Hanne Kulessa

Laudatio anlässlich der Dr. Manfred Jahrmarkt-Ehrengabe an Jayne-Ann Igel am 8. November 2007 in Frankfurt am Main





Natürlich hat Literatur etwas mit Träumen zu tun. Kafka, zum Beispiel, hielt manche Träume, die er geträumt hatte, in seinen Tagebüchern fest. Aus den meisten aber hatte er Literatur gemacht. Wobei er vielleicht keinen Satz, und sei es nur ein flüchtiger über eine Traumsequenz, schreiben konnte, der nicht Literatur war. Wer will sich anmaßen, zu bestimmen, was bei Kafka Traum, Alptraum oder Wirklichkeit war. Ein anderer Dichter, Georg Trakl, hat vielen seiner Träume Titel gegeben, beispielsweise «Traum des Bösen», «Sebastian im Traum», oder «Traum und Umnachtung».

«Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts. Manchmal erinnerte er sich seiner Kindheit, erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis, verschwiegener Spiele im Sternengarten, oder daß er die Ratten fütterte im dämmernden Hof. Aus blauem Spiegel trat die schmale Gestalt der Schwester und er stürzte wie tot ins Dunkel. Nachts brach sein Mund gleich einer roten Frucht auf und die Sterne erglänzten über seiner sprachlosen Trauer. Seine Träume erfüllten das alte Haus der Väter.» So beginnt Trakls lyrisches Prosastück «Traum und Umnachtung». Die Liebe zwischen Geschwistern war und ist ein Tabubruch; und der Pharmazeut Trakl hätte sich vielleicht selbst in seinem ureigensten Traumland nicht frei bewegen können, wären nicht die Halluzinogene gewesen, die ihn lösten und sehend machten. Wie oft hat Kafka von seinem Vater geträumt? «Ein Traum: Zwei Gruppen von Männern kämpften miteinander. Die Gruppe, zu der ich gehörte, hatte einen Gegner, einen riesigen nackten Mann, gefangen. Fünf von uns hielten ihn, einer beim Kopf, je zwei bei den Armen und Beinen. Leider hatten wir kein Messer, ihn zu erstechen, wir fragten in der Runde eilig, ob ein Messer da sei, keiner hatte eines. Da aber aus irgendeinem Grunde keine Zeit zu verlieren war und in der Nähe ein Ofen stand, dessen ungewöhnlich große gusseiserne Ofentüre rotglühend war, schleppten wir den Mann hin, näherten einen Fuß des Mannes der Ofentüre, bis er zu rauchen begann, zogen ihn dann wieder zurück und ließen ihn ausdampfen, um ihn bald neuerlich zu nähern. So trieben wir es gleichförmig, bis ich nicht nur im Angstschweiß, sondern wirklich zähneklappernd aufwachte.» (Kafka, Tagebücher 1916)

Doch nicht von Kafka oder von Trakl soll hier die Rede sein, sondern von einer Schriftstellerin, die die Deutsche Schillerstiftung von 1859 mit der Dr. Jahrmarkt-Ehrengabe auszeichnet, von Jayne-Ann Igel.

«Traumwache» heißt ihr letztes, 2006 erschienenes Buch, in dem von Träumen die Rede ist, die so real oder irreal sind, wie die Orte der ehemaligen DDR, in denen Jayne-Ann Igel aufgewachsen ist, wie die Häuser, Straßen und Landschaften, die zu suchen sie sich auf den Erinnerungsweg gemacht hatte.

«…die auslassungen im text, die leerstellen bilden den eigentlichen textkörper…» heißt es an einer Stelle in der «Traumwache», und diese Stelle hat mich zu Georg Trakl geführt oder zu Rainer Maria Rilke, der über Trakls Gedicht «Helian» schrieb: «…ganz ergreifend ward es mir durch seine inneren Abstände, es ist gleichsam auf seine Pausen aufgebaut, ein paar Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose: so stehen die Zeilen da. Wie Zäune in einem flachen Land, über die hin das Eingezäunte fortwährend zu einer unbesitzbaren großen Ebene zusammenschlägt.»

Es ist die Verdichtung, die Raum schafft, es sind die Auslassungen, oder, wie Rilke sagt, die «Pausen», die im Leser eigene Welten entstehen lassen, auch wenn sie sozusagen «unbesitzbar» sind.

Als ich die Bücher von Jayne-Ann Igel, insbesondere die letzten zwei, «Traumwache» und die Erzählung «Unerlaubte Entfernung» (Urs Engeler Editor) jetzt, vor kurzem, wiedergelesen habe, war ich erstaunt, wie groß die Ebene war, was ich zwischen den «Einzäunungen» gesehen und gelesen, ja, mit wie vielen Bildern ich die «Leerstellen» bei der Lektüre ausgefüllt hatte.

