Rahel Villinger
Gedichte als Tagebuch.
«Trost» finden in Elke Erbs «Mensch sein, nicht»



Nicht ganz bei Trost sein? Oder doch? Wie das gehen könnte, zeigt Elke Erb in ihren Gedichten und Tagebuchnotizen

Am 22. Januar 2024 ist die gro ßartige Lyrikerin Elke Erb gestorben. Ein Grund, diesen Sommer ein Buch wiederzuentdecken, in dem man zugleich Erbs Sprachkunst kennenlernen und etwas über ihr Leben erfahren kann. Gemeint ist der 1998 erschienene Band Mensch sein, nicht. Gedichte und andere Tagebuchnotizen. Erb unternimmt darin das Formexperiment, eine Gattung, in der man das eigene Leben 'aufschreibt', festhält und reflektiert (die Gattung 'Tagebuch') mit Dichtung - mit Erdichtung und poetischer Sprachverdichtung zu kreuzen. Wie schon der Untertitel ankündigt: Hier wird sich an keine strikte Trennung von ( 'hoher') Sprachkunst und ( 'niedrigen') alltäglichen Formen des Notierens und Journalschreibens gehalten. Dabei geht es um mehr als die Oszillation zwischen historischem Dokument und Literatur, zwischen Authentizität und Fiktion, die das autobiographische Genre des Tagebuchs ohnehin kennzeichnet. Aber Erb steigert das Spiel mit der Differenz und Zusammengehörigkeit dieser Pole.

Zeiten und Tage der Lyrik

Was Tagebücher als kleinster gemeinsamer Nenner bestimmt, sind fortlaufende Aufzeichnungen unter einem Datum. Auch die Titel der verschiedenen Buchkapitel bei Erb enthalten jeweils Angaben zu Zeiträumen. Sie lauten z.B.: «Zoll für Zoll, Januar bis Juni 1995». Oder: «Entgeisterter Kreis, Juli/August 1995». Zudem sind die einzelnen Gedichte und Tagebuchnotizen noch einmal jeweils gesondert datiert. Das führt die Leser:innen unmittelbar zur Frage, ob sich diese Angaben auf Zeiten von persönlichen Erlebnissen, Gefühlen oder Weltgeschehnissen beziehen, die in den entsprechenden Texten beschrieben, angesprochen oder verarbeitet werden - vulgo: Zeiten und Tage im Leben der Autorin - oder ob es nicht vielmehr (sehr genaue) Angaben zu den Tagen der dichterischen Produktion sind, an denen die Texte jeweils entstanden sind. Kurz gesagt: beziehen sich die Datierungen auf Zeitpunkte einer Dokumentation von bestimmten Welt- und Selbsterfahrungen - oder auf Zeitpunkte dichterischer Sprachgebung?
Natürlich ist auch beides zugleich denkbar, immer vorausgesetzt, man folgt der nachdrücklichen Einladung des Buchs, die Zeitangaben nicht für rein fiktional zu halten. Letzteres würde für die allermeisten der im Band enthaltenen Texte dann nicht nur bedeuten, dass sie an einem einzigen Tag verfasst wurden, sondern auch, dass dies an einem bestimmten Tag anlässlich in ebenjenen Texten beschriebenen Ereignissen, Gefühlen und Gedanken geschah.
Obwohl Tagebücher meistens genau diese Fiktion generieren, bewirkt das im Falle des Bands von Erb ein Erstaunen. Denn die meisten der darin befindlichen, in der Ich-Form verfassten Texte sind sprachkünstlerisch hochverdichtet, manchmal sogar mit einer Tendenz zum hermetisch Verschlossenen. Sie sind daher nicht umstandslos als Einträge lesbar, die einen bestimmten Tag im Leben einer Person bzw. im Lauf der Welt dokumentieren, und auch nicht unbedingt als Texte, die mal schnell so nebenbei 'notiert' werden können. Weil bei Erb dennoch beide Aspekte zusammentreffen, entdeckt sich in Mensch sein, nicht ein Leben, das zu einem gro ßen Teil aus Schreiben besteht und seine Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle und Gedanken immer auch im und durch das Schreiben macht.

Bei Trost sein

'Trost' ist ein Wort, das im Werk von Erb eine gewisse Prominenz hat. Bereits 1982 erschien eine von Sarah Kirsch herausgegebene Auswahl von Erbs Texten unter dem Titel Trost: Gedichte und Prosa. In Mensch sein, nicht hei ßt das erste Kapitel «Nun ich bei Trost bin, 1994». Auch in dem im Kapitel enthaltenen Gedicht mit dem kurzen Titel «Ach», datiert auf «Ostern (3./4.4.94)» kommen «Trost» und die Wendung 'bei Trost sein' vor, mehrmals sogar, und unter anderem in der Frageform:

Ach,
angekommen sein
Bin angekommen
endlich bei Trost
Bin ich endlich bei Trost?
Dann spitze ich den Bleistift. Der grüne Spitzer steht
auf dem Fensterbrett in der Küche rechts, bei dem Kram:
erinnere ich mich.
Der grüne Spitzer mit dem Schraubbecher
Der grüne Schraubbecher mit dem Spitzer
Nun ich bei Trost bin -
einen Moment, nicht mi ßtraue,
wie immer ja, zeigt sich da,
sonst hinter Schritten und Griffen
ich
mi ßtraue, scheu verbiestert - dies zum Hohn
in die Welt geschickt sein
(nun angekommen sein Lichtblick Luftloch bei Trost
einen Moment) –
erinnere ich mich.

