Oskar Pastior

Werkstatt mit transformatorischen Spielregeln





HEIMAT – was ist das? Umfrage, vor Jahren, der Uni Bamberg. Es herauszufinden war die Aufgabe.
HEIM ist ja ziemlich eindeutig – aber AT? Ich nahm das Wörterbuch zu Hilfe, und zwar das Rückläufige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von Erich Mater, das alle Wörter und Wortzusammensetzungen auf -at hintereinander auffühn – eben weil es alphabetisch rückläufig geordnet ist. Was ich fand, waren seitenlange mehrspaltige Auflistungen mit dieser Endung. Meine Leistung war dann bloß – und das hängt mit dem «Thema» nun doch sehr zusammen – daraus eine rigorose Auswahl zu treffen; das immense Feld auf meine Bedürfnisse (und Bedürftigkeit) hin abzustecken, einzugrenzen. Das Ergebnis dieser «Heu-Mahd», das Listengedicht von 1996, ist bekannt:

Rückläuftges heimataggregat

maat rübesaat pufferstaat
sabbat zöli akrobat
kandi sol man konkordat
transsudat wie exsudat
pereat spagat renegat
aggre katte obligat
surro nugat – ach achat
matri patri arch rabiat
immed fiat plagiat
ordina kommissariat
prole sekre notariat
pla va prädi syndi deli duplikat
seidenbro & advokat
kopfsalat schnittsalat postulat
supremat anastigmat
heimat sprach wahl urhei sublimat
promat diplo automat
buchformat permanganat
schnat
kombinat illuminat
obsti pensio brachmonat
eis christ bau heu lenzmonat
zitronat inkarnat
feldspat kalkspat rat parat
präparat geht separat
schaumlösch querstauch abkühl leit löt
brut brüt blitzschurzapparat
disparat
planquadrat
referat
zierat zierat inserat
literat
rückgrat euphrat heirat pirat
büro auto ethikrat
lektorat hochverrItt mundvorrat botschaftsrat
konzentrat akkurat südostpassat notadressat
schandtat etat azetat
lak trak dik wohl resultat
potentat attentat ruhmestat
rheostat backzutat
adäquat derivat
privat vivat reservat

Wie aber übersetzt man dann sowas? Zum Beispiel ins Rumänische? Was entspräche anderswo einer solchen listenschaumgeborenen Heimat?
Am 27. März 2001, gemeisam mit Nora Iuga (die meine Petrarca-Übersetzungen, die keine Übersetzungen sind, ins Rumänische übersetzt hat) und Ernest Wichner, Literaturhaus Berlin, im Auto auf der Fahrt von Bukarest nach Hermannstadt, gingen wir diesem Fragenbündel nach. In Ermangelung einer kompatiblen Heimat im Rumänischen landeten wir ziemlich rasch bei der PATRIA, dem Vaterland, und machten uns demnach auf die Suche nach Dingen mit Ria am Ende. Ernest im Fond, der Listenführer, notierte; besonders in der ozonreichen Karpatenluft im Rotenturmpass bordete die Liste fast über; die ich dann, wieder zu Hause in Berlin, als unsere Gemeinschaftsarbeit in eine Art von Rhythmus brachte. Im Unterschied zum At im Heimataggregat zeigte sich, dass hier das Ria-Anhängsel imstande war, sich eine Menge selbstständig funktionierender Kleinwörter (cu, va se, ma) vor die Brust zu schnallen, was bei rialosen Häufungen sogar syntaktische Folgen haben konnte…

PATRIA DINTREI DIN URMA
(pat cu pat pe nut se lenje)

aria calabria
nutria puzderia
mese lote soneria
manciu martu penuria
sicheria
iste isto barbaria
acto ctito smecheria
horia gloria furia curia
maria varia paria saria
(copila topito popica
si bucata casato macela)
calo memo datoria
si bulgaria si ungaria si algeria-sumeria-asturia
malaria-liberia-simeria amu-da caria mizeria
pizze porca difteria
milita si mustaria
peria beria seria styria
jongle victo palaria
calato si libraria
(infirme carose galante dezinte sufrage)
chi! pusca juca fantasmago
ho glo fu ma
cu va pa sa
si alot idolat
pat trato schela prima vina
pat bera fiera tigla dofto
pat cofeta-forfeca salume-plapume bombone-condome
otela-vopsito poseta-amato cocheta-excroche
o ta gale coteria
teo lote soneria
si asa mai tria-pria…

(nora iuga oskar pastior etnest wichner n drum spre
sibiu, 27 martie 2001)

Das Rückläufige Wörterbuch als das im Grunde differenzierter, d.h. poetischer als das Reimlexikon agierende Spielwerkzeug (contrainte) zur Herstellung (Ermöglichung) komplexer Zusammenhänge. Andere Kunstmaschinchen wie die Sestine mit ihrer genialen, zur Selbstübersteigung in der abwesenden Sieben tendierenden Reimabfolgeformel «6-1-5-2-4-3» können mehrsprachige Selbstübersetzungsstrukturen bewirken, sobald man die buchstäbliche/lautliche Reimfunktion auf die Spracheigenheit (Nationalsprachlichkeit) ganzer Zeilen ausdehnt, wie hier in meiner Sestine fliegen eintag polyglott, die in Frankreich unverändert, bloß mit dem Titel sixtine éphémèrement polyglotte erschien:

voilà une sixtine française-anglaise:
this is an english-german sestina:
oh eine deutsch-rumänische sestine:
iata si sextina româno-ruseasca:
äto – russko-italjanskaja sestina:
eccola una sestina italian-italiana:

comme stai, italian-francese sestina?
comment ça va, sixtine française-russe?
russko-anglijskaja sestina, kak poshiwajesch?
how are you, english-romanian sestina?
tu ce mai faci, sextina româno-germana?
deutsch-deutsche sestine, alles in ordnung?

danke bestens, deutsch-italienische sestine!
grazie, benissimo, italian-rumanesca sestina!
foarte bine, sextina româno-frantuzeasca!
merci, excellent, sixtine française-anglaise !
thank you, splendidly, english-russian sestina!
spassiba, prekrasno, russko-russkaja sestina!

no russko-nemezkaja sestina prekrasnej!
aber die deutsch-englische sestine ist schöner!
but the english-italian sestina is more beautiful!
però la sestina italiana-francese è piu bella che tu!
mais la sixtine française-roumaine est plus belle!
dar sextina româno-româna e si mai frumoasa!

unde e cea mai frumoasa sextina rom1ano-ruseasca?
a gde she samaja prekrasnaja russko-franzuskaja sestina?
mais où se trouve la plus belle sixtine française-allemande?
wo aber ist die schönste deutsch-italienische sestine?
ma dove si trova la piu bella sestina italiana-inglese?
but where ist the most beautiful english-english sestina?

long live the english-romanian sestina!
traiasca sextina romano- italiana!
evviva la sestina italian-russa!
da sdrastwujet russko-nemezkaja sestina!
es lebe die deutsch-französische sestine!
vive la sixtine française-française!

la sixtine française-anglaise est morte
long live the english-italian sestina
ma la piu bellissima è la sestina sestina-sestina

Dass die Sestinenformel selber – sie stammt ja aus der Troubadourdichtung – die Entstehung komplexer Gedanken beim Denken im Kopf (dort wo sich Entstehung und Material «höchst merkwürdig» umarmen und weiterführen «möchten») vorzeigt, demonstriert und verkörpert, also ist (der Gedanke als ein Wahnsystem das sich erwähnt) – dass diese Sestine auch als Kleinmodell, als Minisestine auf ein Sechstel in sechseinhalb Zeilen, in denen die Formel 6-1-5-2-4-3 zur Silben- und Semantikmelodie wird, eben auch zwischensprachlich funktionieren kann, habe ich in letzter Zeit ausprobieren können; es ist aber wirklich Glücksache, so polyglotte Silben zu finden. Drei von diesen minisestinen:

neffe queneau

kanu newö keno
noka kenu wöne
neno wöka nuke
kene nuno kawö
wöke kane nonu
nuwö noke neka
wö kanu

tschirpf

quefir quebab quetschapp
tschappque quefir babque
quetschapp babque firque
queque firtschapp quebab
babque queque tschappfir
firbab tschappque queque
tschapp babque

o meran / a enorm

marone romane
nema maro rone
nene roma roma
manerone maro
romama nenero
roro nema nema –
orna me

Bei solchen Minisestinen spielt natürlich auch die Konvention, wie Lettern in diversen Sprachen laut zu lesen sind, hinein; irritierend wie erstaunlich… Die herrlichste Transformationsmotorik, Selbstübersetzung Zeile für Zeile, ist aber immer noch die Permutation im strengen klassischen Lettemanagramm – wie hier in einem

iglu pisa

agilupsi
pi aus gli –
igsi lupa
liga pius

upsi glia
piglu asi
pia siglu
ulpa gisi

alu gipsi
gupilasi
apis guli
sial puig

isa piglu
glius api
pagilius
agliipsu

aug i lips
i pusa gli
sa i glipu
glu i spai

iglu pisa
glu i sapi
isla gupi
pusa igli

pisu igla
glais i pu
puligasi
luigi spa

plugiasi
algupisi
glupiasi
galipusi

sa pu ilgi
guli pisa –
pagus ili
pusigail…

– und weiter, bitte weitermachen: spiguila / a gips ilu / (igas pliu / is galupi) // upi galis / is pigalu / ius plagi / glipa sui…


Berlin, 14. Juni 2004


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