In beiden Büchern erkundet Jayne-Ann Igel die Orte der Kindheit, und sie folgt den Stationen des Erwachsenwerdens in einem Land, das Unterordnung, Konformität und Glauben forderte, wenngleich, wie es in «Unerlaubte Entfernung» heißt, man den Glauben nun «überzeugung nannte oder glauben an die richtige sache…(Dieser glaube, den mir die eltern eingeflößt, die sich doch selbst jeglichen glaubens abhold wähnten – dieser glaube, einer sehbehinderung gleich: hatte ich mir nicht auch deshalb im vorletzten schuljahr eine brille verschreiben lassen, um ihnen gleicher zu sein, ihnen, oder eher meinen klassenkameraden, die allesamt brillenträger waren? Hatte ich ihn nicht genossen, den verschwommenen, verklärten blick, einen nachmittag, einen abend lang, den mir die augentropfen, die ich in der betriebspoliklinik vor der untersuchung verabreicht bekommen, bescherten? Diese ungewöhnliche sicht auf die wirklichkeit?»

Jayne-Ann Igel wurde 1954 in Leipzig geboren. Kindheit und Jugend verbrachte sie – und hier muß es heißen: er, denn bis 1989 hieß sie Bernd Igel – in einer Siedlung am Rande der Stadt. «Wir lebten», so Jayne-Ann Igel in einem Gespräch mit Heinz Czechowski 1990, «neben einem Gefängnis. Das war und ist ein Haftkrankenhaus, hinter Dösen liegt das…»

Der Vater war Polizist, und ausschließlich Polizistenfamilien wohnten in den Blocks der Siedlung; für die Kinder, die dort aufwuchsen, gehörten Gefängnis und Häftlinge zur selbstverständlichen Umgebung. Keiner stellte Fragen. «…weiße flecken, das weiße im auge, blutunterlaufene – wann habe ich vater je einmal in die augen geschaut? Ein blick in sein auge, so glaubte ich, müsste mich erstarren lassen – der kaninchenblick, er schien der einzig mögliche.»

«Irgendwann bin ich zum Schreiben gekommen», sagte Jayne-Ann Igel in dem Gespräch, das anlässlich der Vergabe des Peter-Huchel-Preises an Ernst Jandl (mit besonderer Erwähnung für eine Erstveröffentlichung von Jayne-Ann Igel) geführt wurde. «Da war ich aber einerseits noch vollkommen in meiner Erziehung befangen, in dieser staatstreuen Erziehung, und fing andrerseits an zu schreiben, mehr wie im Rausch, aber es wurde zunehmend eine Erkundung.»

Bernd Igel arbeitete sechs Jahre in der Deutschen Bibliothek in Leipzig, studierte von 1978 bis 1982 Theologie, brach das Studium aber ab, weil das Schreiben sich zur «lebensbestimmenden Arbeit entwickelte». Die ersten Gedichte erschienen in Privatdrucken oder in Zeitschriften und Anthologien, wie zum Beispiel in «Luchterhands Jahrbuch der Lyrik». 1989 veröffentlichte Bernd Igel in der DDR und in der BRD jeweils einen Gedichtband, teils identisch; im Verlag Neues Leben als 259. Band in der Reihe «Poesiealbum», in der Collection S.Fischer unter dem Titel «Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte».

Im Aufbruchs-, Wende- und Endejahr 1989 begann für den 35-jährigen Bernd Igel, radikaler wohl als für die meisten, ein neues, anderes Leben: er nahm auch äußerlich die Identität an, die immer in ihm gewesen war, die einer Frau. Jayne-Ann Igel veröffentlichte 1991 ein Tagebuch, in dem dieser befreiende Prozeß, mit allen Unsicherheiten, Euphorien und Ängsten, beschrieben ist. Wolfgang Hilbig hat diesem Buch, das unter dem Titel «Fahrwasser. Eine innere Biographie in Ansätzen» bei Reclam Leipzig, erschien, ein Vorwort beigegeben, in dem er auch von der ersten Begegnung mit Jayne-Ann, bzw. Bernd Igel in Leipzig erzählt.

«Ich traf den Dichter, den sie vorstellte, in den Behausungen seiner Freunde, in den Enklaven jener «Szene», die sich in den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der SED-Diktatur, vielerorts auf dem DDR-Territorium dieses Landes gebildet hatte, zu hoffnungslos, um zu ahnen, daß mit ihrer Entstehung die Zeit jener herrschenden Kaste von Spießern, die sich anmaßte, die Marx-Engelssche Diktatur des Proletariats zu verwirklichen, eigentlich schon vorbei war…Ich war nicht scharf darauf, etwas von ihm zu lesen, obwohl ich dies wahrscheinlich vorspiegelte; mir schien, es war in dieser Szene an der Tagesordnung, mit Texten überschüttet zu werden, denen Publikationsmöglichkeiten verweigert wurden, was man zu bedauern und als katastrophales Unrecht anzusehen hatte…während man, insgeheim, womöglich selber nicht an die öffentliche Qualität dieser Texte glaubte und sie vielleicht nicht gedruckt hätte, wenn man dazu imstande gewesen wäre.»