«Bin angekommen / endlich bei Trost» hei ßt es hier in Zeile zwei und drei. Sogleich darauf - und diese Hin- und Her-Bewegung äu ßerster Unsicherheit und Instabilität kennzeichnet das ganze Gedicht - wird das Beruhigende des 'endlich Angekommenseins' jedoch schon wieder in Zweifel gezogen: «Bin ich endlich bei Trost?» Mit diesen und ähnlichen Formen der Frage, der Wiederholung und der chiastischen Umkehrung - vor allem durch Ver- oder Umdrehungen von Wortpositionen - wird bei Erb erörtert, was es hei ßt, «bei Trost» zu «sein». Oder genauer: «angekommen sein [...] bei Trost». Auch reflexive Spiegelungen gehören zu den dafür bevorzugten poetischen Mitteln, wie z.B., schräg durchs Schriftbild des Gedichts, die Spiegelung von seufzendem «Ach» und «ich». ' 'Bist du noch bei Trost?» lautet die bekannte rhetorische Frage, die meint, dass der oder die Angesprochene wohl «nicht mehr ganz bei Sinnen» oder «nicht mehr ganz bei Verstand» sei. Erb macht das «du» zum «ich» und die zeitliche Struktur des gerade «noch» Bei-Trost-Seins zum «endlich» (wieder) Bei-Trost-«angekommen»-Sein. Dadurch verwandelt sich die negative Abwertung, die in dem umgangssprachlichen Ausdruck liegt, in einen eher positiven, hoffnungsvollen Sinn. «Nun ich bei Trost bin» - das klingt seltsam, aber darin klingt trotzdem eher der primäre Wortsinn von «Trost» an, den Wörterbücher wie folgt angeben: «etw., das im Leid aufrichtet, das Leid vermindert, erleichtert»; «seelischer Halt, Zuversicht, Ermutigung». Folgt man der Suggestion, dass die mit «ich» angesprochene Person also wohl gern 'ankommen' möchte «bei Trost», so erreicht sie diesen Punkt, genauso wie die Erinnerung («ich erinnere mich» hei ßt es exakt zwei Mal im Gedicht), jedoch immer nur für «einen Moment». Was regelmä ßig dazwischen kommt, ist ein Mi ßtrauen. Denn «wie immer ja», wenn «ich mi ßtraue», ist der «Moment», wo «[n]un ich bei Trost bin», schon wieder vorbei.
Um der Quelle des «Trost[s]» bei Erb auf die Spur zu kommen, kommt es deshalb darauf an, genau hinzuschauen, wo der «Moment», wo «ich bei Trost bin» zum ersten Mal - und zum einzigen Mal ohne dazwischen geschobene Worte zwischen «ich» und «bei Trost», ohne Fragezeichen und ohne einschränkende Klammern - im Text steht. Das ist fast in der Mitte des Gedichts der Fall, und zwar nach Zeilen 5-9, die sich um das Spitzen eines Bleistifts drehen. Wie man einen Bleistift zum Spitzen im Schraubbecher dreht, dreht sich auch hier wieder die Wortstellung:

Der grüne Spitzer mit dem Schraubbecher
Der grüne Schraubbecher mit dem Spitzer

Es ist also die Tätigkeit des «Spitzer»-Drehens und Worte-Versetzens, die materielle Vorbereitung und poetologische Reflexion des Handwerks des Schreibens ebenso wie die konkrete Schreibarbeit an und mit den Worten, was Trost bringt. An dieser Stelle tut sich die zeitliche Dimension auf, die im Gedicht verhandelt wird - es geht darum, was vorbereitend zu tun ist, um zum Schreiben und damit zum Trost zu kommen, was dazu früher, je schon von Nöten war und was «immer ja» - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - das Schreiben aber auch verunmöglichen kann.
Die «grüne» Farbe des «Spitzer[s]» verbindet sich dabei umso enger mit dem «Bleistift», weil grün auch die Farbe von Blättern eines Baums sein kann, aus dem Bleistift und Papier gemacht sind. Und das führt nun noch auf eine weitere, ältere Bedeutung des Wortes «Trost», das mit dem Stamm «traust» auch für «Baum» steht. Weil dieser Wortstamm zudem auf das Verb «trauen» führt, tut sich hier auch die Genauigkeit des Gegensatzes von «Trost» und «mi ßtraue» auf, der in Erbs Gedicht verhandelt wird.

