Andrea Zanzotto Versuche und Erfahrung mit Dichtung (Aufblitzende Poetiken) Den eher flüchtigen, um nicht zu sagen naiven Titel einer früheren und entschieden provisorischen Betrachtung habe ich gewählt in Hinblick auf diejenigen Poetiken, die von den mit Dichtung Experimentierenden sozusagen von Augenblick zu Augenblick entwickelt werden. Das schließt nicht aus, daß deren Ergebnisse, trotz ihrer Vorläufigkeit, dazu neigen, sich als Andeutungen eines "Systems", als Andeutungen einer mehr oder weniger philosophischen Autorisierung zu geben. Und es schließt nicht aus, daß in dieser Autorisierung die verschiedenen gradus ad Parnassum einen genau bestimmten Stellenwert einnehmen und daß sich die Modalitäten und Gesetze der poetischen Erfindung abzeichnen. In Wirklichkeit ist ja der, der die Dichtung anscheinend geschrieben hat, am wenigsten autorisiert, über sie zu sprechen. In dem Augenblick, in dem er über die eigene Vorgangsweise und über das eigene Sich-Hinschleppen zu "jenen" Zonen spricht, befindet er sich immer nur im Rang eines "Freundes der Dichtung". Darüber kommen viele nicht hinaus, die als Dichter angesehen werden. Freund: er ist einer, der vielleicht mit einem Bein im Tempel. drinnen steht, aber mit dem anderen steht er sicher draußen; insgesamt steht er vielleicht mehr draußen als drinnen. Und dennoch ist er einer, der den Versuch wagen "mußte" und der, um sich in diesen Erfahrungsversuchen zu autorisieren, die mehr oder weniger deutlichen, "aufblitzenden Poetiken" erarbeiten mußte. Es gibt also den, der die 'Versuche' macht und sie, von irgendeiner Regung bewegt, wiederholt und damit obendrein eine "produktive" oder "kreative" Erfahrung machen will; diese Erfahrung verbindet er dann mit der Idee und einem Akt der Strukturierung oder Anhäufung von Worten, mit einer Art, die Sprache zu verwenden und dabei gleichzeitig zu überprüfen: Im Umfeld solcher Begriffe könnte Dichtung sich ereignen/bewahrheiten. Die anfängliche Regung, die solchem Verhalten zugrundeliegt, kommt aus dermaßen fernen und tiefen Bereichen, die - im Impuls der Selbstbehauptung - allem Lebendigen gemein sind. Im vorliegenden Fall scheint die Regung verbunden zu sein mit der Hochheiligkeit und gleichzeitig mit der Erbärmlichkeit des Neugeborenen, der zu wimmern beginnt. Er versichert sich auf diese Weise der eigenen Existenz und versucht dann eine Vermittlung zum anderen, zu den anderen. Vielleicht tritt er mit diesem Wimmern in gewisser Weise in die Zonen ein, in denen das Ich sich von der Welt zu unterscheiden beginnt. Mit dem ganz neuen - sich formenden - Ich enthüllt sich eine ewige "Lust des Anfangs" (auf die ich mich in meinen Schriften oft bezogen habe), eine Lust auf etwas, das vorher, 'diesseits' des Lustprinzips steht. Jedesmal, wenn etwas Lebendiges erscheint, "empfindet es Lust daran", zu erscheinen, irgendwie, und dadurch rechtfertigt es sich vor sich selbst, nimmt es sich an. Man müßte also vom Postulat einer bestimmten "Lust" ausgehen, die das Sein am Sein hat: Von dieser Lust des Anfangs kommend verzweigen sich die verschiedensten Regungen (und zwar in einem Rahmen, der auch von Widersprüchen lebt): Dennoch neigen diese Regungen dazu, "Kerne von Überleben" festzustellen und in Kraft zu setzen, die durch dauernde beharrliche Wiederholung aktiviert werden. So geschieht es in jedem Schöpfungsakt; in der Kunst ist dieser Schöpfungsakt gleichbedeutend mit einem unbezwingbaren Drang, der