Bruno Steiger über «Biene und Klee» von Emily Dickinson

Spröde Sprünge des einzigen Kängurus in all dem Schönen




Emily Dickinson auf Deutsch - schon Paul Celan hat sich daran erprobt. Mit dem jungen Wolfgang Schlenker ist es nun ein weiterer, ein heutiger Dichter, der sich der Herausforderung stellt. Ein halbes Hundert kürzerer und kurzer Gedichte präsentiert er unter dem Titel Biene und Klee. Die kompakte Edition entsagt jedem Hinweis auf Auswahlkriterien wie auf das übersetzerische Konzept. Über Letzteres sich ein Bild zu machen erlauben die mitgegebenen amerikanischen Originaltexte. Schlenkers einigermassen rigoros umgesetzter Entscheid für eine mit wenigen (fast immer nachvollziehbaren) Ausnahmen strikt am Denotationsraum des Einzelworts orientierte Übertragung muss akzeptiert werden; sie hat ihre gewinnbringenden Seiten.
Emily Dickinson, 1830 in einer Kleinstadt in Massachusetts geboren, 1886 in ihrem zum «Haus der Möglichkeit», sprich: zur Eremitage erkorenen Geburtshaus, einer Nierenkrankheit erlegen, gilt als bedeutendste, als die erste Dichterin der angloamerikanischen Moderne überhaupt. Gegen 1800 Gedichte entstanden in der mit einem monumentalen Briefwerk verteidigten Klausur eines ganz nach innen - oder vielleicht treffender: in ein innerstes Aussen - gewandten Lebens. Sieben Gedichte konnte sie zu Lebzeiten - anonym - zum Druck bringen. Gelesen wurde sie erst nach ihrem Tod, eine dann rasch weltweite Resonanz als verlässlichster und mysteriösester «Geheimtip» fand sie noch einmal Jahrzehnte danach. Dass Dickinsons Exerzitium der Verborgenheit höchsten ästhetischen Rang beanspruchen darf, belegt Wolfgang Schlenkers Auswahl aufs Eindrücklichste.
Die Krisenrapporte eines in seine eigene Unabwesenheit verstrickten Ichs, aus dem heraus die Gedichte zu sprechen scheinen, werden in «Biene und Klee» zu einer zwischen Unorten zirkulierenden frenetischen Flaschenpost, auf der unser eigener wie jeder andere Name sowohl als Adresse wie auch, und darin liegt wohl die intersubjektive Verbindlichkeit dieser grossenteils eher brandschwarzen als nur «dunklen» Gedichte, als Absender durchschimmert.
Als Jubelrufe aus einer wie von innen umzingelten, in ein hypertrophes Nichts unablässig weiter expandierenden Welt stellen sich die Gedichte dar. «Circumference» ist das gern gebrauchte Schlüsselwort der negativen Mystikerin aus Amherst. Von Wolfgang Schlenker durchweg als «Umkreis» übersetzt, könnte es als «Umfangenheit» gelesen werden, als sich fortwährend in ein knapp punktartiges Gegenteil verdrehendes Eingekreistsein. Fassungslosigkeit im buchstäblichen, im bittersten und schönsten Sinn kommt darin zu ihrem jeden Raumbegriff sprengenden Bild.
Mitgesprengt wird Gegenwart, in einer geradezu monströsen Inversion kristallisiert sie zur erst- und letztgültigen Unterbrechung, zur gleichsam absoluten Zäsur. «Aber zu leben, umfasst / Das Sterben mehrfach - ohne / Den Aufschub tot zu sein -.» Zwischen «Urplötzlichkeit» und «Unsterblichkeit» lässt die Dichterin ihre ausgebrannten Epiphanien durch «Jahrhunderte des August gehen», heimgehen in ein nur von Verlassenheit bezeugtes Zugegensein, das «Mittag heisst».
