Hermann Burger

Nachgelassene Kirchberger Idyllen




Archiv

Eisengepanzert die doppelte Tür gegenüber dem Abtritt:
Nicht mein privater Safe, vielmehr das Kirchen-Archiv.
Alte Schmöker, Folianten in brüchigem Leder, zerfleddert,
Neben der Liturgie Pfrundgut- und Pacht-Revision.
Totenscheine, Tauf- und Trauscheine friedlich beisammen,
Petschaft und Amtssigill, allerlei Krimskrams, verstaubt.
Was Aktuare an Kirchenpflegs-Sitzungen fleißig gedichtet:
Hier liegts im Schuppen-Farbschnitt, Epos des Kirchenbetriebs.
Auch eine Schale aus Zinn, die vor zweihundert Jahren geschmolzen,
Als unser Gotteshaus loderte bis auf den Grund.
Und ein Modell des Kirchberger Kirchleins mit Käsbissen, Spitzhelm,
Auswechselbar der Turm, wie der Theologen Gesicht.
Außen hat man den Tempel erneuert, Fassaden-Kosmetik;
Innen blieb alles beim Wurm, der seit Luther gedeiht.
Pfarrherren kommen und gehen und wechseln die Stelle wie Hemden,
Wo man am meisten verdient: Hier laßt uns Villen erbau'n!



Gartensaal

Hell im sonntäglich gipsernen Licht unser doppeltes Sälgen,
Gegen den Friedhof gekehrt: cimiterisch geeicht.
Hier hat Paul Haller das Saugwind-Harmonium von Mannborg getreten,
Vox humana, Bourdon, Viola Dolce und Flûte.
«Gott ist die Liebe», so wurde dem brastenden Täfer verkündet,
«Drum sag ich's nocheinmal...», Juramareili sang mit.
Kinderlehre: du siehst noch den Moses die Tafel zerschmettern,
Zelte im Hintergrund, Rauch; Tanz um das goldene Kalb.
Negerchen, nick mal, du siehst noch den Mohren im holzblauen Röcklein,
Hörst das Klingeln im Stock, Göttibatzen, ade!
Alt verblichener Gartensaal, ach, jene Harfe im Fenster,
Spätherbstlich goldener Staub, Aeoline im Wind.
Hier hat der Arbeitskreis «Tot-und-was-dann» in der Bibel gelesen,
Tee wurde gratis gereicht, mulmiger Abfallkonfekt.
Spielplatz der Kinder: die Weichen von Bucco mit schwarzen Laternen,
Drehscheibe, Lokschuppen, Kran, alles «wie richtig» gebaut.
Saal in der Waldeck, ich lag über Mittag im grünlichen Zimmer,
Wähnte Kobolde im Schrank, näßte den Gummi im Bett -
Plötzlich ein Sphärenklang auf dem Klavier, eine Folge von Sexten,
Absteigend, triste Kadenz, elendend tief in der Brust.
Sah dann ein Kornfeld mit Scheuchen und Mohn in der Dräunis des Wetters.
Tot lief der Garbenpfad auf an der Mauer aus Gold.
Sälgen im Parterre: der Kasper, die Trommel, der Reif und das Dreirad,
Wart ihr denn einmal die Welt? Spielen wir Himmel und Höll.



