Gebälk«, das hat eigentlich zu diesem Gedichtkomplex gehört, der bereits eine Überarbeitung eines anderen Gedichts ist, von dem ich aber nichts mehr weiß, wo es ist oder was. Das ist ein Teil eines frühen Gedichts, eines frühen Liebesgedichts, das auch hier etwas überarbeitet erscheint. Und das Leibenfrost, wieso es zu Leibenfrost kommt: hier habe ich natürlich gespielt mit dem Frost, der den Leib befällt, also unerfüllte Liebe oder wie immer, also hier ist es dieses Wortspiel mit Frost des Leibes, oder Frost, der über den Leib kommt, oder über die Seele oder wie immer, gleichzeitig aber ein Wort, das nicht geläufig ist, das es eigentlich so nicht gibt, das mich sehr gereizt hat, dies, gerade so ein Wort als Titel zu wählen für ein Gedicht. Das also dieses versteckte Liebesgedicht sozusagen. Beyer: Wenn man den Arzt Leibenfrost nicht kennt, kann man das Wort für einen Neologismus halten, es könnte auch ein Verbaltraum sein, oder du hättest es konstruiert. Aber Neologismen sind eigentlich selten bei dir, du verwendest lieber vorgefundenes Material. Mayröcker: Ja. Beyer: Und das ist dann oft so entlegen, weil du ja auch als Lektüre solch entlegene Werke liest, die man dir gar nicht zuordnen würde, daß man dann meint, es handele sich um neue Wörter. Mayröcker: Ja. Beyer: Oder zum Beispiel das Gedicht Ein Gleiches in Winterglück: wie kommt es zu dem Titel? Mayröcker: Das war eine Bitte an verschiedene deutschsprachige Autoren, im Goethe-Jubiläumsjahr etwas zu Wanderers Nachtlied zu schreiben. Daraufhin ist das Gedicht entstanden. Mein Gedicht bezieht sich eigentlich nur auf diese letzten beiden Zeilen oder die letzte Zeile von Goethe, das: »warte nur balde ruhest du auch«, das ist also jetzt so von mir gesehen eine Variation dessen, daß ich eben den Tod überhaupt ausklammern will und sag: also gut, die anderen sind jetzt alle tot, aber ich lebe noch. Also eigentlich eine Umkehrung des Goethe-Gedichtes. Beyer: Du rollst es von hinten auf, du gehst von der letzten Zeile aus, und dann entrollt sich dieses Gedicht nach vorne. So wie man ja auch sagen könnte, daß in diesem Goethe-Gedicht auch alles von der letzten Zeile ausgeht. Mayröcker: Hmhm. Viele Gedichte in Gute Nacht, guten Morgen sind Auftragsarbeiten gewesen. Beyer: Du hast eben gesagt, bei Leibenfrost hast du aus einem alten Gedicht einen Teil überarbeitet: das heißt die alten Texte sind noch immer um dich herum, und genauso wie Briefe und Zeitungen und Lektüre in neue Texte eingehen können, können auch alte Texte wieder für neue Texte verwendet werden. Mayröcker: Ja. In dem Maße, als ich sie wiederfinde. Weil ich ja keinen Überblick über die alten Sachen habe. Beyer: Und von wann war das alte verarbeitete Gedicht ungefähr? Mayröcker: Naja, aus den siebziger Jahren. Beyer: Paul Celan hat das manchmal gemacht, der hat in späten Gedichten Zeilen aus früheren Gedichten wieder aufgegriffen - das waren nun aber Beziehungen, die man als Leser herstellen konnte, darum frage ich, von wann dein verwendeter Text ungefähr war und ob er veröffentlicht worden ist. - Verwendest du denn in neuen Texten auch gezielt Anspielungen auf frühere Texte von dir? Mayröcker: Warte mal, da muß ich erst überlegen: mache ich gezielte Anspielungen ... - Das kommt schon manchmal vor, daß ich das mache, wenn ich die Texte finde, wenn sie in