«Klee» und «Biene» beleben den panischen Mittag als Namen für eine bedrängend Leere, dann wieder wie mechanisierte Natur, die gerade noch im somnambulen Tagtraum zu erfahren, zu leben ist: «To make a prairie it takes a clover and one bee, / One clover, and a bee, / And revery. / The revery alone will do / lf bees are few.» Schlenkers Übersetzungsarbeit nähert sich im Schlussgedicht einer ziemlich eigenwilligen Interpretation. Dickinsons «prairie» wird ihm zur «Lichtung», das Wort «Klee» zurn Naturgegenstand Kleeblatt. Dickinsons Bild der Welt als Wüste, in der die Verlassenheit der Wörter von der Verlassenheit der Dinge nicht mehr bestätigt wird, gibt er mit allzu deutlich nachhallendem «Bienengesumm» an eine fast schon trivialpoetisch zu nennende metaphorische Idylle preis.
Emily Dickinsons in einem alles umgreifenden inneren Exil sich überdauernder «Mittag» verbildlicht einen Aufschub, der nicht zuletzt von einem offenbar selbst erfahrenen, man ist versucht zu sagen: authentischen Tod im Leben spricht. Die daran sich nährenden zahlreichen, an der Biographie nachhaltig entflammten psychoanalytischen Spekulationen sind insofern von minderem Interesse, als sie über letztenends Allzumenschliches nicht hinausgelangen. Die Dichterin selbst sah sich als «das einzige Känguruh in all dem Schönen», stellte aber noch diese verstörende Definition von Schönheit unter das Verdikt einer «Trübsal des Vermutens».
Auch die wohl unumgänglichen Einordnungen ihres Werks in Kontexte der spätromantischen, der transzendentalen, der imaginistischen oder gar einer präsurrealistischen Literatur sind über begriffliche Eintrübungen bislang nicht hinausgekommen. Dickinsons Singularität erweist sich auch in Schlenkers interlinear orientierter Übersetzung. Auch wenn die Dichterin selbst sich durchaus nicht sicher war, ob sie immer «wörtlich verstanden» werden wollte, kommt die elliptische Sprödigkeit ihrer submetaphorischen Bild- und Gedankenkonzentrate im Deutschen zu einer ganz eigenen Qualität.
«Wörtlichkeit» scheint darin als das von irgendwelchen Verstehensakten nicht korrumpierbare ureigentlich Fremde aller Dichtung bewahrt. Die Einbussen an vielerlei Effekten etwa von Klang und Rhythmus dagegen sind nicht zu übersehen. Insbesondere Dickinsons sentenziös, dann wieder seltsam liedhaft komprimierte Metrik bleibt häufig auf der Strecke, ansatzweise umgesetzt scheint ihre Vorliebe für Alliterationen. Auch für ihre grossartig schrägen Assonanzen und Halbreime hat Schlenker ein gutes Ohr.
Das Problem «Dickinson Deutsch» bleibt; es ist, sämtliche diesbezüglichen Versuche sprechen davon, auch mit einer ambitionierten freien Nachdichtung ohne Verluste nicht zu lösen. Doch was heisst da lösen. Dass solche «Verluste» als zentral produktiver Mangel in der Ursprungssprache wie in der Übersetzung jedes Dichtwerks - wenn nicht in Sprache als solcher - wirken, wird gerade bei Dickinson evident. Ihr «silbernes Prinzip» eines gleichsam experimentalhysterisch schielenden Blicks dürfte ihrem Werk den Status als immer neu zu entdeckendes, nie aufzulösendes, «nur» zu lesendes noch lange Zeit erhalten.
Dass es, wie alle Wortkunst, im Grunde unübersetzbar ist, schmälert die Bedeutung, den Wert von «Biene und Klee» nicht. Das hoch einzuschätzende Verdienst von Wolfgang Schlenkers Arbeit liegt vorab darin, die betörende Fremdartigkeit dieser von einer sehr fernen Glossolalie gestreiften, zwischen Ekstase und Abwinken erschriebenen «Intervalle körperlichen Einklangs» in wohlerwogener, oft luzider Diskretion weitergeleitet zu haben.

(Besprechung in der Messebeilage der Basler Zeitung, 9.10.2001)


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor