Manfred Papst Höchste Zeit, dass die Schweiz diese 82-Jährige endlich zur Kenntnis nimmt Eleonore Frey erzählt in "Cristina" in äusserst präziser Sprache eine bewegende Geschichte. Besprechung für das Magazin der NZZ vom 05.08.2022 Es ist ein Bub! Mehr weiss Cristina nicht. Ins Gesicht ihres Sohns hat sie nie geschaut. Der Priester hat das Neugeborene auf den Namen Jesu getauft, ohne sie zu fragen. Unmittelbar nach der Geburt, für die man sie zu einer Tante aufs Land geschickt hat, ist er ihr weggenommen worden; so haben es die Mutter und der Vormund verfügt. Sie sei ja selbst noch fast ein Kind, haben sie gesagt, und einen Mann habe sie auch nicht. So komme es eben, wenn man mit einem Matrosen in die Büsche gehe, kaum dass man die Schule hinter sich habe. Eine Abtreibung ist für Cristina aller heraufbeschworenen "Schande" zum Trotz nicht infrage gekommen: Noch nie, sagt sie, habe sie sich mit jemandem so gut verstanden wie mit dem Kind in ihr. Siebzehn Jahre später kommt die immer noch junge Frau, die in Lissabon lebt und als Hebamme arbeitet, ganz aufgeregt heim zu ihrem Gefährten Manoel. Sie ist sicher, Jesu gerade gesehen zu haben: Er sei, berichtet sie, von der Strassenbahn, in der auch sie sass, in einer scharfen Kurve abgesprungen und gestürzt, habe sich aber gleich wieder aufgerappelt. Jemand habe ihn bei seinem Namen gerufen; er jedoch habe wütend entgegnet, er sei nicht Jesu, und sei in der Menge verschwunden. Gebratener Fisch und Hyazinthen Manoel gibt nichts auf die schwache Indizienkette; mehr noch: Er hält es für völlig unmöglich, dass Cristina ihren Sohn jemals findet. Sie muss, denkt er, sich mit ihrem Schicksal abfinden. Aber er liebt sie, und er nimmt ihre Not ernst, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst einmal verheiratet war und seine Tochter seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat. Er hört der Liebsten aufmerksam zu, fragt nach, widerspricht da und dort allenfalls milde, und eines Tages sagt er ihr: "Ich habe deine Geschichte aufgeschrieben. Du sollst sie glauben, auch wenn du weisst, dass sie nicht wahr ist." Sein Bericht bildet das Haupt- und Herzstück von Eleonore Freys neuer Erzählung. Eingerahmt wird er von einem Gespräch der beiden Protagonisten und von einem Postskriptum Manoels. Es ist eine Spiegel-Konstruktion mit subtilen perspektivischen Brechungen, wie diese Poetin sie liebt, überraschend und plausibel zugleich. Insgesamt aber ist ihr neues Buch eines ihrer zugänglichsten; zudem verhandelt es einen zeitlos aktuellen Fall, der wohl niemanden kaltlässt. Wir riechen den gebratenen Fisch in der Kneipe am Tejo, aber auch den starken, eigenartig frischen Duft der Hyazinthen, 'zart abgestuft in seine Farben rosa, blau und weiss' Lange hatte Eleonore Frey diesen Text mit sich herumgetragen, bevor sie sich entschlossen hat, ihn aus der Hand zu geben. Und einmal mehr zeigt sich die inzwischen 82-jährige Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin als eminente Stilistin. Sie schreibt eine fein austarierte Prosa, in der kein achtloses Wort steht. Feinsinnig, aber nicht preziös. Weshalb ihre Werke oft mit einer Mischung aus Respekt und Herablassung als "stille Bücher" apostrophiert werden, ist ein Rätsel: Denn es passiert viel, durchaus auch Drastisches; zudem ist Eleonore Freys Prosa immer konkret. Die philosophische