Büchern sind, dann kommt es schon manchmal vor, daß ich zurückgreife auf irgendeine Wendung. Oder ich verwende dann irgendein Wort oder ein Satzgefüge, das ich schon einmal verwendet habe, das mir besonders gut gefällt, so wieder nur als Anregung für Weiteres. Beyer: Ist es nun beabsichtigt von dir, daß der Leser diese Bezüge zwischen den einzelnen Texten herstellt? Mayröcker: Nein, das ist von mir nicht beabsichtigt. Beyer: Zum Beispiel die Magischen Blätter II: wenn man die liest, findet man viele Versatzstücke aus mein Herz mein Zimmer mein Name, weil die Texte ungefähr parallel zueinander entstanden sind. Ist es also eher so, daß du einen bestimmten Bereich hast, der dann auch fast nichts mehr von einer zeitlichen Abfolge des Entstehens verschiedener Texte hat, sondern daß eher diese zwei Jahre, in denen du an der neuen Prosa gearbeitet hast, ein Bereich sind, und in diesem Bereich entstehen dann auch die ganzen kleineren Texte, und das Material fluktuiert zwischen den verschiedenen Texten: mal geht etwas vom Material in den Text, dann wieder etwas in einen anderen, - es hat mehr von einem Raum als von einer Zeitachse, auf der ein Text nach dem anderen entsteht? Mayröcker: Das könnte schon sein, das finde ich sehr schön. - Andererseits habe ich Vieles nicht auf Zetteln gehabt sondern sozusagen in mir, oder auch eine gewisse Haltung in mir. Und aus der Haltung heraus, die Haltung zieht dann wie ein Magnet gewisse Zettel beziehungsweise bestimmtes Material an. Beyer: Das ist interessant, weil ich mir vorstelle, du hast diese Riesenkisten mit Material, und ich frage mich, wie findest du da irgendwas drin. Mayröcker: Na, ich finde eh nie was. Beyer: Naja, aber wenn du doch sagst, daß bestimmte Zettel angezogen werden. Mayröcker: Ja, durch die Haltung, also diese Haltung, die ich während der zwei Jahre gehabt habe, und wo ich zwischendurch auch etwas anderes schreiben mußte, da zieht es dann an sich, so gewisse Materialvorräte. Obwohl ich dann manchmal auch einfach nur so gewühlt habe und irgendwas rausgezogen habe. Beyer: Du hast eine Pinnwand, an der Leitmotive angeheftet sind. Die stand dann immer dabei? Mayröcker: Ja. Da habe ich eine Styropor-Platte gehabt, wo nur Leitmotive drauf sind. Und das mit dem Zufall, das geht jetzt schon sehr lange, also daß ich den Zufall doch sehr hochhalte. Und auch so, wie die Wiener Gruppe das zum Beispiel gemacht hat in den fünfziger Jahren, sie haben irgendwo ein Buch aufgeschlagen ... Beyer: Eine wichtige Technik des Schreibens ist für dich die Montage. Aber daraus ergeben sich nicht solche Texte, denen das Formale anhaftet, es sind nicht solche etwas sterile Gebilde am Ende - nun gut, man erkennt bei dir auch, daß es sich um Montagen handelt, aber bei dir werden die einzelnen Bestandteile doch stärker aneinander angeglichen und in einen Strom zusammengefaßt. Wie kommt das, daß du mit experimentellen Methoden Texte machst, die du selber als nicht-experimentell bezeichnest? Mayröcker: Ich glaube, es geht so zu: vor Jahren hat mir der Klaus Schöning, Hörspielredakteur beim WDR, Bilder gezeigt, die seine Frau, die Fanny Schöning macht, und ich bin ja sehr mit den beiden befreundet, und da war ich schon ein paarmal bei ihnen zu Hause, und die Fanny hat wunderschöne Gemälde gemacht, und zwar sind diese Gemälde eigentlich