Kanzelaufstieg

Habe erst einmal auf der Kirchberger Kanzel gepredigt,
Während der Renovation: Innenrenovation.
Leer war das Schiff, die Bänke hinausgeschafft, die Wände
Rings mit einem Gerüst, Stangen und Läden verstellt.
Risse zeigte vor allem beim Turm der weiße Verputz, man wollte
Spaltfrei den gotischen Raum, eben ein neues Gesicht.
Da, im Mörtelstaub stehend, auf Packpapierbahnen, da konnt' ich
Nicht widerstehn: Hinauf zog es mich auf das Podest.
Als meine Großmutter mich, den kaum fünfjährigen Knaben,
Sonntag für Sonntag mit in unser Gotteshaus nahm,
Wollte ich Pfarrer werden, alleine wegen des Aufstiegs
Auf den geschnitzten Thron, dieses erhabnen Moments,
Da, verdeckt erst vom Mauervorsprung, der Geistliche plötzlich
In Erscheinung tritt und die Gemeinde verblüfft.
Auch von der Orgel getragen zwischen den Bänken zu schweben,
Schien mir durchaus ein Ziel für mein Leben zu sein.
Habe mich also im Staub, der in den Chorfenstern tanzte,
Auf den Söller gewagt, wie einst als Kind auf den Stuhl,
Hab mich geräuspert, die Maurer gemustert, die höher als ich auf
Brettern turnten - was sagte ich ihnen zum Gruß?
Liebe Gemeinde, ihr seid zwar nur zwei? Mitnichten, ich prüfte
Lediglich mein Organ, sagte Hallo vielleicht,
Sah die Kisten, welche den Taufstein und Abendmahlstisch ver-
Hüllten: Alabasterkunst, Stein aus dem Raum Staffelegg,
Vierkant-Baluster, skulptierte Wappen Fischer und Wagner;
Mit einer Widmungsinschrift ist die Platte verziert.
Nichts, sag ich, hab ich gepredigt, hab mir indessen gedacht, so
Ex cathedra das Schiff und die Empore im Blick:
Nicht die schlechteste Kirche ist's, die Zementstaub aufwirbelt,
Besser leer und im Bau als von Pharisäern besetzt.



Abendmahls-Diener

Weihnachtssonntag: Ehre sei Gott und Friede auf Erden,
Wer zum Abendmahl bleibt, hat seinen Feinden verziehn.
Während der Pfarrer zum alabasternen Tische des Herrn lädt,
Brennt das Silber im Baum, Feuerwehr spielt der Aktuar.
Zwygart, der Sigrist, er kostet als erster vom Leib und vom Blute,
Muß den Abendmahlsdienst hinter dem Holzparavant
Lenken und leiten, die Becher mit Traubensaft füllen, die Kelche,
Wie ein Kellner im Chor steht er zum Service bereit.
Daß die einen von großen, die andern von kleinen Gefäßen nur
Nippen - der einfache Grund liegt im Zinnbecher-Streit.
Durch das Abendmahl-Fenster von Hoffmann fällt ein Strahl Sonne,
Glocken läuten im Tal, Weihnachts-Erinnerung glost.
Auf der Empore spielt der Posaunen-Verein seine Weisen,
Stumm ziehn die Leute vorbei; sündige stark, sagt der Herr.
Zwygart indessen verrichtet die Zudienereien, muß zählen:
Reicht das Brot bis zum Schluß? Sind genug Becherchen da?



Abdankung

Grimseln und Gramseln von schwarzen Gestalten, der Kirchberg
umwimmelt,
Männiglich findet sich ein, letztes Geleit und Geläut,
Schwarz wie schwedischer Marmor, als ob sich die Steine erhöben,
Steinern zu trauern im Schiff, Rundung an Rundung gereiht.
Orgelprospekt in der gleißenden Sonne; Register «de mortuis»;
Stetig durchs Holztonnenbrett tropft aus dem Estrich der Schnee.
Stampfend das Schlagwerk im raupig verputzten Bergfried des
Kirchturms,
Früher, da hat man geklenkt, klöppelnd die Jahre gezählt.
Wächsern und fleischig die süßlichen Blumen in violetten Schleifen,
«Hölle, wo bleibt dein Sieg?» fragt die Blechharmonie.
Sprachlos der Tote, verlegen um Worte die Trauergemeinde,
Reden ist Altmetall; stumm bleiben, stumm wie ein Grab!
Was aber bleibet, stiftet der Steinmetz in Lettern und Runen,
Jahrzahlen, Name und Kreuz, Totenregister als Mal.
Gnadenstuhl, Ähre vielleicht und vielleicht eine Taube, ein Flämmchen,
«Gott», heißt es, «weiß nur, warum.» Darum, doch sicher zu früh.



(Erstveröffentlichung in ZdZ Heft 3, Januar 1994)
Hermann Burger: Abend mit Ingeborg Bachmann
Hermann Burgers Bio- und Bibliographie