Wolfgang Hilbig revidiert diesen Eindruck, als er Igels ersten Gedichtband liest, er schreibt weiter: «Dieses Buch, das in den Wirren der ostdeutschen Wende nahezu übersehen wurde, hätte womöglich…hätte bestimmt, ich will es behaupten, man kann mich nicht widerlegen, den Namen Bernd Igel als den eines außerordentlichen, eines unvergleichlichen Dichters so bekannt gemacht, wie dies auf deutschem Territorium möglich ist.»

Den Dichter Bernd Igel gibt es nicht mehr, es gibt die ebenso außerordentliche, unvergleichliche Dichterin Jayne-Ann Igel, die in ihrem Tagebuch «Fahrwasser» nicht nur von dem Glück des Mit-Sich-Identisch-Seins geschrieben hat, sondern auch immer wieder von den Ängsten, ob und wie sich die Veränderungen auf das Schreiben auswirken werden.

«11.11.1989: ich glaube, all das, was bisher bei mir an texten entstand, ist dem umstand geschuldet, daß Jayne-Ann stillhielt, sich immer wieder zurücknahm; jetzt, da sie ihr versteck verlässt, nicht länger schweigen will, muß ich mit dem schreiben von vorn beginnen, obgleich die erfahrungen fortwähren & ebenso deren gültigkeit;…in der überwindung der eigenen barrieren zum sprechen, wieder- & wider sprechen, teile ich das schicksal vieler menschen, und doch war in den bisherigen texten von mal zu mal auch das weibliche in mir zu wort gekommen, empfindung, sicht, und die erkundung war eine aufrichtige, das sagenhafte ist nur: ein lebensbereich blieb davon immer ausgespart, unausgesprochen; so sich meine sprache auch wandeln wird, innerlich, wesentlich, in ihrer qualität, so doch nicht zu einer unerkennbarkeit hin, sie bezieht ihr leben ja aus derselben identität, die ich angenommen habe, die schon lange in mir währt, grund ist…»

Träume sind auch in diesem Buch Wegweiser in das Innerste, gleichzeitig werden Zweifel angemeldet, ob die Signale des Traums anderen vermittelbar sind: «will man seine träume anderen lesbar machen, so unter der aufgabe ihres charakters als traum, weil er als solcher nicht übertragbar ist, und: mir ist, als bäte ich den besucher/leser in einen intimen raum, aus dem ich vorher alle zu intimen oder intimitäten verratenden dinge (…) entfernt oder in anderer weise vor den blicken des besuchers verborgen habe…» – so eine Eintragung vom 5.4.1990.

Jayne-Ann Igel veröffentlichte ein Jahrzehnt lang keine literarischen Texte, andere Arbeiten standen im Vordergrund, zum Beispiel die Forschungsarbeit im Dresdner Frauen Stadt-Archiv. Zusammen mit Una Giesecke gab sie den Band «Von Maria bis Mary. Frauengeschichten aus der Dresdner Neustadt» heraus. Als müsse sie sich ihrer selbst als Dichterin vergewissern, gibt sie der Sammlung mit «Gedichten und Resonanzen», die 2001 im Verlag «Un art ig» erscheint, den Titel «Wiederbelebungsversuche». Der Band versammelt lyrische Prosa aus den achtziger und neunziger Jahren. Mit «Unerlaubte Entfernung» und «Traumwache» findet sie den unverwechselbaren Ton, der mit seiner genauen und hoch- poetischen Sprache Bilder evoziert, die traumhaft, aber doch ganz konkret sind.

«…die öfen, diese weiße kälte, denke ich, als ich vom anzünden der öfen in den verschiedenen zimmern lese: das kratzen der schaufel auf dem rost, die rostige schwarze eisenschaufel, die weiße asche, die kahlen, frostig wirkenden wände mit den nur schwach gemusterten rolltapeten, der schweldunst der aus dem küchenherd herbeigeholten glut, einer glut, schon verblassend, die aufzüngelnden flammen verloren ihren grund, schienen zu schweben; ich haßte die kälte des morgens, das kratzende geräusch der schaufel, die aschenhalde – ich schaute fasziniert in das innere der brennhöhlen, durch die aussparungen der innentür; das stumpfe stimmlose aneinanderreiben der briketts, gebrannten ziegeln gleich, das kollern der eierkohlen auf der schaufel…»

«…schlafwandler, traumwandler» –

Literatur braucht sich vor der Traumdeutung nicht zu fürchten. Es sind andere Räume, die sich erschließen, die weiten Räume der Dichtung, die wir betreten, wenn die Worte und Bilder uns dazu verführen oder auch dazu zwingen. Natürlich muß man sich nicht zwingen lassen. Man muß nicht Trakl und nicht Kafka lesen, auch nicht Jayne-Ann Igel. Nur erfährt man dann weniger von der Welt, und über sich selbst.



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