Collagen, wo sie Blumenblätter und verschiedenartiges Pflanzliches geklebt hat auf größeren Untergrund, und über diese Collagen aus Pflanzenteilen hat sie gemalt. Und diese Bilder sind so wunderbar, die sind schon sehr alt, die hat sie, glaube ich, vor zehn oder fünfzehn Jahren gemacht, und niemand, der diese Bilder sieht, auch ich habe es nicht entdeckt zuerst, glaubt, es sind gemalte Bilder, bis sie es einem dann genau zeigt. Und von da an habe ich eigentlich meine Methode, daß ich montiere und collagiere und das Ganze aber synthetisiere - in meiner Methode war ich damit eigentlich dann bestätigt. Und das habe ich ihr auch gesagt, das hat sie sehr befriedigt und auch angeregt zu neuen Sachen. Und sie hat dann zu diesem Hörspiel die Umarmung, nach Picasso von mir etwas gemacht, und zwar hat sie dann solch ein Objekt aus Arbeitsnotizen von mir gemacht, und noch etwas: sie hat das fotokopierte Manuskript des Hörspiels mit Bildern aus dem Picasso-Zyklus schichtweise collagiert, das heißt man sieht zum Teil das Bild und man sieht zum Teil den Text. Und das wurde wieder ausgestellt im Rupertinum bei Otto Breicha, wo es auch eine Wiedergabe des Hörspiels gegeben hat. So, das war also jetzt ein langer Umweg, und ich wollte also sagen, daß mir das die große Bestätigung gegeben hat, daß es so geht. Es ist ein Synthetisieren, Synthesizer, eigentlich ist es nichts anderes als ein poetischer Synthesizer, diese Materialanwendung. Beyer: Du drehst gewissermaßen alles Sprachmaterial durch eine Mangel, und das ergibt dann den Text. Mayröcker: Ja, das ist eigentlich etwas sehr Künstliches, und das muß es ja auch sein. Beyer: Es ist vielleicht so, daß du teilweise die Montagestellen verwischst, und teilweise läßt du sie noch da. Mayröcker: Ja. Beyer: Und das ist dann vielleicht etwas, was dazu führt, daß Leseerwartungen enttäuscht werden, daß man einfach erwartet, ein Erzählstrang wird weitergeführt, man werde immer weiter die Anschlußstellen finden, und dann kommen aber die Verbalträume dazwischen etcetera, womit man auf Anhieb gar nichts anfangen kann. Und daß du die Nahtstellen teilweise verwischst, mag vielleicht darüber hinwegtäuschen, daß die Texte eben doch durchgehend montiert sind. Mayröcker: Das will ich ja auch, daß ich zum Teil verwische und zum Teil nicht. Beyer: Und das war vielleicht früher nicht so, früher hast du nicht so stark verwischt, und was du jetzt machst, vielleicht seit Reise durch die Nacht, bezeichnet man dann als eine Mischung zwischen Experimentellem und Nicht-Experimentellem. Mayröcker: Ja das stimmt schon. Es ist auch vielleicht ganz wichtig: man könnte mich ja auch fragen: wann verwischst du und wann nicht, aus welchen Grundsätzen heraus, aus welcher Haltung heraus verwischst du und wann verwischst du nicht: das ist zum Teil ein körperliches Befinden, also es ist eine physische Sache, ein physisches Kriterium, das ist so wie wenn du auf eine Apothekerwaage noch eine Spur von einem Pulver drauflegst und dann stimmt es. Das kommt also auf ganz winzige Dinge an, das spür ich körperlich, wann das zu verwischen ist oder wann da ein Wort doch weggehört oder nicht, man spürt es also ganz körperlich, wo ichıs lassen kann oder wo ichıs überarbeiten oder übermalen kann, das wirst du auch merken beim eigenen Schreiben. Und ich hab auch schon öfter in Interviews