Werner Hamacher

Zu «W» von Jean Daive




W ist kein Drama, es ist ein Gedicht. Wenn es etwas zur Schau stellt, dann das Verschwinden dessen, was sichtbar und auf einem Theater vorzeigbar ist; und wenn an ihm etwas dramatisch ist, dann nicht, weil es in Rede und Gegenrede eine Handlung in Szene setzt, sondern mehrstimmig und mehr als mehrstimmig eine Passion, ein Erleidnis und eine Leidenschaft darbietet. Und wiederum nicht eine unter mehreren möglichen, sondern die eine und einzige Passion eines Sprechens, das weder einen Sprechenden noch ein Gesprochenes kennt und sich deshalb als durch keinen Begriff kontrollierbares Sagen abspielt.«Sagen und nicht wissen» – mit dieser programmatischen Erklärung beginnt das Gedicht, und fährt fort:«Die Dogen / sind gegangen» – ein Sagen ohne Führer und Wortführer, ohne Dichter, Richter und Täter, überlässt W seinem Vergehen und Kommen. Es sagt nur noch, dass es jetzt schon nicht mehr und jetzt noch nicht da ist. Es ist ein Gedicht, in dem die Zeit zur Sprache kommt und in dem deshalb die Sprache vergeht. Als Gedicht am Rand des Gedichts zeichnet W und alles, was in ihm zur Sprache kommt, sein Verschwinden. «Zeichnet sein Verschwinden», so heißt es immer wieder im Text des Gedichts, und noch von diesem Gedicht selbst. Die Zeichnung, von der es spricht und als die es spricht, die Zeichnung einer verschwindenden Zeichnung, hält ihrem eigenen Verschwinden die Waage. Jean Daive, der W 1985 als vierten Text in einer Werkreihe veröffentlicht hat, die unter dem Titel Erzählung des Gleichgewichts steht, hat darin die Erzählung vom Verschwinden der Erzählung, die Zeichnung vom Verschwinden der Zeichnung unter das Emblem der Waage gestellt, nicht weil darin eine solide Balance zwischen entgegengesetzten Motiven oder widerstrebigen Lebenstendenzen erreicht wäre, sondern weil die Sprache sich darin im heiklen Gleichgewicht mit ihrer eigenen Abwesenheit, mit ihren Ausfällen, Lücken und Stummheiten in der Schwebe hält. Wenn alles seiner Abwesenheit die Waage hält; wenn alles sein Maß nur an sich selbst hat, dann ist nichts mehr schwer, nichts mehr leicht: alles in der Schwebe. Dann steht alles, und auch noch die Rede von allem, auf der Grenze zwischen sich und dem, was es nicht ist. Es beugt sich über das, was es nicht ist (il se penche, womit auch gesagt sein kann: il se pense, es denkt sich), beugt sich dorthin, wo es nicht ist, ist selbst diese Beugung, dieser Fall in Anderes und das Auffangen des Falls, es fällt und es fängt sich: Es geht. Und bewegt sich auf keinem Boden, den es nicht schon verlassen hätte, berührt ihn nur, um zu einem anderen überzugehen: Es tanzt. Das Gedicht ist eine Choreographie. Es verteilt seine Lasten und gibt ihnen durch Verteilung die Ausdehnung, die wir Raum und Zeit nennen. Indem es sich dem überlässt, was keine Bedeutung hat, sondern als Körper oder Markierung Bedeutungen nur trägt, überträgt und fortträgt, bewegt es sich nie anders als in Verkörperungen. (Der Körper, der Sprachkörper ist kein Massenpunkt in einem irgendwie schon vorgegebenen Zeitraum, er ist auch nicht selbst räumlich oder zeitlich, sondern erspricht, erräumt und zeitigt – eine immer andere Zeit, einen immer anderen Raum, einen immer wieder anderen Sprachkörper.) W ist eine helle, eine witzige und obszöne, eine blutige Ballade von ihrem Nicht: nicht nur über dies Nicht und von ihm weg, sondern auch von ihm her und deshalb immer mit ihm, dem Nicht-mehr-da und dem Nochnicht-da der Sprache, ihres Körpers und ihrer Musik: ein Sprachtanz mit einem «Kadaver» und mit einem «Kind», einem infans, das noch nicht spricht, aber schon greint oder kreischt und kratzt. Man kann seine stockenden oder turbulenten Sprachkörper-Drehungen als danse macabre empfinden, der nur im hochartifiziellen Raum der Theater-, Tanz- und Opernbühnen zu finden ist. Aber dieser Kindertotentanz gibt nur demjenigen schärfere Kontur, den jeder tanzt, der spricht. Man kann seine Beugungen, Zuckungen und Pausen, seine grellen Akzente und Stummheiten als eine pathologisch gewordene Sprach- und Lebenswelt betrachten, aber es wäre redlicher einzusehen, dass es eine andere Welt nicht gibt. Was sich im Gedicht, in diesem W von Jean Daive, nur krasser als anderswo ausspricht, die Verrückung und das Aussetzen der Sprachnormen im Sprechen, das ist die Form – wenn sie noch Form heißen kann – der Körper gewordenen, der unbewussten Ironie, die jedes Wort bestimmt, das wir sagen können. Es die Form, in der die Sprache ihrer Abwesenheit die Balance hält: das Gleichgewicht mit dem, was keine Form, keine Kunst und kein Leben kennt. Res severum verum gaudium.


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