Friedhelm Rhatjen Experimente am lebenden Objekt Die Zeit ist «die Zeit der Ismen», folglich die künstlerischer Aufbrüche, freilich auch die des Ersten Weltkriegs und damit des Endes von vielem. Der Ort ist London, ein Zentrum, das an die Peripherie gerät. Die Hauptfigur ist Julia Ashton, sie schreibt Lyrik und Briefe; Adressat der Briefe (freilich nicht mehr der Gedichte) ist ihr Mann Rafe, der im Krieg kämpft und trotz den periodischen Ankündigungen, diesmal nicht zurückzukehren, regelmässig auf Heimatbesuch kommt. Allerdings besucht er in der Heimat bald nicht mehr nur seine Frau, sondern vornehmlich deren Mitbewohnerin und Rivalin Bella; sein Begehren, so gibt Rafe zu, gilt Bella, wenn er auch behauptet, seine Liebe immer noch Julia vorzubehalten. Das jedoch ist Julia nicht genug, sie fürchtet sich vor Rafes Heimatbesuchen, geniesst beinahe seine Abwesenheiten; sie schreibt ihm weiterhin Briefe, adressiert ihre Gedichte hingegen an Rico alias Frederick, der nicht Soldat, sondern immer noch Dichter ist. Es sind Orpheus-Gedichte. Orpheus beging bekanntlich den Fehler, zurückzublicken; Julia bemüht sich, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Die Erinnerung an die Zeit, da «ein junger Dichter ihr Geliebter war», sucht sie ebenso zu verdrängen wie den Gedanken an das ungeborene Kind, das sie verloren hat. Bleibt der Blick in die Zukunft. Als Frederick nach London kommt, zwar mit seiner Frau Elsa, doch offen für vieles, drängt alles auf «ein vollkommenes Dreieck» hin. Doch es misslingt, weil dem sonst stets so entschiedenen Frederick im entscheidenden Moment etwas abhanden kommt, vielleicht der Mut, vielleicht nur die Offenheit. «O es herrschte ein grosses Durcheinander. Nein, das stimmte nicht.» Das Durcheinander zerfällt plötzlich in eine Ordnung, als Julia sich mit Vane zusammentut, einem jungen Maler und Protégé Fredericks, der dem «vollkommenen Dreieck» zufolge eigentlich Elsa hätte zufallen sollen. «Das Experiment lief.» Raum, Zeit und Rhythmus So weit in Kürze die Handlung des Romans «Madrigal» von H. D. (Hilda Doolittle); solche Kürze freilich wird diesem wiewohl kurzen Buch nicht gerecht, denn darin geht es eigentlich um Zerdehnung: um die Zerdehnung der Zeit, die Ausweitung von Räumen, um starre Konstellationen, die endlos zu werden scheinen und sich dann doch verschieben. Mittel dieser Zerdehnung sind Rhythmisierungen, denen sich das Geschehen schon äusserlich ergibt: Da sind die Rhythmen des Kommens und Gehens, des Erinnerns und Vergessens, des Ja und Nein. «Der Krieg wird nie zu Ende gehen», lautet einer der leitmotivischen Sätze, und wir begreifen beim Lesen sehr schnell, dass der nimmer endende Krieg ein anderer ist als der, in den und aus dem Rafe unablässig zurückkehrt. Am Ende, als Julia nicht mehr in London und nicht mehr die Frau von Rafe ist, sondern in Cornwall mit Vane lebt, erkennt sie: «Es war immer dasselbe, immer ein wenig anders.» Genau dies ist die Haltung dieses sehr dichten, sehr intensiven Buches: Identitäten und Unterschiede legen sich übereinander, fallen in eins, durchdringen einander und heben sich auch wieder auf. «Ich wäre frei, wenn ich in zwei Dimensionen leben könnte», glaubt Julia schliesslich, und demgemäss ist sie wirklich frei, hat sie sich befreit, denn sie lebt nun in einem neuen Raum, in einer neuen Zeit: «Ohne Nebensächlichkeiten auskommen zu müssen, schafft Raum, eine