Manfred Schneider

Reine Tat des Wortes
Jean Daives Textblöcke «W» vereinen Poesie und Psychoanalyse



«Meist haben sich Dichter zu Anfang, oder zu Ende einer Weltperiode gebildet», schrieb Hölderlin als Widmung auf ein Exemplar des Hyperion: «Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit ins thätige Leben (…). Mit Gesang kehren sie von da zurück ins ursprüngliche Leben.»Das war um 1800. Der Gesang, den die Dichtung zum Ende unserer Weltperiode anstimmt, scheint selbst vom Endzeitlichen heimgesucht. Beckett, Celan, Artaud oder Blanchot, die Dichter der Endmoderne, sind auch Dichter der Endmoräne der Wörter, die sich zu verlieren drohen im Steinmeer des Schweigens.

Zu ihnen zählt auch der französische Lyriker Jean Daive, dessen frühes Gedicht «Décimale blanche»auf deutsch zuerst durch eine Übersetzung Paul Celans vernehmbar wurde, die 1977 als Faksimileedition erschien. Daive hat seinerseits Celan übersetzt, wie überhaupt die moderne Dichtung ein Sprechen vieler Völker über Grenzen hinweg ist, ein internationaler Gesang oder eine internationale Heimsuchung der Sprache durch die Gefahr des Verstummens. Jean Daive ist ein prominenter Mann im Leben der Poesie, er ist Leiter des Centre international de poésie Marseille, er betreut seit vielen Jahren mehrstündige Literatursendungen bei France Culture. Aber dort leitet er zurzeit auch ein wöchentliches Magazin zur aktuellen Kunst Peinture fraîche.

Das Leben der Worte

Als Dichter gibt er dem Leser Rätsel auf, ein Roman trägt den Titel La Condition d'infini, ein Lyrikband heißt Le Cri-cerveau. Zwischen 1982 und 1990 kam in vier Bänden und neun Teilen der lyrische Zyklus Narration de l'équilibre / Erzählung des Gleichgewichts heraus, dessen vierter Teil mit dem unübertragbaren Untertitel W nun zweisprachig erschienen ist - genau übersetzt und ausgiebig kommentiert von Werner Hamacher. «Gleichgewicht» wäre vielleicht ein Wort für das Leben der Worte zwischen ihrem Verschwinden und fernen Wiedererscheinen.

Die Erzählung des Gleichgewichts ist weder Narration noch Gedicht, sondern eine Folge von drei- bis dreizehnzeiligen Textblöcken, die sich auf dem Papier mit so viel Weiß umgeben, wie es Gedichte so gerne tun. Dem Leser erschließt sich aus dieser Sequenz von knapp 120 syntaktisch und thematisch gebrochenen Textstücken, dass hier ein Sprechen, das niemandem zuzuordnen ist, Ereignisse einer Biographie aufruft. Eine Reihe von wiederkehrenden Begriffen, Zeit- und Raumangaben folgen offenbar der Absicht, die Ereignisse genau zu bezeichnen, aber der Wille zur Präzision scheint von der Not des Sprechens selbst bedrängt.

Schemenhaft zeichnet sich in der Erzählung, die von einer Couch, von Sitzungen spricht und von Szenen, in denen Vater, Mutter, Schwester, aber auch andere zum Teil gespaltene Figuren auftreten, eine Psychoanalyse ab. Wien und seine Gassen (darunter die Berggasse) stehen als Ort für die Erinnerungsfragmente. Das W des Titels lässt sich deutsch als Weh lesen, das darin zur Sprache kommt, aber auch als Spur von Zähnen, die dem Sprechen wehren.

Kunst am Abgrund

Die Erzählung des Gleichgewichts bietet in ihrer protokollartigen lyrischen Folge auch (erfundene, erlebte?) autobiographische Elemente, aber diese Bruchstücke dienen nicht im Sinne der Freudschen Theorie der «Trockenlegung der Zuydersee», dem Gewinn eines sicheren Terrains, sondern beleben den Prozess eines allmählichen Worterwerbs, den Tod, Verlust und Schweigen säumen. Das Lebensdrama, das sich in diesen lyrischen Blöcken artikuliert, spielt als poetologisches Drama, das zwischen dem von Hölderlin angesprochenen Aufstieg und Niedergang schwankt. Mehrfach ist von einem «Alles Sagen»die Rede, dem Gesetz der Psychoanalyse, aber diesem Allessagen, steht ja ein anderes Gesetz entgegen, das Gesetz der modernen Poesie, das gerade sein Verdikt über das Allessprechen verhängt hat.

Da die moderne Poesie dem Allessprechen des zeitgenössischen Medienbetriebs weichen musste, steht ihr auch nicht mehr der Sinn danach, über die Welt zu reden. Alles Repräsentative ist aus dieser Dichtung verschwunden, sie ist zunehmend reine Schöpfung, reine Tat des Wortes, und hat damit nur noch sich selbst zum Gegenstand.

Diese Kunst am Abgrund, diese Literatur, die sich ins Rätsel zurückgezogen hat, ist auf den Kommentar angewiesen. Der Leser dieser liebevoll gestalteten Übertragung aus dem französischen Equilibre ins deutsche Gleichgewicht greift daher dankbar auf den ausführlichen Kommentar Werner Hamachers zurück, der dem Buch beigegeben wurde. Ihm scheint es gelungen, ein Allessagen aus der Tiefe des Textes vernehmbar zu machen. Man darf sehr gespannt darauf sein, wie sich die Inszenierung dieses labyrinthischen Textes demnächst auf der Bühne des Frankfurter Schauspiels ausnehmen wird.

(Frankfurter Rundschau, 25. April 2007)

Zu Jean Daive: W.


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