Samuel Moser

Das Schönste, das Lied
Michael Donhausers neue Prosagedichte


Zweiundfünfzig Miniaturen enthält Michael Donhausers neuer Band «Schönste Lieder». Es sind kurze Prosagedichte, fünf oder sechs Zeilen lang, die letzte immer kürzer als die andern (manchmal nur ein Wort noch). Sie soll, sie muss dem Text ein Ende setzen, das nie Gültigkeit beanspruchen kann. Anders geht es nicht da, wo auch der Anfang schon zufällig ist, so dass der Text irgendeinmal anhebt und aufgreift, was immer schon da ist: «Wie waren warm noch einmal die Tage», beginnt das erste «Schönste Lied».

Wiewohl diese Gedichte auf kleinem Fuss leben und ohne rhetorischen Lärm, ohne die sogenannt «reiche» Sprache auskommen, wird es nie eng in ihnen. Die Wörter bewegen sich fast ohne syntaktische Fesseln im Textraum und können sich buchstäblich untereinander austauschen. Knirschende Satzgelenke, hierarchische Strukturen findet man kaum. Dafür das unbestimmte «und», das ebenso als Brücke wie als Bruch aufgefasst werden kann.

Donhausers Lieder haben keinen «Gegenstand». Sie sind die Dinge: Wind (das Wehen), Licht (das Scheinen), Nacht, Schnee, Blätter, Wärme, Gerüche, Tageszeiten, Jahreszeiten, Lebenszeiten. Auch metaphysische «Dinge» gehören dazu: Not, Sorge, Furcht, Liebe, Begehren. Sie sind, wenn man so will, die Helden dieser Epopöe des Elementaren.

«Thema» muss musikalisch verstanden werden: als Sequenz von Klang und Rhythmus, als Melodie mit Crescendo und Decrescendo, Accelerando und Ritardando. Und nicht nur der Leser, sondern auch der Autor bleibt beim Schreiben Zuhörer der in Töne gefassten Bewegtheit des Textes: «Wie waren warm noch einmal die Tage, / da blühte der Efeu, da üppiger hingen / und glänzend die Früchte ins kaum schon /verfärbte Laub, dass lobend bald stieg, dass / zitternd bald sank die Sage, der Sommer / von Wicken umgarnt.»

Still nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in seinen Texten war Donhauser schon immer. Nun ist er noch stiller und karger geworden. Und doch von einer unüberbietbaren Präsenz. «Ich» sagt er selten. Dennoch ist seine Subjektivität überall spürbar. Sie ist der Atem oder Hauch, manchmal auch ein stärkerer Wind, der in die Dinge fährt und sie als Text zum Singen bringt. Text, der dann seinerseits den Autor mitnimmt, in Bewegung versetzt.

Die Subjektivität des Autors ist auch spürbar im Hiat, der seine Texte prägt. Es handelt sich dabei nicht um ein Gefühl, zwischen einer Aussenwelt und einer mit ihr inkommensurablen Innenwelt zerrissen zu werden. Vielmehr geht es um die Erfahrung der Synchronie des Asynchronen: der Gleichzeitigkeit unserer Zeit und der der Dinge. Donhausers Prosagedichte besingen nicht ein ewiges, unberührtes Sein, sondern ein wirkendes und sich also auch verwirkendes. Das ins Verschwinden verwickelte Dasein: «ich suche ihr zu sagen, wie schön sie sei, / wie schön sie war, da sie legte ihre Arme / um meinen Nacken, als hätte all dies sein / Gutes, das Betören wie das Lassen.»

Das wichtige «da» in Donhausers Texten ist äusserst komplex und versammelt disparate Bedeutungen in einem Momen: das «da!» des evozierenden Schauens, der unmittelbaren Gegenwart, und das «da» des Erzählens, das kippt ins «da» des «damals». Die Wirklichkeit des Augenblicks ist gleichzeitig Illusion. «Noch einmal» scheint er auf in seinem Vergehen. Das Sprechen des Liedes selber ist im zitierten ersten Lied schon zur «Sage» geworden: «dass lobend bald stieg, dass / zitternd bald sank die Sage, der Sommer / von Wicken umgarnt.» So reden Donhausers Gedichte von ihrem Verstummen. Das vergängliche Dasein ist ihr eigenes. Vielleicht ist das der Grund für die hauchdünne Melancholie, die über ihnen hängt und das Helle und das Finstere, das Emporwachsende und das Hinfällige in eine unwägbare Balance bringt.

Donhauser ist auch ein Augenmensch. Die «Schönsten Lieder» sind ganz dem Sichtbaren zugetan. Dem «da» folgt das nicht weniger zweideutige und zweischneidige «wie». Es holt die Dinge emphatisch vor unser Auge, rückt sie dabei aber zugleich in weite Ferne: «Wie fern sind die Lichter jenseits der Gleise». Der Satz ist unauffällig, aber von ungeheurer Spannung. Nichts anderes als die Ferne selber wird in ihm zum Greifen nah.

Überheblich waren vielleicht die Dichter, die sich einst Sänger nannten. Noch überheblicher, könnte man meinen, ist der, der seine Gedichte «Schönste Lieder» nennt. Donhausers Band aber ist kein Album, keine selbstgefällige «Best of»-Auswahl. Der Titel meint, dass das Gedicht überhaupt das Schönste sei, weil es am ehesten von allen literarischen Formen nicht Abbild von Leben und Vergehen ist, sondern selber zu leben und zu vergehen vermag. In diesem Sinne von «Vermögen» sind Donhausers Prosagedichte dann doch durchaus reich.

(Neue Zürcher Zeitung, 12./13. Januar 2008)


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