Jean Daive Französischer Schriftsteller, geboren am 13. Mai 1941 in Bonsecours, eine Ortschaft, die geprägt ist von einer doppelten Präsenz: einerseits von derjenigen eines weiten, von dichtem Farnkraut überwucherten Buchenwaldes und andererseits von derjenigen der Kohlebergwerke des Bergbaureviers von Anzin. Eine Landschaft, die im Roman La Condition d’infini zu einer erhabenen wird durch die eindringliche Beschreibung der bewaldeten Hügel und der Gärten des Wienerwaldes, dessen beinah mozartische Geometrie ihn unweigerlich an die negative Partitur erinnern lässt, die das Wahrnehmung der Wiesen, der Minen, der Halden, der «cressonnières», der Wolken und der kohlestaubhaltigen Luft (negatives Bild der Welt) hervorruft. Foto Melanie Gribinski Von Krankheit geprägte Kindheit. Sprachkrise. Autismus. Implosion der Wörter. Entdeckt die Musik, die Malerei, das Gedicht. Im Alter von sieben Jahren will er sämtliche Bücher lesen. Dies tut er kniend vor dem rosafarbenen Heizkörper in seinem Zimmer: Artaud, Bataille, Michaux, Kafka, Joyce, Gertrude Stein, Faulkner, Céline, Jouve, Cendrars, Rimbaud, Baudelaire. Er liebt Wörterbücher, in denen er – gleichzeitig – Realität und Utopie findet. Was er um jeden Preis will: sprechen, oder genauer gesagt, den Mund öffnen. Aussprechen. Die Erfahrung des Stammelns. Das Ja und Nein erproben, die einzigen Worte, die er murmelt. Die einzigen zwei Antworten, die er dem Universum entgegenhalten kann. Kind des Wandschranks, die Erfahrung wahnhaften Horchens. Die Erfahrung des kleinsten Geräusches, der kleinsten identifizierbaren Silbe. Grosse Angst, die er noch nicht zu bändigen vermag, um die Anwesenheit einer Katastrophe, die ihn bewohnt, zu zerstreuen. Ein großes Schweigen überdeckt alles. Paris und die Gewissheit der Öffnung. Ein Buch fällt ihm in die Hände: Extraits du corps von Bernard Noël, das einschlägt wie ein Blitz und in dem er sich wiedererkennt (1958). Er liest ein Gedicht von Paul Celan, das ihm eine Freundin auf einer Postkarte zuschickt: Sprachgitter (Grille, la parole), und erkennt sich darin wieder (1959). Er entdeckt Wien und die Akteure (Freud, Musil, Wittgenstein, Loos, Otto Wagner) des österreichisch-ungarischen Reichs (1960). Der Versuch, ein paar Worte zusammenzusetzen. Décimale blanche, ein langes Poem erschienen im Ephémère n°2 (1967), später im Mercure de France (1967). Das Wort scheint wieder gefunden, fragil, immer am Rande des Verschwindens. Erste Bücher. Monde à quatre verbes (Fata Morgana, 1970), Fut bâti, (Gallimard, 1973). Publikation einer ersten Zeitschrift im Verlag Brunidor: fragment (1970-1973), welches drei Hefte umfasst, und Herausgabe unter anderem von Alain Veinstein, Bernard Noël, Roger Giroux, Paul Celan, Hubert Lucot, Gherasim Luca, Anne-Marie Albiach. 1970. Tod von Paul Celan. New York und die Idee zu einem schneckenförmigen Roman La Condition d’infini. Entdeckt die Gedichte des amerikanischen Schriftstellers Robert Creeley, welche der Verlag Gallimard ihn zu übersetzen bittet. 