Reflexion, auf die sich die Autorin sehr wohl versteht, breitet sich nicht in Exkursen aus, sondern ist ihren Büchern mit unsichtbarer Tinte eingeschrieben. In "Cristina" erleben wir den Alltag in Lissabon und auf dem Umland mit allen Sinnen. Wir riechen den gebratenen Fisch in der Kneipe am Tejo, aber auch den starken, eigenartig frischen Duft der Hyazinthen, "zart abgestuft in seine Farben rosa, blau und weiss"; wir sehen den zuckenden Flug der Fledermäuse oder einen Bettüberwurf, den Cristina aus den Resten aller Sommerkleider ihres Lebens genäht hat: keine bunt gemusterte Wiese, sondern "ein strenges Gefüge aus weiss und weiss; da eine Bahn aus weichgewaschenem Leinen, dort ein Stück einer auf dunkleren Grund hin durchbrochenen Stickerei". Eleonore Frey umreisst mit wenigen präzisen Strichen die katholische Enge, in der Cristina aufwächst und aus der sie auszubrechen versucht in der Liebschaft mit dem Matrosen Fernando, obwohl sie die ganze Zeit spürt, dass dieser ihr vieles verschweigt und auch gar nicht nach Rio ausläuft, wie er behauptet. Als die Reederei ihr mitteilt, er habe sich nach New York abgesetzt, wo sie ihn nie mehr finden wird, wundert sie sich nicht wirklich. Verletzlich und doch stark Gespannt folgen wir ihrem Weg in die Freiheit, ihrer Ausbildung zur Hebamme und ihrer aufreibenden, aber auch erfüllenden Arbeit. Mit der Mutter bricht sie, nachdem diese versucht hat, ihr einzureden, sie habe gar nie ein Kind gehabt. Sie lebt mit der Trauer, der Ungewissheit - und sie wächst im Licht des Verlusts zu einer reifen und empathischen, zugleich starken und verletzlichen Person heran. Im tätigen Leben und in der Liebe zu Manoel findet sie allmählich zu sich selbst. Doch sie bleibt traumatisiert. Ihre Geschichte holt sie immer wieder ein und schüttelt sie durch - bis sie lernt, ihre Vergangenheit nicht zu verdrängen, sondern als stets neu zu gestaltende Lebenserzählung zu begreifen. Sie macht für uns die Eigenheit ihrer Protagonisten erlebbar, ohne zu psychologisieren. "Notstand" hiess 1989 Eleonore Freys erstes literarisches Buch. Der Titel könnte über allen ihren Werken stehen, so über der 2004 erschienenen, meisterhaften Erzählung "Das Haus der Ruhe", in der eine Ich-Erzählerin in der Kargheit ihres Altersheimzimmers einen gedankenvollen Monolog spricht. Ähnlich eindringlich war "Muster aus Hans", 2009 erschienen, der Bericht über einen Aussenseiter. Er denkt anders, er hat ein anderes Verhältnis zur Sprache, er nimmt die Welt anders wahr als wir. Dieser Perzeption, dieser Denkbewegung folgt Eleonore Frey Satz für Satz, ohne dass das Wort Autismus fiele. Sie macht für uns die Eigenheit ihrer Protagonisten erlebbar, ohne zu psychologisieren. Namenlose Hoffnungen und diffuse Sehnsüchte bewegen auch die Figuren in ihrem grossartigen kleinen Roman "Unterwegs nach Ochotsk". Eleonore Frey, die 1939 in Frauenfeld als Tochter des seinerzeit fast allmächtigen Schweizer Germanisten Emil Staiger geboren wurde und 15 Jahre lang als Titularprofessorin an der Universität Zürich in ihren Seminaren zeigte, was genaues Lesen ist, zählt zu den eigenständigsten und konsequentesten Stimmen der Schweizer Literatur. Mit jedem ihrer Werke hat sie ein neues Thema gesetzt, ohne sich je zu verzetteln. "Cristina" setzt diese Reihe schmaler, dringlicher und alles andere als "stiller" Bücher überzeugend fort. |