Georges Güntert Dichten über dem Abgrund Zum literarischen Werk des Dichters Andrea Zanzotto 14. März 2002, Neue Zürcher Zeitung Andrea Zanzotto – geboren 1921 im venetischen Pieve di Soligo, wo er heute noch wohnt – gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Italiens. Hölderlin, Rilke, Celan, Rimbaud, Eluard und Michaux sind ihm ebenso vertraut wie Vergil, Dante, Petrarca, Leopardi, Pascoli und Montale. Eine enge Bindung besteht anfangs auch zu den Hermetikern Ungaretti, Quasimodo und Gatto, von denen er sich aber bald löst. Sein – europäischer – Bildungshorizont reicht von Saussures Sprachtheorie zu den kulturanthropologischen Ideen eines Claude Lévi-Strauss, von den ästhetischen Vorstellungen Maurice Blanchots zu den psychoanalytischen Denkansätzen Lacans. 8. September 1943: Italien schliesst mit den Alliierten einen Waffenstillstand. Die Nachricht wird vielerorts mit Freudengeschrei begrüsst, löst aber auch Verunsicherung aus. Der 22-jährige Andrea Zanzotto – als Offiziersschüler nach Ascoli Piceno einberufen, später krankheitshalber zu den Reservisten versetzt – hat gerade freien Ausgang und liest das zehnte der «Sonette an Orpheus», als er von den Hurrarufen seiner Freunde überrascht wird: «Alle, die man dem Zweifel entreisst, / grüss ich, die wiedergeöffneten Munde, / die schon wussten, was schweigen heisst.» Der junge Mann zögert nicht lange: In Zivilkleidern besteigt er einen Zug und fährt in den Nordosten des Landes, den die Deutschen inzwischen besetzt haben. Es gelingt ihm, sein auf den Hügeln im Norden von Treviso gelegenes Dorf, Pieve di Soligo, zu erreichen. In den umliegenden Wäldern hat sich der Widerstand formiert, dem sich Zanzotto anschliesst. Sein Brigadenführer, der im Marxismus eine Weiterentwicklung des Christentums sieht, hat für den pessimistischen Existenzialismus des jungen Dichters erst nur ein mitleidiges Lächeln übrig, betraut ihn aber schliesslich doch mit Propaganda-Aufgaben. Als die Deutschen im Sommer 1944 Pieve di Soligo überfallen, schlägt sich Zanzotto in die Berge durch. Die Gegend um Pieve gerät unter die Kontrolle faschistischer Milizen, die das Dorf in ein Arbeitslager verwandeln. Am 30. April 1945 wird es von den Alliierten befreit. Da die Schule, an der Zanzotto nach erworbener Laurea in Literaturwissenschaft und alten Sprachen (Universität Padua, 1942) als Mittelschullehrer zu unterrichten begonnen hatte, das Collegio Balbi-Valier, zerstört ist und er sich zudem mit den klerikalen Kreisen des Dorfes überwirft, entschliesst er sich zur Emigration. Er unterrichtet zunächst an einer Privatschule im Waadtland und arbeitet dann als Kellner in Lausanne, wo er die Gelegenheit wahrnimmt, einen Vortrag von Gabriel Marcel zu hören. Das Französische ist ihm inzwischen so vertraut, dass er in dieser Sprache ein – bisher unveröffentlichtes – «Cahier vaudois» zu schreiben beginnt. Die Beziehungen zur literarischen Welt Italiens reissen in den Jahren der Emigration nicht ab. Gute Kontakte pflegt er seit Kriegsende zu den in Mailand wohnhaften Dichtern, vor allem zu Sereni, Quasimodo und Montale. Unterdessen ist sein Vater, Katholik und Sozialist, von Beruf Maler, zum Bürgermeister von Pieve di Soligo gewählt worden. Andrea kehrt nach Italien zurück und tritt 1949 am Gymnasium von Vittorio Veneto eine Stelle als Lehrer für Italienisch, Geschichte und alte Sprachen an. Den Lehrerberuf wird er auch nach der Heirat mit Marisa Michieli, die ihm zwei Kinder schenkt, ausüben. Daneben betätigt er sich als Übersetzer und – in Zusammenarbeit mit Federico Fellini – als Drehbuchautor. Extistenzialistischer Pessimismus Obwohl Zanzotto unter den Schriftstellern des Landes einflussreiche Freunde hat, ist er alles andere als ein angepasster Intellektueller. Im September 1954 bietet er während der Gespräche von San Pellegrino dem damals noch orthodoxen Marxisten Calvino die Stirn und hält den einseitigen Zukunftsvisionen der Linken seinen existenzialistischen, angesichts der atomaren Bedrohung berechtigten Pessimismus entgegen. Die Debatte erregt Aufsehen und löst in der Presse ein lebhaftes Echo aus. Auch von den literarischen Strömungen der Gegenwart, insbesondere dem Neorealismus oder den Novissimi der Gruppe ‘63, zeigt sich Zanzotto unbeeindruckt. In luziden Rezensionen deckt er die ideologische Eingleisigkeit und den konventionellen Charakter solcher literarischer Programme auf und vergisst dabei nicht, die Verlagspolitik aufs Korn zu nehmen. Das macht ihn nicht beliebt, verschafft ihm aber Respekt. Zanzottos intellektuelle Überlegenheit geht auf jenen Totalitätsanspruch der Dichtung zurück, den er nicht zuletzt an sein eigenes Schaffen stellt. Ein literarisches Werk, das nur die gesellschaftliche und nicht auch die kosmische Realität – das Verhältnis von Mensch und Natur – im Auge hätte, erschiene ihm von vornherein als beschränkt. Dichtung ist ihm Alpha und Omega zugleich: Sie soll den Sinn sowohl der Realität als auch ihrer selbst ergründen und gleichzeitig die Methoden dieser Sinnsuche hinterfragen. Hier beginnt jene poetologische Reflexion, die Zanzottos Verhältnis zu Sprache und Dichtung im Laufe der Jahrzehnte verändern wird. 1951 erscheint im Verlag Mondadori sein erster Gedichtband, «Dietro il paesaggio» (Hinter der Landschaft), der von der Kritik zunächst wenig beachtet wird. Immerhin widmet ihm Franco Fortini in der Zeitschrift «Comunità» eine eingehende Besprechung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Zia Teresa, Zanzottos Tante, Inhaberin einer Papeterie in Pieve di Soligo, rührt ihrerseits die Werbetrommel, indem sie ihren Kunden erzählt: «Mein Neffe schreibt Gedichte, die nicht einmal die Lehrerinnen verstehen.» In die erste Schaffensperiode gehören auch die bis 1970 unveröffentlicht gebliebenen «Versi giovanili», deren erste Versuche in die Studienzeit des Dichters zurückreichen. In dieser frühen Phase ist die Sprache Zanzottos noch die gewohnt literarische, feierliche der Hermetiker. Originell ist seine Metaphorik: Zur Bezeichnung der jenseits von Zeit und Existenz liegenden Endgültigkeit werden hier schon die später wiederkehrenden Motive «Schnee», «Eis» und «Kälte» verwendet. Auch der Kontrast von Licht und Schatten ist metaphorisch zu verstehen: Wenn der «Mond» (wie bei Lorca: der lyrische Moment) über dem «Wald» aufgeht, «lächelt» die dem Untergang geweihte Welt («l’ombra del diluvio», vgl. «Ballata»). Wer die Sprache der späteren Gedichtzyklen verstehen will, muss mit der Interpretationsarbeit hier beginnen. Wie andere grosse Dichter betrachtet Zanzotto das Leben aus der Perspektive des Todes, und gerade dieses umfassende, das Ganze nie aus dem Blick verlierende Weltverständnis verleiht seinem Denken Authentizität. Im Gedicht begegnen sich Leben und Tod als unversöhnliche Dimensionen. Dadurch entstehen gebrochene, durch zeitliche Diskrepanzen verfremdete Textstrukturen, in denen das lyrische Ich sich spaltet und aus entgegengesetzten Richtungen spricht. Anklänge an die (durch Rilke vermittelte?) orphische Thematik erinnern hier an Andreas früh verstorbene Zwillingsschwestern, Angela und Marina («A una morta»). In «Dietro il paesaggio» steht die Landschaft von Soligo im Zentrum, die sich dem Ich als grüner Schoss, Wiege und Grab zugleich, darbietet. Dass hier keine Idylle gemeint ist, bezeugen Motive wie «Blut», «Grab» oder «Schatten», die Erinnerungen an den Krieg wachrufen («Elegia pasquale»). Existenzielle Zeit und Naturzyklus treten dennoch in einen Dialog. Der Wunsch, sich ganz mit dem Grün zu umgeben («cingersi intorno il paesaggio»), verhilft dem lyrischen Ich zu Glückszuständen («Ormai»). Doch wer ist dieses Ich, das sich von der Landschaft Identität verspricht? Der Fluchtpunkt von Zanzottos Denken liegt anderswo, an einem jenseits von Zeit und Existenz gelegenen Ort des «vollkommenen Schnees» und des «Schweigens». Ambivalenz der Sprache In den Sammlungen «Elegia e altri versi» (1954) und «Vocativo» (1957) bahnt sich eine Veränderung der Poetik an. Verweisen der vokativische Gestus und der hymnische Ton zunächst auf Hölderlin, der wie Zanzotto dem «Was hier wir sind» ein komplementäres «Dort» gegenüberstellt, so tritt nun zusehends das Problem der Sprache in den Vordergrund. Die Sprache wird bald als «absolut», bald als «verderblich» bezeichnet, und diese Ambivalenz überträgt sich auf die Dichtung. Wenn diese auch über beinahe unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, beruht sie doch auf dem aus konventionellen Zeichen bestehenden System der Sprache. Die Tatsache, dass Sprache und Wirklichkeit auseinander klaffen, verwehrt dem Dichter den Zugang zum Sein, lässt ihm aber die Freiheit, eine autonome, rein sprachliche Welt zu erschaffen. Diese läuft indessen Gefahr, als schöner Trug aufgefasst zu werden. Zanzottos Dichtung bleibt voller Widersprüche, bejaht und verneint, ergiesst sich in lyrischen Elegien, um gleich darauf den Blick auf das Nichts zu richten. Als rhetorische Figur entspricht ihr das Paradox: Sie «hofft, ohne zu hoffen», spricht über dem Abgrund. In der vierten Strophe des «Canto notturno» hat Leopardi Ähnliches versucht. Bei Zanzotto – besonders in «Vocativo» – kommt der Schöpfungsakt durch ein «Staunen», eine Liebesregung, eine Bereitschaft zur Hingabe an die Welt zustande. Solche Impulse lassen selbstzerstörerische Gedanken über «l’abietta necrosi / che noi siamo a noi stessi» (die ekelerregende Nekrose, die wir uns selber sind) verstummen und ermöglichen ein Sprechen, das Ich und Welt in eine Beziehung bringt, wodurch sich Ersteres als Subjekt konstituiert. Die sprachbezogene Reflexion wird in den 1962 veröffentlichen «IX Ecloghe» fortgesetzt, die an Vergils Bukolik anknüpfen, zugleich aber ironische und parodistische Elemente enthalten. Die hier verwendete Dialogform dient einer poetologischen Absicht, denn hinter den «Personen a und b» verbergen sich der Dichter und die Dichtung. Einzelne Texte dieser Sammlung – etwa die siebente Ekloge – gehören zum Besten, was in der italienischen Lyrik des 20. Jahrhunderts geschrieben worden ist. – Nach 1960 wendet sich Zanzotto von der hermetischen Tradition ab. Metrum und Syntax der «Ecloghe» sind zwar noch hochliterarisch, doch ändert sich das Vokabular. Nebst vielen Latinismen umfasst es nun wissenschaftliche Termini, umgangssprachliche Wendungen und krude Neologismen. Damit distanziert sich der Dichter von einer langen Tradition, die auf dem Glauben beruhte, nur eine gehobene poetische Ausdrucksform könne die Kluft zwischen dem in der Sprache sich artikulierenden Denken und dem Sein überbrücken. Im Werk Zanzottos bleibt diese Kluft bestehen: Seine Dichtung weiss um ihr Scheitern, denn die Wahrheit liegt jenseits der Sprache. Damit sind wir bei «La Beltà» (Die Schönheit) angelangt, einem Werk, das bei seinem Erscheinen (1968) grosses Aufsehen erregte und im Schaffen des Autors einen Wendepunkt darstellt. Zanzotto versucht hier eine Grenzüberschreitung, indem er die Sprache selbst zertrümmert. Er lässt seinem Spieltrieb freien Lauf, zieht alle Register seines literarischen Gedächtnisses, erfindet Neologismen, spielt mit Präfixen und Suffixen, hüpft von einer Klangreihe zur andern, scheut vor fremdsprachlichen Einsprengseln, Alltagssprachlichem und Nonsens-Effekten nicht zurück. Zuweilen sieht man sich an futuristische Experimente, insbesondere an die frechen Spiele Palazzeschis erinnert. Der an Hölderlins «Mnemosyne» anklingende Vers «siamo un segno senza significato» («Ein Zeichen sind wir, bedeutungslos», wie es in der 2. Fassung heisst) geistert durch das Wortlabyrinth. Als blosses Gestammel erscheinen dem Leser die Wörter aus der Kindersprache, in der sich Sprache und Sein einst nahe waren. Solche Urlaute häufen sich in der «Elegia in petèl», die ganze Verse mit Wörtern aus der Ammensprache (in Soligo petèl genannt) bildet und sie aneinander reiht. In «La Beltà» kommt es dennoch nicht, wie vielfach behauptet wird, zu einer Autonomie des Signifikanten, d. h. des Lautkörpers, denn dafür liest Zanzotto seinen Lacan zu kritisch. Als sprachliche Entwürfe, als Bewegungen hin zum Absoluten und darüber hinaus («Oltranza, oltraggio») sind diese Texte nachvollziehbar. Dass Zanzotto trotz allem ein sinnstiftendes Universum im Auge hat, zeigen seine nach 1968 entstandenen Werke, in denen die Experimentierfreude des Dichters ungebrochen anhält. In dem aus einer Vielzahl von Distichen bestehenden Text «La Pasqua a Pieve di Soligo», der zur Sammlung «Pasque» (1973) gehört, lässt er 13 Personen, die durch Buchstaben des hebräischen Alphabets gekennzeichnet sind, die Klagen der Karwoche vortragen. Obschon sich die oft ironisch verzerrte Rede um den Tod dreht, wird das Thema der Auferstehung nicht ausgespart, denn Christus – so Zanzotto in einem Interview – vermittle uns noch immer den «Traum einer universalen Therapie». Der folgende Zyklus «Filò» (1976) gehört, obwohl ganz im venezianischen Dialekt gehalten, zu den leichter verständlichen Werken. Zwei Gedichte, «Recitativo veneziano» und «Cantilena londinese», wurden eigens für Fellinis Film «Casanova» geschrieben. Das eine sollte das Erscheinen der grossen mediterranen Mutter, wenn sie unter den Beschwörungen des Volkes aus dem Canal Grande auftaucht, zelebrieren; das andere wurde jener aus dem Veneto stammenden Riesin in den Mund gelegt, die Casanova am Londoner Jahrmarkt trifft. Einen weiteren Höhepunkt stellt der 1978 erschienene Gedichtband «Il Galateo in Bosco» dar, der zusammen mit «Fosfeni» (1983) und «Idioma» (1986) eine Trilogie bildet. (Deutschsprachigen Lesern sei dazu die aus einer Dissertation entstandene, 1998 in Tübingen erschienene Studie «Zanzottos Triptychon» von Maike Albath-Folchetti empfohlen.) «Il Galateo in Bosco» ist in einem Wald, dem in der Nähe des Piave liegenden Montello, angesiedelt. Die Komplexität des Werks scheint von der Geschichte dieser Gegend inspiriert, denn der Montello war einerseits Entstehungsort petrarkistischer Gedichtzyklen und andererseits – im Ersten Weltkrieg – Schauplatz blutiger Schlachten. Auch der auf Horaz zurückgehende figurative Gebrauch des Waldes als Bild für die Sprache ist dem Dichter präsent. Im Gebiet des Montello verfasste Giovanni Della Casa seinen «Galateo» (1558), den italienischen Knigge. Der Titel ist somit als Oxymoron aufzufassen, denn Regel, Norm und kodifizierte Anstandsformen («Galateo») werden mit dem Urförmigen, Ursprünglichen («bosco») in Beziehung gebracht. Der Wald, dessen Materie einem ständigen Umsetzungsprozess unterworfen ist, erscheint bald als Massengrab, bald als Ort des stets neu entstehenden Lebens. Nicht nur die Natur hat ihre Gesetzmässigkeiten, auch Zanzottos «chaotische» Lyrik misst sich am Petrarkismus, der einst verbindliche Norm war. Insgesamt ist das nicht leicht zugängliche Werk «Il Galateo in Bosco» kunstvoll strukturiert: In der Mitte finden wir die Sektion «Ipersonetto», die aus 16 Sonetten besteht, welche ihrerseits von jeweils 18 Gedichten umrahmt werden. Die Sonettreihe selbst ist als Hommage an Gaspara Stampa und Giovanni Della Casa gedacht. Sie zeigt aber auch die immense Belesenheit des Dichters und sein ambivalentes Verhältnis zur Tradition. Zanzotto versteht diese als lebendigen Untergrund seiner Dichtung, als nährstoffreichen Humus, der neue Ausdrucksformen erzeugt. Auf diese Weise entwirft er ein Universum der ständigen Vernichtung und des immer wieder neu entstehenden Lebens. |