Werner von Koppenfels Klassische Formen, neuer Geist Der Ruhm hat die amerikanische Dichterin Edna St. Vincent Millay früh verwöhnt, aber er blieb ihr nicht treu. Als (wie es heisst: recht aufmüpfige) Studentin des renommierten Vassar College begeisterte sie die Kritiker 1912 mit ihrem ebenso frühreifen wie brillanten Langgedicht «Renascence», das, wie viele ihrer späteren Texte, aus der Spannung von Todesnähe und Vitalenergie lebt. Ein merkwürdig beschwingtes Metrum trägt diese persönliche Vision einer Neugeburt im Schoss der Natur über alle Untiefen der Skepsis. Ihre folgenden, überaus erfolgreichen Gedichtbände gaben dem interessierten Publikum, was die experimentelle Moderne verweigerte: eine Lyrik, die keinen Traditionsbruch ankündigte, sondern die überkommenen Formen mit neuem Geist zu erfüllen suchte; die frei von Hermetismus durch ihre Echokunst dem Kenner schmeichelte und darüber hinaus alle Leser zum emotionalen Mitvollzug einlud. In Leben und Lyrik forderte die äusserst selbstbewusste Dichterin freien Raum für eine spezifisch weibliche Entfaltung. «Für gewöhnlich ungewöhnlich schön», so der Eindruck der Zeitgenossen, hat Edna St. Vincent Millay den Bohˆ®me-Mythos von Greenwich Village mitbegründet - durch spektakuläre Lesungen sowie als Bühnenautorin und Schauspielerin. Sie führte mit ihrem erheblich älteren Gatten eine offene Ehe und fand die grosse schmerzensreiche Passion mit einem erheblich jüngeren Dichter (George Dillon, der nur in diesem Kontext in die Literaturgeschichte einging). Das Zeugnis dieser Beziehung ist der dank seiner formalen Meisterschaft und seelischen Turbulenz einstmals berühmte Sonettkranz «Fatal Interview» von 1931. «I will put Chaos into fourteen lines»: Bei allem Formenreichtum dieser Lyrik ist das Sonett ihr eigentliches Instrument, dessen uraltes Versprechen, gelebte Dissonanz in künstlerische Harmonie zu verwandeln, sie noch einmal zu erfüllen weiss. Der hohe Ton, die motivischen und mythologischen Bezüge, der Anklang an elisabethanische Dichter und viktorianische Dichterinnen, all das zielt freilich, bei aller Seelendramatik, auf eine leicht als anachronistisch verdächtige Überzeitlichkeit. Rudolf Borchardt, der ihre Lektüre in einem grossen Aufsatz als «Entdeckung Amerikas» feiert, nennt Edna St. Vincent Millay die «Nachtigall der amerikanischen Mitzeit». Ihr zuliebe findet er sich bereit, seine kulturelle Abneigung gegen die USA zurückzustellen, und stilisiert sie, bei aller «schneidenden amerikanischen Heutigkeit», zur Sappho rediviva. (In seinem Buch über das europäische Sonett widmet Friedhelm Kemp dieser Begegnung ein erhellendes Kapitel; Gerhard Schuster hat kürzlich ihre Texte und Dokumente in einer schönen Ausgabe versammelt.) Um schneidende Heutigkeit hat sich die Dichterin an anderer Stelle bemüht: in ihrem poetischen Protest gegen den Justizmord an Sacco und Vanzetti, in ihrer apokalyptischen Sonettsequenz «Epitaph for the Race of Man» - ein Thema der Schwarzen Romantik - und in empörten Versen gegen die Untaten der Nazis, die den Weg in das Marschgepäck mancher GI fanden. Aber Propaganda war ihre Sache nicht. Sie starb 1950, als ihr Ruhm im Schatten von Eliot und Pound arg verblasst war. Doch das Blatt scheint sich zu ihren Gunsten zu wenden. Die klassische Moderne ist heute mehr Mythos als Massstab, die geschlossene Form wird in einschlägigen Kreisen wieder geschätzt, und auch die triumphale Selbstinszenierung von Weiblichkeit wirkt nicht ganz unzeitgemäss. Gewiss, Edna St. Vincent Millays lyrische Ekstasen und Agonien klingen kultivierter als die Emily Dickinsons, und ihre erotischen Mythen kommen, im Vergleich zu Yeats etwa, eher aus zweiter Hand. Aber so viel sprachliche Meisterschaft verlangt nach wie vor Gehör. Das Comeback war überfällig. Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt, dass endlich der mutige Versuch einer umfangreicheren deutschen Übersetzung gewagt wurde, die mehr sein will als nur Interlinearversion. In einer hübschen zweisprachigen Ausgabe legt Günter Plessow, bisher als versierter Übersetzer elisabethanischer Sonette hervorgetreten, bei Urs Engeler eine Auswahl vor, die neben zwei frühen Langgedichten - darunter «Renascence» - zwei stark gegensätzliche spätere Sonettfolgen enthält. In der ersten verleiht die traditionelle Form im Rückblick auf eine nicht besonders glückliche Neuengland-Ehe dem Unscheinbaren Glanz und Würde; in der zweiten gibt sie dem Gefühlssturm von «Fatal Interview» einen europäischen Horizont. Louise Labé, Gaspara Stampa und Elizabeth Barrett-Browning grüssen als Vorgängerinnen. Die Topoi der Tradition sind hier eigenwillig und vielfach selbstironisch aufbereitet - Liebesglück und Leidenslust, Qual der Ferne, Taglied-Situation, Angst vor dem Alter, Liebe als Krankheit: «Nein, Blutegel, Herr Doktor, aus dem Teich / vermögen meinen Fall nicht zu beheben: / Bin krank im Fleische, ach, und der Bereich / liegt tiefer als Sie schürfen - Liebe eben . . .» Hier geht, in den Worten Borchardts, die Frau durch den Mann hindurch, um am Ende von hoch oben auf ihn herabzublicken: «und du wirst mich verlassen, und was dann / schon kalt sein wird, begrab ich nebenan». Bewundernswert die frische, manchmal halsbrecherische Art, in der Plessow sich auf diese hochartifiziellen Sprachgebilde einlässt; ein Hindernislauf, in dem zwangsläufig so manche Hürde zu Boden geht. Ina Schabert, die das Unternehmen angeregt hat, bescheinigt ihm in ihrem Nachwort, zumindest an einer Stelle «in kunstvoll regelverstossender Weise» das Original noch übertroffen zu haben. Die Leser, die dieser Dichterin auch bei uns zu wünschen sind, mögen entscheiden. (Neue Zürcher Zeitung, 23. Mai 2009) |