neue Dimension. Ich bin hier in diese Dimension gewechselt.» Mit doppeltem Blick Am Anfang des Buches fehlt diese «neue Dimension», fehlt sie jedenfalls Julia, die an «einer klaffenden Lücke in ihrem Bewusstsein» leidet. Am Anfang wird Julias Welt, auch wenn wir sie im Grunde immer aus ihrem lückenhaften Bewusstsein heraus erleben, deshalb weitgehend aus der Perspektive der dritten Person erschrieben; am Ende hingegen wird Julia zu einem fast uneingeschränkten Ich. Das Erzählbewusstsein, heisst das, ist schon am Anfang das wissende Bewusstsein jener freien Julia, die am Ende aus dem Buch hervorgeht. Julias Perspektive ist folglich eine doppelte, ist gleichzeitig Innen- und Aussenblick. Zur sehr intensiven literarischen Kunst wird diese Perspektivendoppelung, weil sie imstande ist, sich selbst zu widersprechen, über die Widersprüche der Figuren die grundsätzlichen Widersprüche des Existierens in den Blick zu nehmen und aus diesen Widersprüchen heraus dann so etwas wie positive Negationen zu schaffen. Das ist literarische Urzeugung höchster Qualität. Die Sätze, die Hilda Doolittle in «Madrigal» schreibt, kommen aus den Kulissen gesprungen, flüstern uns etwas zu und sind gleich wieder weg – und dann, hinter den Kulissen, wirken sie fort, werden auf den Kopf gestellt, ausgeschüttelt und überprüft. So bilden sie auf waghalsige, aber treffende Weise Julias Bewusstsein ab. Nach einem Passus in erlebter Rede heisst es beispielsweise: «Aber das dachte sie nicht, das konnte sie natürlich nicht sagen, sie hätte es nicht einmal gesagt, wenn sie es ganz klar gedacht hätte»; oder auch: «O nein, sie verstand es nicht, stellte keinen derartigen Vergleich im Geist an, aber das war es.» Aussagen fallen mit Gegenaussagen in eins: «Eigentlich hatten sie nichts miteinander gemein. Sie hatten alles miteinander gemein.» Die treffendsten Sätze sind oft die, die beschreiben, was nicht ist: «Kein Nerv in ihr war zum Zerreissen angespannt (. . .). Sie fühlte sich nicht als Muse.» Die Kraft zur Negation Die Kraft dieser erstaunlichen Prosa liegt zu einem hohen Grade in ihrer Fähigkeit, Nein zu sagen und das Verneinte gleichzeitig zu verbalisieren. Genau genommen entspricht diese literarische Kraft jener persönlichen Kraft, die die Figur Julia im Verlauf des Buches aus ihrer eigenen Ohnmacht schöpft und mit der sie sich befreit: von ihrem Mann Rafe, von ihrem dichterischen Vorbild Rico, von der Verstrickung in die Zeit. Sie eröffnet sich einen neuen Raum, eine neue Dimension, eine neue Existenz. An diesem Punkt gewinnt die Tatsache Belang, dass «Madrigal» ein hochgradig autobiografisches Buch ist: Julia ist weitgehend ein Selbstporträt der Autorin, hinter Rafe verbirgt sich ihr Mann Richard Aldington mehr schlecht als recht, Frederick ist D. H. Lawrence, Vane der Maler Cecil Grey. Allerdings tut man dem Buch unrecht, wenn man es nur als Schlüsselroman liest und hinter die Figuren allzu eilfertig das blendet, was man von ihren realen Vorbildern weiss: «Madrigal», zwischen 1933 und 1950 geschrieben, ist mehr als ein Schlüssel, es ist die Tür zu einem Werk eigenen Rechts. Und H. D. war weitaus mehr als nur ein Anhängsel von Lawrence, Aldington oder auch Ezra Pound (mit dem sie verlobt war): Sie trieb die Literatur der Moderne auf eine Spitze, die ihren männlichen Mentoren unerreichbar blieb. (Lesezeichen, Neue Zürcher Zeitung, 26. Februar 2008) Zur Hauptseite |