Performanz von Wortgeschichte

Erbs Gedichte sind performativ. Sie zeigen, wie sie gemacht sind, sie führen vor, wie in ihnen mit Sprache gearbeitet wird. Oder wie die Autorin ihre Berliner Rede zur Poesie von 2018 titelt: «Das Gedicht ist, was es tut». In Ach werden Worte und Wortverbindungen umgestellt, wiederholt oder in ihr Gegenteil verkehrt und dadurch die Entdeckung von etymologischen Schichten mit der Erinnerung - der kollektiven und der persönlichen Erinnerung - an vergangene und gegenwärtige Praktiken des Schreibens verbunden. Es führt auf die in den Environmental Humanities jüngst immer wieder betonte Tatsache, dass die Geschichte menschlicher Zivilisationen mit der Entstehung der Schrift ebenso eng verbunden ist wie mit extensiven Rodungen von Wäldern, aber auch auf kulturgeschichtliche Verbundenheit von Bäumen und Menschen, die in Bäumen Trost finden. Erb ist eine Autorin, für die Lyrik deshalb immer mit der Geschichte der Gegenwart verbunden ist.
' 'Bist du noch bei Trost?» - diese normalerweise nicht freundlich gemeinte Frage wird häufig oder vielleicht sogar meistens an Kinder adressiert. Zusammen mit dem Thema der Erinnerung, zumal der Erinnerung an einen ganz bestimmten Bleistiftspitzer, der sich in einem bestimmten Haus an einer bestimmten Stelle befindet, eröffnet der wiederholte Anklang dieser Phrase in «Ach» zunächst die Dimension der - guten und schlechten - Erinnerungen an eine Kindheit.
Durch die Arbeit an der Wendung des 'Bei-Trost-Seins', die vom «ich» nun neu und anders, nämlich positiv angeeignet wird, wird dabei Stück für Stück etwas von einem früheren Leben zurückgewonnen: Erinnerungen an frühere «Moment[e]» mit dem «grünen Spitzer» und einem Bleistift, Erinnerungen vielleicht an ein früheres Ostern, einen früheren Frühling, ein früheres Malen, Zeichnen oder Schreiben. Vielleicht auch an eine Zeit mit einem Baum, einem wirklichen (z.B. im Garten eines Hauses mit Spitzer in der Küche), gemalten oder geschriebenen «Baum».
Durch diesen Horizont von Möglichkeiten eröffnet Ach, wie alle Texte Erbs, eine mehr als nur persönliche Lesart. Damit ist gemeint: Sie verhandeln nicht - wie es z.B. Tagebücher im herkömmlichen Sinn suggerieren - das besondere Leben einer bestimmten einzelnen Person (wie der Autorin Elke Erb), sondern Fragen, die auch andere betreffen und die mit der konkreten Geschichte der «Welt» oder der Welten zu tun haben, «in» welche das «ich» oder die Leser:innen des Gedichts «zum Hohn [...] geschickt» sind.
«dies zum Hohn / in die Welt geschickt sein» - diese Zeilen sind doppeldeutig. Es kann sich hier um den «Hohn» handeln, den ein «ich», besonders ein schreibendes und publizierendes «ich», in dieser Welt vielleicht (passiv) erfahren muss. Zugleich ist in ihnen aber auch (aktiv) ein Akt des Verhöhnens vollzogen: «dies zum Hohn».
Nur äu ßerst subtil, aber trotzdem unüberhörbar deuten sich in Ach die Bezüge auf die gesellschaftlichen und politischen Realitäten der Welt an, in der Elke Erb lebte, vor und nach der Wende. Schon im Schriftbild der gehäuften «t» und Doppel-«f» («hinter Schritten und Griffen») zeigt sich das Gefängnisartige dieser Welt, in der «ich» kein «Mensch sein», weil nicht «bei Trost», nicht «bei Verstand», also kein animal rationale sein kann, sondern «scheu» und «verbiestert» eher eingesperrtes Tier. Eingesperrt vielleicht vor allem in die Verlassenheit des «ich», das hier ganz allein am äu ßersten Punkt einer ansonsten leeren Verszeile steht.
Nur die Tätigkeit des Schreibens und Publizierens ermöglicht es, dagegen anzugehen; ermöglicht, etwas an den Bedeutungen zu drehen, die Worte in dieser Welt tragen - um wieder «bei Trost» anzukommen, wieder «bei Verstand» zu sein. Wie das bestenfalls geht, kann man von den Gedichten und Tagebuchnotizen Erbs lernen: in langsamen Schritten, vorsichtig und gleichzeitig ganz bestimmt.

14. August 2024
Veröffentlicht in Geschichte der Gegenwart

(Zu: Mensch sein, nicht)