Alice Vollenweider Zanzottos Arkadien. Ein Besuch in Pieve di Soligo 14. März 2002, Neue Zürcher Zeitung Nur ein paar Freaks des Tessiner Kulturprogramms Rete due erinnern sich noch heute daran, dass man auf diesem Sender in den achtziger Jahren den berühmtesten lebenden Lyriker Italiens als Rezensent italienischer Neuerscheinungen hören konnte: Man erinnert sich an Andrea Zanzottos angenehme, helle Stimme, die gut passte zur differenzierten Klarheit seiner Hinweise auf Zeitgenössisches und Klassisches, z. B. eine neue Vergil-Übersetzung, griechische Lyrik, Linguistik, Psychoanalyse, aber auch neue Gedichtbände, Erzählungen oder Romane. Er war ein weisser Rabe unter den italienischen Literaturkritikern, weil er komplizierte Sachverhalte und Gedanken so präzis in Worte fasste, dass man sie nachvollziehen konnte und nicht wieder vergass. Er argumentierte nie selbstgefällig, nie sophistisch, liess Ausnahmen, Einschränkungen zu, gab sich als Freund der Hörer, nicht als Besserwisser, so dass einem auch die Melodie des venetischen Dialektes, der in seinem Italienisch aufklang, bald vertraut und lieb war. Im Sommer 1987 habe ich mit seinem Gesprächspartner bei Radio Lugano einen Ausflug zu Freunden in Triest gemacht; am Nachmittag wollten wir Zanzotto in Pieve di Soligo besuchen, um bei ihm zehn oder zwölf Kurzrezensionen aufzunehmen, deren akustische Qualität besser sein sollte als diejenige der Telefonleitung. Pieve di Soligo hat auf der Landkarte Italiens vermutlich nur einen festen Platz, weil Zanzotto hier am 10. Oktober 1921 geboren wurde und – mit ein paar kurzen Unterbrüchen in der Jugend – bis heute lebt. «Nur die Isolierten kommunizieren», hat er einmal gesagt und immer wieder bekräftigt, dass es ihm ausserhalb von Pieve di Soligo nicht gelinge, einen einzigen Vers zu schreiben. Die Landschaft der Provinz Treviso mit ihren Wiesen, Flüssen, Wäldern, Voralpen und den fernen Dolomitengipfeln ist in allen seinen Gedichten Schauplatz, allerdings nicht im Sinn einer Beschreibung: Schon in seinem ersten Gedichtbuch, das 1951 unter dem Titel «Dietro il paesaggio» (Hinter der Landschaft) erschien, scheitert die Sprache an den Abgründen, die sich zwischen der Realität und dem lyrischen Ich auftun, wo Landschaft und Figuren in einer ungeheuren Unordnung zerschellen und die Wörter sich um erloschene Bedeutungen drehen. Hier taucht aber auch die fruchtbare Ambivalenz auf zwischen Sinnzerstörung und Verstummen und der Suche nach einer neuen Kommunikation des Ichs mit der Welt, wo die Sprache keine Mittel der Erkenntnis mehr sein will, sondern nichts als eine Form des Kontaktes, ein Umschreiben, Umringen, Festhalten, Nicht-Wieder-Loslassen. Die poetologische Reflexion über Sprache und Dichtung fesselt den Leser, weil sie ihre Suggestion erst im Aufspüren und Erfassen von Zusammenhängen entfaltet. Natürlich hat die einst bukolische Landschaft von Zanzottos Arkadien in den letzten fünfzig Jahren durch Landflucht und Industrialisierung viel von ihrem Reiz verloren. Wer nicht den Dichter besuchen will, hat keinen Grund, Halt zu machen in diesem gesichtslos-banalen Strassendorf, zwischen versengten gelben Sommerwiesen und Hügeln, die im Dunst der schwülen Hitze verschwimmen. Und plötzlich bricht ein Gewitter los und fegt die wenigen Passanten von den Strassen, so dass wir ziemlich ratlos anhalten. Zum Glück nicht weit vom Vordach, unter dem Zanzotto nach uns Ausschau hält. Er trägt eine saloppe helle Jacke aus bäurischem Halbleinen und fragt etwas unwirsch, wo wir denn unsere Schirme hätten. Pieve di Soligo sei das Gewitterzentrum der ganzen Gegend, hier brauche man immer einen Regenschutz, während in Treviso, Conegliano, Vittorio Veneto und anderswo ununterbrochen die Sonne scheine. Sein