Michael Braun Die Engeler-Artisten und die Kunst der Grenzüberschreitung - Porträt eines ungewöhnlichen Verlegers «Irgendwann landen alle guten Dichter bei Urs.» Es war nur eine beiläufige Bemerkung, ganz ohne Propheten-Pose, die der Dichter Ulf Stolterfoht in einem seiner vielen Interviews fallen liess. Möglich aber, dass diesem Satz bald eine prognostische Qualität zuwächst. Während man in unseren noblen Bücherhäusern die Lyrikprogramme immer mehr eindampft, hat sich der passionierte Independent-Verleger Urs Engeler seine Leidenschaft für die Dichtung nicht austreiben lassen. Dass sich unsere besten sprachschöpferischen und ästhetisch querulatorischen Dichter irgendwann im Einmann-Verlag Urs Engeler Editor einfinden, ist ein fast schon empirisch belegbares Faktum. Das beste Beispiel ist ja der Peter-Huchel-Preisträger Ulf Stolterfoht selbst, der als völlig unbekannter Novize 1998 gleich mit seinem ersten Gedichtbuch «fachsprachen I-IX» in das kühne Programm Urs Engelers aufgenommen wurde. In Stolterfohts jüngstem Erfolgsbuch, dem in dritter Auflage (und bald 2500 verkauften Exemplaren) vorliegenden ethnografischen Langpoem «holzrauch über heslach» (2007), ist denn auch stolz von einem abenteuerbereiten «Engeler-Artisten» die Rede, als wäre die Zugehörigkeit zu diesem kleinen Verlagshaus ein Qualitätsbeweis. Sicher ist: An ästhetischem Eigensinn und an verlegerischem Beharrungsvermögen lässt sich der in Basel beheimatete Urs Engeler (der ins Gewerbegebiet in Weil am Rhein pendelt, wo er sein Versandzentrum und Bücher-Lager angesiedelt hat) kaum überbieten. Es fing alles Ende 1991 an, als ein junger Student der Literaturwissenschaft aus Winterthur den Plan fasste, entgegen aller ökonomischen Vernunft im Alleingang eine Lyrikzeitschrift zu gründen. In seinen Seminaren bei dem Komparatisten Hans-Jost Frey hatte der 1962 geborene Engeler gelernt, die nicht begriffliche, metaphorische, unbestimmte Sprache des Gedichts als eine primäre Form der Wirklichkeits-Erkundung zu begreifen. Seine Entscheidung für Gedichte war - wie er es in einem Gespräch unter Hinweis auf eine Sentenz Paul Celans formulierte - auch ein «Versuch, Richtung zu gewinnen». Auf der Suche nach dem anthropologischen Ur-Ereignis Dichtung präsentierte Engeler daher im September 1992 das erste Heft seiner Lyrik-Zeitschrift «Zwischen den Zeilen». Die Skeptiker, die dem literarischen Nobody damals allenfalls zutrauten, die virulente Überproduktion mittelmässiger Gedichte nur noch weiter anzukurbeln, wurden rasch eines Besseren belehrt: Aus dem marginalen Poesie-Projekt eines Einzelgängers aus Winterthur ist mittlerweile das inspirierendste Lyrik-Periodikum der Gegenwart geworden. Schon in den ersten Heften von «Zwischen den Zeilen» wurden mit Durs Grünbein, Thomas Kling, Jürgen Becker, Friederike Mayröcker, Marcel Beyer und Brigitte Oleschinski gleich die suggestivsten Stimmen unserer Zeit in lehrreiche Lyrik-Dispute verstrickt. Mit mittlerweile 28 umfangreichen Ausgaben hat sich «Zwischen den Zeilen» zu einer unentbehrlichen Bibliothek der avancierten Gegenwartslyrik und zum wichtigsten deutschsprachigen Forum für Poesie und Übersetzung entwickelt. Und noch immer erscheint sie 1-2 mal jährlich im gleichen asketischen Outfit wie 1992: mit weissem Cover, ohne