gesagt, daß ich mich in einer Parallelhaltung manchmal empfinde zum Arnulf Rainer mit seinen Übermalungen. Beyer: Darauf wollte ich schon immer mal kommen: denn ich habe das Gefühl, daß die Methoden, die der Arnulf Rainer anwendet, für moderne Literatur ganz aufschlußreich sind, daß sie dazu teilweise parallel laufen. Er nimmt Photos oder Bilder und arbeitet darüber: man sieht zwar teilweise noch, über was da hinweggezeichnet worden ist, aber das Ganze ist ein neues Werk geworden. Und Du hast diese Proustparaphrase geschrieben, die in mein Herz mein Zimmer mein Name eingegangen ist - ich weiß jetzt nicht, wieviel Proust da drin ist, ob du das parallel zu einem Text von Proust gemacht hast... Mayröcker: Da ist überhaupt kein Proust drin, das ist nur in der Haltung, im Stil parallel. Beyer: Aber du hast doch auch sicher Texte, in denen du wirklich etwas paraphrasierst. Und man erkennt das oft gar nicht, es wird nicht durch den Titel erklärt oder so. Oder wenn du ein Bild paraphrasierst, indem du eine Bildbeschreibung machst: das ist auch eigentlich wie Arnulf Rainer, denn du gibst ja nicht eine Bildbeschreibung, die man präzise nennen würde, also selten haben diese Paraphrasen einen direkten Wiedererkennungswert, - das würde Rainer machen, wenn er die Linien eines Bildes nachzeichnete - sondern das ist dann eine eigene Sache, es geht richtig durch dich hindurch und ist dann etwas ganz Neues. Mayröcker: Ja, zum Beispiel bei kleines Öl in den Magischen Blättern II habe ich ja auch so eine chinesische Zeichnung verwendet. Eine Karte, wo gezeigt wird, wie Kinder Handstand machen und mit den Pantoffeln nach oben stehen. Was ja auch vorkommt im Text. Beyer: Das kann man aber, ohne es zu wissen, nicht aus dem Text herauslösen. Mayröcker: Nein. Beyer: Bei dir gibt es die unterschiedlichste Lektüre: nicht nur Belletristik, sondern auch das medizinische Wörterbuch Pschyrembel zum Beispiel. Mayröcker: Der Freud hat mich auch sehr angeregt. Beyer: Du hast mal geschrieben, du wollest dich noch einmal intensiv mit Freud beschäftigen. Hast du das inzwischen getan? Mayröcker: Nein. Ich habe da zwar alle Bände von ihm, ich picke dann immer irgendwie etwas heraus oder so, oder ich werde durch Lektüre hingewiesen auf den oder den Band, und dann schaue ich halt wieder nach. Beyer: Das heißt, der Freud ist etwas, das immer offensteht, um ausgebeutet zu werden? Mayröcker: Ja. Beyer: Und dann gibt es ja auch solche Bücher, die hast du einmal gelesen, und dann können sie weg, dann brauchst du sie nicht mehr in deiner Nähe zu haben. Mayröcker: Ja, aber viele will ich in der Nähe haben, wie zum Beispiel den Michaux, den brauche ich immer in der Nähe. Und den Roland Barthes, also zum Beispiel Fragmente einer Sprache der Liebe, das habe ich mir dreimal gekauft, weil ich es immer wieder lesen wollte und es nie gefunden habe. Beyer: Teilweise ist mir aufgefallen, daß du ganz andere Sachen liest, als du schreibst, also wenn man deine Texte liest wird man vielleicht meinen, du läsest vor allem experimentelle Werke. Aber teilweise finde ich hier Bücher, die dem gar nicht entsprechen, die völlig anders sind. Du hast zum Beispiel viele Bücher aus dem Bereich der Mystik, Das tibetanische Totenbuch, Werke von Castaneda und so weiter. Mayröcker: Ja also im Grunde ist es so, daß ich in den letzten