Psychoanalytiker vermute in diesem meteorologischen Phänomen einen Zusammenhang mit dem Grundwasser des Soligo, dem lokalen Zufluss des Piave, der noch heute durch die riesigen, an die Schlachten des Ersten Weltkriegs erinnernden Knochenfelder mäandere. Dann führt er uns ins Haus. Nicht in die einladend geräumige Wohndiele zu ebener Erde, sondern die Treppe hinunter ins Kellergeschoss, durch einen schmalen Gang in einen fensterlosen Raum, verstellt mit ungebranntem Töpfergeschirr, und zeigt uns seinen Arbeitsplatz am Tisch. Hier schreibt er mit feinen Pinseln eigene Verse auf die Schalen und Teller, die seine Frau herstellt. Die andere Hälfte des Tischs ist für die Radioaufnahme reserviert, und erst später begreifen wir, dass Zanzotto die stickige Arbeitshöhle mit ihren trüben Lampen vor allem aus technischen Gründen gewählt hatte: Die Aufnahmen sollten akustisch perfekt und ohne Störung durch Donnergrollen, Regengeprassel, Autohupen oder Hundegebell gelingen. Die perfekte sprachliche und gedankliche Form garantierte er selber mit seiner Geistesgegenwart, seiner geschmeidigen sprachlichen Eleganz, die stets auf die Aufmerksamkeit eines Radiohörers zielt. (Die meisten dieser Rezensionen sind später, erweitert und umgearbeitet, in den beiden Bänden «Scritti sulla Letteratura» erschienen, die vor kurzem bei Mondadori neu herausgekommen sind.) Sein Vorgehen ist souverän. Er öffnet die Bücher, die vor ihm liegen, fast nie; ein Blick auf den Einband genügt ihm, das Wesentliche sofort präsent zu haben; am Ende der Rezension legt er das Buch auf die rechte Seite, macht eine kurze Pause und nimmt dann das nächste Buch für einen Augenblick in die Hand. Seine durch nichts zu erschütternde Konzentration hat fast etwas Beklemmendes. Gegen fünf Uhr bringt uns seine Frau Kaffee in zierlichen Porzellantässchen, und Zanzotto zeigt sich gesprächsbereit – vielleicht, weil ihm unsere Frage nach dem Verhältnis von Italienisch und Dialekt im Alltag von Pieve di Soligo gefällt. Ein halbes Leben habe er wie alle Dorfbewohner im – nicht kodifizierten – linguistischen System des Dialekts gesprochen, aber kaum je geschrieben. Nur als regressiven Urgrund habe er schriftlich Einsprengsel aus dem heimischen Dialekt verwendet oder sei noch weiter zurück zum Vorsprachlichen, zum Gestammel, zur Aphasie zurückgegangen. Seine ersten venezianischen Verse habe er für Fellinis «Casanova»-Film geschrieben: zwei Texte, die beim ersten Hinhören wie Volkslieder anmuten. Aus dieser Zusammenarbeit sei eine Freundschaft fürs Leben entstanden; und für sein Schreiben eine intensivere und konkretere Bindung an die Welt. Er habe den verlorenen Reichtum oder – wie Fellini sagen würde – die mütterliche Lebensquelle der Sprache als Inspiration wieder entdeckt. Auch für «La nave va» und «La città delle donne» habe er mit Fellini gearbeitet. Als wir das Kellerzimmer endlich verlassen, erglänzt Pieve di Soligo im schönsten Abendlicht. Frau Zanzotto führt uns zum Gartentisch, auf dem ein Abschiedsgeschenk auf uns wartet: roter und weisser Wein aus der Umgebung, vom Nachbarn gekeltert. – Dem ereignisreichen Tag folgt eine beunruhigende Nacht, durchwebt vom Verdacht, dass Zanzottos Gedanken nicht nur Gewitter anziehen, sondern auch Wein zum Gären bringen. Gegen zwei Uhr weckt mich der Knall eines Korkens. Vergeblich versuche ich weiterzuträumen: Als es zum fünften Mal knallt, ist es im Wohnzimmer schon so hell, dass ich sehe, wie die Flaschen aus Pieve di Soligo korkenlos in ihren Kartons stehen. Die ganze Wohnung riecht nach dem leicht süsslichen Duft des geschenkten Weissweins, der die heisse Sommernacht nicht überstanden hat. Nur drei Rotweinflaschen sind unversehrt geblieben. Wir haben sie auf Zanzottos Wohl getrunken. |