Farbe, ohne Bilder, ohne visuelles Tohuwabohu, Text pur. Anders als die von einer Privatperson gesponserten Engeler-Bücher erhält die Zeitschrift Subventionen von diversen Schweizer Institutionen. Der Einstieg in die Buchproduktion begann dann 1995 mit dem Versuch, mit drei voneinander unabhängigen, aber sich gegenseitig ergänzenden Essays eine Partitur zur Poetik der Gegenwart zu erstellen: «Die Schweizer Korrektur», ein Band mit Essays von Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse, las sich wie eine lyrische Synopsis mit fundamentalen Grundlegungen poetischer Zeitgenossenschaft. 1997 folgten die ersten drei «Compact-Bücher», bibliophil gestaltete Bücher mit beigelegten Compact Discs, die zu den Texten die Dichter-Stimme in ihrem je eigenen poetischen Raum transparent machten. Seine «Compact-Bücher» versteht der Verleger als interaktive Kunstwerke, weil nämlich «die akustischen und die schriftlichen Phänomene aufeinander bezogen sind und sich auch verändern durch diese Beziehung». Eine zweite Buchreihe eröffnete Engeler 1998 mit kleinformatigen, broschierten Bänden, an denen die neue Akzentuierung seines Lyrik-Interesses ablesbar war: Bücher von Peter Waterhouse, Hans-Jost Frey, Thomas Schestag und Michael Donhauser, mithin Texte, die den Prozesscharakter des Schreibens und seine Ursprünge im mimetischen Gestus betonten. Besonders die poetischen Lektionen von Waterhouse, der in seinen Gedichten und Essays mit den Gegenständen und den von ihm studierten Fremdtexten in fast symbiotischem Austausch zu stehen scheint, haben Engelers Programm eine neue Kontur gegeben. Ermöglicht werden die aufwändigen Buchprojekte durch einen lyrik-enthusiastischen Mäzen, der mit dem Verleger in ständigem Kontakt steht und immer wieder auch genaue Rechenschaft über die erzielten Buchverkäufe abfordert. Aber eine solche Treue eines Mäzens zu einem Verleger, die in diesem Fall schon bald fünfzehn Jahre währt, hat es in der Szene der Independent-Verlage wohl noch nie gegeben. Über 60 Autoren aus Deutschland , Österreich, der Schweiz, Frankreich, den USA und Italien - von Kurt Aebli und Urs Allemann über den rumänischen Surrealisten Gellu Naum bis hin zu dem italienischen Jahrhundertpoeten Andrea Zanzotto - dürfen sich mittlerweile zu den «Engeler-Artisten» rechnen. «Der ideale Autor, der mich interessiert», so erklärt der Verleger im Gespräch, «bringt eher Mischformen hervor. Bei Birgit Kempker oder Felix Philipp Ingold gibt es die Grenzüberschreitung zwischen Lyrik, Prosa oder Essay. Mich interessiert die poetische Energie eines Textes, die eine eigene Form schafft, die Sprache als Kunst ist, Schönheit und Intelligenz, Konsequenz und Zartsinn, und nicht die gattungsmässige Zuschreibung.» Als Urs Engeler 2007 der Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung zugesprochen wurde, verwies Laudator Klaus Theweleit auf eine schöne Sentenz Gottfried Benns: «Gedichte sind immer eine Zumutung!» Urs Engeler beherrscht die Kunst, solche Zumutungen produktiv zu machen. «Meine Mission nenne ich Poesie», erklärt er lakonisch: «Ich wage ab und zu behaupten: Seht, da steckt sie drin!» Und so dürfte sich Ulf Stolterfohts Prognose wohl bewahrheiten: Der «Engeler-Artist» wird zum Synonym für den avancierten Lyriker der Gegenwart. |