Tobias Lehmkuhl Blitze aus der Blickhüfte Über zwei Jahre hinweg habe sie sich eine tägliche Schreibpflicht auferlegt, so Elke Erb im Vorwort zu ihrem neuen Buch Sonanz: Fünf Minuten lang galt es, den Stift nicht vom Papier zu nehmen – sei ihr nichts mehr eingefallen, habe sie das letzte Wort einfach wiederholt, bis die Zeit um gewesen wäre. Eine Schreibpflicht, die von etüdenhafter, recht privater Art scheint. Die jüngst siebzig Jahre alt gewordene Elke Erb aber hat durch diese Schreibhaltung zu einer ihrem poetischen Temperament überaus gemäßen Form gefunden. Ihre Texte waren immer schon skizzenhaft, vorsichtig-tastend, aber auch äußerst widerständig und zuweilen sentenzenhaft-knapp, die Grenzen zur Prosa und anderen Formen fließend. «Gedichte und andere Tagebuchnotizen» heißt eines ihrer Bücher im Untertitel, und in dem schon fast legendären, kurz vor dem Mauerfall erschienenen Band «Kastanienallee» führt jedes Gedicht seinen eigenen Kommentar mit sich – wobei sich die Kommentare wiederum mitunter in selbstständige und umfängliche lyrische Texte verwandeln. Auf viele jüngere Dichter übt Erbs fast kindlich-neugierige und durchaus schrullige Art seit einiger Zeit merklichen Einfluss aus. Sie bildet eine Art Gegenpol zur ausufernden Friederike Mayröcker und dient gleichzeitig als eine Art Ersatzmutter der Avantgarde, nachdem so viele ihrer Protagonisten in den letzten Jahren gestorben sind. Erst jetzt, könnte man sagen, kommt ihre Arbeit richtig zur Geltung, und mit «Sonanz», so scheint es, erreicht sie einen ganz außerordentlichen Grad an Intensität, als habe die zeitliche Beschränkung ein Höchstmaß an poetischer Konzentration bewirkt: «Wiederum Buchen,/ am Ufer unten. Nur zwei./ Doch Riesen, selten dick und hoch,/ und straff wie eingenäht in Elefantengrau./ So glatt und gerade können sie nicht alt erscheinen!/ Und aber stumm wie nicht von dieser Welt.» Bei den täglichen fünf Minuten ist es gleichwohl nicht geblieben. Erb hat ihre Texte nachbearbeitet, in Form gebracht, mit Titeln versehen. Die Spontaneität, das Momenthafte aber ist ihnen deutlich anzumerken, vor allem zeigt sich, wie sehr Erb aus dem Klang heraus arbeitet, aus «Sonanzen». «Bistum, Blitz, blind», heißt es da, oder «harrender Farn./ Gemarteter/ Stadtpark.» Die sogenannte «Lautleite» hat Erb eigenem Bekunden nach als leidig und bevormundend empfunden. Der Leser aber merkt, dass die Dichterin nicht an lautmalerischem Spaß oder wohliger Klangharmonie interessiert ist. Der semantische Assoziationsraum wird vielmehr musikalisch geordnet. Das ist alles andere als eine «écriture automatique». Elke Erb geht es nicht um Traumzustände, sondern, «hell und schnell», ums wache, aufmerksame Beobachten: «An den Schrebergärten/ reibt sich die Blickhüfte wund.» Und was diese Blickhüfte zu sehen bekommt, ist zum Beispiel «Novemberlicht», versehen mit der Erkenntnis: «Die Blässe blutet nicht.» Von solcher Empfänglichkeit möchte man sein. Täglich fünf Minuten, das scheint kurz. Was Erb aber alles in die meist kaum halbseitigen Gedichte packt, wird dem gemeinen Flaneur nicht in fünf Tagen begegnen. Sei es ein «geil-gelber Geruch» oder «unfern das zarte/ Wegwartenblau.» Der urbane Alltag wie der Blick auf Natur gehören zu den «Aufgaben» dieser Dichtung. Aber auch der «Zeitleib» selbst wird zum Gegenstand, jene «stumm summende Unterhaut», sprich: Krankheit, Trauer und Tod. Dabei sind diese Gedichte so lebhaft, gegenwärtig und augenblicksnah wie wenig Anderes. Tröstlich-heiter lautet ihr unterschwelliger Refrain: «Morgenglocken wachgeworden». Möge er ewig erklingen. (Süddeutsche Zeitung, 1. April 2008) Zur Hauptseite |