Jahren kaum mehr ein Buch experimenteller Literatur in die Hand genommen habe, weil mich das langweilt. Das ist überhaupt keine Anregung für mich. Das habe ich lange genug selber gemacht und bin so weit entfernt davon. Also ich bin in eine andere Richtung eingeschwenkt - ich habe zum Beispiel kaum je etwas mit konkreter Poesie anfangen können. Ich habe mich ja eigentlich von vornherein immer abgesetzt von der konkreten Poesie, bin immer wieder dazugeschaufelt worden, und ich habe mich immer dagegen gewehrt. Und zwar habe ich mich vor allem in den früheren Jahren, in den siebziger Jahren, wo ich mich so richtig abgewendet habe vom Experimentellen, habe ich mich immer deshalb davon so entfernt gefühlt, weil ich finde, daß diese pure konkrete Poesie doch sehr viel mit der Klassik zu tun hat, mit der klassischen Form, und das war mir dann so langweilig, daß ich damit nichts weiter zu tun haben wollte. Beyer: Du bringst in deinem Schreiben verschiedene Ansätze zusammen: nicht nur Konventionelles, nicht nur Experimentelles. Du arbeitest mit der Enttäuschung von Erwartungshaltungen: wer ein puristisch-experimentelles Buch lesen möchte, wird genauso enttäuscht wie der, der nach einer konventionellen Story sucht. Mayröcker: Ja, es ist eine gewisse Polyphonie glaube ich da, aber auch ein gewisses immer wieder Entgegenwirken, also zwei oder mehrere Dinge wirken einander entgegen, und dann zündetıs eben erst. Beyer: Post, die du bekommst, spielt bei dir eine ganz große Rolle. Wie ist das eigentlich: die Post kommt an und du siehst sie dir durch, und irgendwie gelangen dann Partikel daraus in die Texte? Mayröcker: Ja, die Post lese ich mir durch und schreibe drauf: »nach Antwort Montage«, soweit sie zu brauchen ist. Und dann nehme ich mir, meist gleich nachdem ich die Post bekommen und gelesen und beantwortet habe, nehme ich dann gewisse Stellen aus den Briefen als Material. Beyer: Ist es so, daß alles, was du liest, auch als Material dient, also ich meine, wenn du in der Wiener Tageszeitung Die Presse liest: kommt es auch vor, daß da Stellen sind, die du dann verwenden kannst? Mayröcker: Ja. Beyer: Oder ist es auch so, daß du bei bestimmten Sachen, die du liest, eben bei der Post, auch besonders darauf wartest, daß vielleicht etwas kommen könnte, das du verwenden kannst? Mayröcker: Jaja, ich bin mir der ausbeuterischen Haltung völlig bewußt und empfange sehr gerne Post, auch sicher aus diesem Grund. Und hab dann natürlich auch zum Teil ein schlechtes Gewissen, weil ich mir dann denke, dieser Brief ist vom Absender mit einer gewissen Emotion ausgestattet, und ich schlachte das dann aus für meine Arbeit. Aber ich hole mir immer die Einwilligung des Absenders ein. Beyer: Wenn du Zeitung liest - also ich will noch einmal darauf zurückkommen -, und Zeitung ist Information, und man liest normalerweise schnell, um irgendwelche Informationen herauszuziehen und denkt gar nicht daran, daß etwas zum Zitieren drin sein könnte, wohingegen man ein Buch vielleicht grundsätzlich langsamer liest, konzentrierter, so daß einem eher schöne Textstellen auffallen. - Ist es so, daß du die Zeitung nur schnell durchliest, um irgendwas zu erfahren, oder bist du eigentlich immer auf Empfang gestellt, wann immer du liest? Mayröcker: Ja, ich bin eigentlich immer auf Empfang gestellt und unterstreiche mir dann in den Zeitungen gleich oder ich reiße es einfach heraus. Zum Beispiel auf der Kulturseite sind bei «Vernissagen» oft sehr gute Sachen. Aber auch sonst, auch in den anderen Teilen der Presse zum Beispiel. Beyer: Also jedes geschriebene Wort hat die Chance, eventuell von dir als Material verwendet zu werden? Mayröcker: Ja, aber oft nicht im Rohzustand, sondern oft verlese ich mich, und das sind dann die ergiebigsten Sachen. Ich verlese mich sehr oft eigentlich, wahrscheinlich, weil ich flüchtig lese. Auch auf der Straße verlese ich mich, und das ergibt dann oft ganz wunderschöne Sachen. Verhören, das ist eh klar, Verhören und Verlesen. Beyer: Wie siehst du das Verhältnis zwischen dir, der konkreten Poesie und der Wiener Gruppe? Mayröcker: Naja, es war so: vor ein paar Jahren hat der H. C. Artmann zu Ernst Jandl und mir gesagt: »also ihr ge-hört doch zur Wiener Gruppe«. Und wir haben das lächelnd hingenommen und haben gesagt: ja ja, aber nicht historisch. Aber er hat darauf bestanden. Die Realität war ja aber doch so, daß ich zuerst den Andreas Okopenko kennengelernt habe, dann Ernst Jandl, dann H.C.Artmann, mit dem ich mich von Anfang an immer sehr gut verstanden habe, und später dann erst Gerhard Rühm, Oswald Wiener, und dann auch Konrad Bayer und Friedrich Achleitner, wobei ich gleich sagen muß: mit Bayer und Achleitner habe ich fast gar keinen Kontakt gehabt damals, am wenigsten eigentlich mit dem Konrad Bayer, der eigentlich eine so abweisende Art gehabt hat, also allen Leuten gegenüber, sich sehr abgekapselt hat, Distanz gehalten hat. Es war ja dann so, daß erst Okopenko und später Artmann die Publikationen herausgegeben haben. Da waren also die Gemeinschaftsarbeiten mit Andreas Okopenko, mit Ernst Jandl und Okopenko, und nur mit Ernst Jandl und mir. Die weiteren Kontakte zur Wiener Gruppe haben sich dann eigentlich nicht so weiterentwickelt, daß man gemeinsam gearbeitet hat, wir haben nur hier und da einmal gemeinsam gelesen, soweit ich mich erinnern kann ein paarmal, aber nicht (jedenfalls ich nicht) mit Konrad Bayer und auch nicht mit Oswald Wiener, obwohl ich damals schon den Oswald Wiener sehr geschätzt und verehrt habe. Beyer: Das heißt also, Ihr wart auch gar nicht bei Treffen in Cafés oder so zusammen? Mayröcker: Nein, wenig, also ich habe mich, es muß '54 gewesen sein, da habe ich mich einmal mit Achleitner im Café Hawelka getroffen und vielleicht auch hie und da einmal mit Artmann, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Das heißt also, ich war nicht dabei, bei all diesen Happenings, bei all diesen ersten Sachen der Wiener Gruppe, da konnte ich auch praktisch nicht dabeisein, ich war als Lehrerin ziemlich eingespannt, habe keine Kontakte im Untergrund gehabt oder so. Ich habe den Helmut Winkelmayer damals gekannt, den Begründer der Hundsgruppe, der wieder bekannt war mit Mia Williams, damals Daniela Rustin, und Ernst Fuchs, und Maria Lassnig (die habe ich damals aber nicht gekannt), also nur durch den Helmut Winkelmayer habe ich diese Kontakte sozusagen gestreift, aber nicht richtig gehabt. Ich habe auch damals die Mia Williams nicht gekannt, die habe ich erst viel später kennengelernt. Beyer: Das heißt, der Lehrerberuf hat dich von dem kulturellen Wiener Nachtleben ausgeschlossen? Mayröcker: Völlig ausgeschlossen, ja. Beyer: Und du hast dann allein gearbeitet, nur halt in Kontakt mit Andreas Okopenko und Ernst Jandl? Mayröcker: Ja, mit Okopenko habe ich Briefe gewechselt, er hat mir auch sehr viele Tips gegeben zu Gedichten von mir, mit Ernst Jandl dann erst viel später, dem habe ich ein paar Gedichte gezeigt, die damals entstanden sind, oder auch früher entstanden sind, und er hat seine Kritik abgegeben, die nicht immer zu meinen Gunsten ausgefallen ist, und ich habe seine Gedichte gesehen. Aber sagen wir so: dieser ganz innige Kontakt, wie in den frühen fünfziger Jahren zu Okopenko, oder in den späten fünfziger Jahren zu Ernst Jandl, den habe ich kaum je zur Wiener Gruppe gehabt. Am ehesten noch zu H. C. Artmann. Beyer: Und diese Treffen mit Hans Weigel - in welcher Zeit fanden die statt? Liefen die parallel dazu? Mayröcker: Ja, der Hans Weigel, den habe ich kennengelernt, das muß in den späten vierziger Jahren gewesen sein. Er hat mir sehr viel geholfen, hat mich sehr bestärkt im Arbeiten, und einmal schenkte er mir ein Photo, auf dessen Rückseite hatte er geschrieben: du mußt schreiben. Das war sehr nett von ihm. Und er hat mich dann (da habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt) zu Hause besucht, und er hat gesagt, ich müsse meine ganze Kraft auf das Schreiben lenken. Und er hat dann auch Veröffentlichungen von mir gemacht, er hatte Zugang zu einer Nachkriegszeitung, der Weltpresse, in der hat er einige Male etwas von mir abgedruckt, das erste war bis der Tau fällt.., das heute in der Gesammelten Prosa 1949-1975 enthalten ist. Beyer: Ja wie war das eigentlich: hast du veröffentlichen wollen, hast du Texte verschickt? Mayröcker: Damals sicher noch nicht, ich glaube, das hat erst viel später angefangen mit dem Verschicken. Beyer: Das heißt, du hast anfangs eher für dich geschrieben? Mayröcker: Ja, für mich. Beyer: Und hast du auch gar nicht so nach außen hin gedacht? Mayröcker: Überhaupt nicht. So richtig, daß es mich ergriffen hat, daß ich wußte: du mußt publizieren, das war seit dem Erscheinen von Tod durch Musen. Bei Larifari schon gar nicht, da habe ich mir gedacht: naja, ganz schön, ein Buch einmal. Ich weiß noch, wie ich da gesessen bin, vor diesem Verleger. Und der hat mir Glück gewünscht, also ich weiß noch ganz genau: ich wünsche Ihnen viele viele Bücher. Da hab ich mir gedacht: das ist mein erstes und letztes Buch, habe ich mir gedacht. Beyer: Glaubst du, du würdest heute so viel verschicken, wie du veröffentlichst, wenn du nicht um Texte gebeten würdest ? Mayröcker: Nein, überhaupt nicht, ich würde nichts mehr verschicken. Beyer: Du würdest einfach immer arbeiten und arbeiten und irgend jemand müßte kommen und die Texte abholen? Mayröcker: Ja, ich habe aber in den sechziger Jahren ziemlich viel verschickt, habe auch Texte bei Preisen eingereicht und so. Beyer: Mittlerweile hast du recht viel publiziert, über fünfzig Bücher und mehr als 1500 Beiträge in Anthologien und Zeitschriften. Mayröcker: Ich kann das praktisch nicht mehr überblicken, weil es doch eine ziemlich lange Zeit ist, und weil ich das Gefühl einer großen Erneuerung habe, von Jahr zu Jahr, daß immer alles, was hinter mir liegt, nicht mehr existiert. Es existiert nur das, woran ich gerade arbeite, oder was ich gerade abgeschlossen habe. (aus: Friederike Mayröcker: Gedichte, in: ZdZ Heft 4) |