1971 veröffentlicht Mercure de France seine Übersetzungen der Gedichte von Paul Celan: Strette, die 1990 wieder aufgenommen und erweitert werden unter dem Titel Strette et autres poèmes. Die Erfahrung der Übersetzung an der Seite von Paul Celan erlaubt ihm die Übersetzung von Robert Creeleys Gedichten, die gleichzeitig einfach, elliptisch oder abstrakt sind und deren Nähe – ab 1970 – mit der Welt Paul Celans er sehr schnell erfasst: Die Übersetzungen einer Auswahl von Gedichten erscheinen 27 Jahre später unter dem Titel La Fin (Gallimard, 1997). Bücher im Verlag Collet du buffle und Orange Export Ltd., unter anderem: 1 7 10 16, n, m, u, l’Absolu reptilien. Er veröffentlicht bei Gallimard Gedichte, die er im Mai 1968 geschrieben hat und die bereits in einem Heft von Ephémère erschienen sind durch die Bemühungen von Louis-René des Forêts und André du Bouchet: Le Cri-cerveau. In der Zwischenzeit begegnet er Paul Otchakovsky-Laurens, zu jener Zeit Direktor der Reihe «Textes» bei Flammarion, der 1975 zwei seiner Bücher veröffentlicht: Le Jeu des séries scéniques und 1, 2, de la série non aperçue. 1982-1990. Veröffentlichung eines Langgedichts in vier Bänden bei P.O.L: Narration d’équilibre, die die Spur der Romanes trägt, an dem er gerade schreibt: La Condition d’infini (éditions P.O.L, 1996-1997) 1989-1992. 20 Jahre nach dem unvollendeten Versuch, gründet er bei éditions Fourbis eine neue Zeitschrift fig., in deren sieben Nummern Claude Royet-Journoud, Danielle Collobert, Robert Creeley, Panamarenko, Mario Merz, Roger Laporte, Emmanuel Hocquard, Jean-Michel Alberola, Toni Negri, Paul Celan, Gérard Garouste, Anne-Marie Albiach und Marcel Broodthaers publiziert werden. 1997 überlässt er P.O.L das Manuskript von la Trilogie du temps, in dem er sich auf drei verschiedene Weisen an die Liebe herantastet: selbstmörderisch, kämpferisch, leidenschaftlich, unter dem Zeichen der Erdachsen. La Trilogie du temps hat die Struktur eines Tryptichons mit seinem Hauptteil in der Mitte und seinen zwei beweglichen seitlichen Flügeln, die sich schließen und also das große zentrale Bild verdecken können. Das materielle und berufliche Leben hat ihm ungemein geholfen bei seiner Anstrengung, die Worte wieder zu finden. 1958-1975: er arbeitet sowohl als Redakteur wie später auch als stellvertretender Chefredakteur bei der Arbeit der Enzyklopädisten im Rahmen von SEDE (Société d’éditions de dictionnaires et d’encyclopédies, Gallimard, Laffont, Bompiani) mit. 1975 tritt er in France Culture ein, wo sich ihm die lebende, beinah fusionelle Materie des Wortes offenbart (Große Gespräche mit u.a. Julien Gracq, Borgès, Jean-Luc Godard, Jean-Marie Straub, Toni Negri, Francis Ponge, Christian Boltanski, Marguerite Duras, Raymond Hains, Wim Wenders, Roman Polanski, Hugo Pratt, James Baldwin, John Ashbery, Eugène Leroy, Robert Rauschenberg, – Herausgabe von Nuits Magnétiques an der Seite von Alain Veinstein – Produktion von langen Sondersendungen: Un rêve américain, 12 heures ininterrompues consacrées à la poésie et à la peinture américaines, Franz Kafka, William Faulkner – Mississipi, Dylan Thomas. 1997 überlässt ihm die Direktion von France Culture ein wöchentlich erscheinendes Magazin der visuellen Künste: Peinture fraîche, das jeweils mittwochs von 9 bis 10 Uhr ausgestrahlt wird. Bei Urs Engeler sind erschienen: - W, Erzählung des Gleichgewichts 4, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Werner Hamacher - Unter der Kuppel, Erinnerungen an Paul Celan - ward gebaut, Erinnerungen an Paul Celan Presseartikel zu Jean Daive Pressestimmen zu Jean Daive Jean Daive bei den Verlagen P.O.L., Flammarions, éditions Nous. Jean Daive ist ausserdem Direktor des centre international de poésie Marseille. |