auf eine Form von Lob oder befreiendem Spiel gerichtet ist oder auf eine Form von "Therapie", die auf Erneuerung/Erfindung gründet. Im poetischen Prozeß scheint der Wunsch nach einer Art absolut erschöpfenden Kommunikation mit den anderen und mit der Welt überzufließen; diese - die anderen und die Welt - werden wiedereingebunden in das intime Gewebe des Ich, und zwar mit Hilfe einer Halluzination von größter Anziehungskraft, mag sie auch ganz getrübt sein von den Konventionen, nämlich mit Hilfe der Halluzination von der Macht der Sprache. Warum aber hat das Sprechen, die Sprache soviel Bedeutung in diesem universellen Prozeß von "Belebung"? Weil sie nicht nur als Stimme, als Phoné, sondern auch als Sprache/Rille in der Luft, als Zeichen/Bewegung der Gliedmaßen (also als Spur, als graphisches Faktum) die Totalität des Lebens von Körper/Psyche zusammenfaßt. Diese Anwesenheitsbezeugung eines Wesens, das sich selbst und den anderen in harmonischen (oder disharmonischen) Bewegungen zeigt, neigt dazu, gerade weil die Anwesenheitsbezeugung Logos/ Sprache ist, im höchsten Grad des Ausdrucks "in Sprache" zu bleiben. Daß diese Erfahrung in den allerersten Stadien des Erlebens wurzelt, ist dadurch bewiesen, daß in ihr ein Element des Traums - mehr oder weniger des Wachtraums - enthalten ist, das sich jedoch dauernd übertrifft im Gefühl der Verwirklichung eines Geplanten. Das Unbewußte erzeugt sich beständig, indem es Bewußtheit und "Wachzustand" mitreißt und somit eine Art von - nach vorne verschobenem - Hyperwachzustand aktiviert. Jene, die, nennen wir es "ein Gedicht", geschrieben haben, haben sehr oft, glaube ich, das klare Gefühl einer Zäsur gehabt zwischen dem Moment, in dem sie dachten, das Gedicht schreiben zu können, dem Moment, in dem sie es gleich danach geschrieben gesehen haben, und dem Moment, in dem sie zu Lesern der eigenen Verse wurden oder gegebenenfalls auch zu jenen, die Poetiken oder Theorien über die Dichtung erarbeiten. Sie überspringen aber diese Zäsur - oder mehrfachen Zäsuren - vor allem dank der obengenannten aufblitzenden Poetiken, die zugleich ein Leuchten von Bildern sind, von Bildern, die in die Theorie abfärben und umgekehrt. In diesen Vorgängen ist am wichtigsten und bezeichnendsten, daß die Dichter (oder besser die Freunde der Dichtung), ob sie nun eine eigene präzise Poetik, ausformulierte Gesetze für ihre Erfindungen, abfassen oder nicht, die aufblitzenden Poetiken, d. h. die minimalen, maximalen Selbstrechtfertigungen oder "Enthüllungen", überall in ihren Texten verstreuen, sie zugleich verheimlichen, wie gewisse Tiere etwas verstecken, die Eichhörnchen zum Beispiel das, was sie an Wertvollstem sammeln, nämlich die Nahrung, oder die Katzen, was sie an weniger Wertvollem "erzeugen". Derjenige, der vom Neugeborenen (infans) zum Sprechenden (fans) geworden ist und darüber hinaus noch ein Tier mit Logos geworden ist (wer weiß, was dieses Tier ist, das den Logos "besitzt"; und was heißt, den Logos "besitzen"?) und der sein Sagen in den Bereich gelenkt hat, den er als den eigentlichen Bereich der Dichtung empfindet, der hat außerdem noch den Sprung in die Leere riskieren müssen, in einen Mangel, in eine Zäsur, in einen Riß. Damit gerinnt alles Vorhergehende, alle Regungen, das Gären, das "Unbehagen", das Übermaß an Enthusiasmus oder Leiden oder gar an "Gleichgültigkeit/ Spiel" plötzlich zu einem (womöglich) "poetischen Ausdruck", und dieser poetische Ausdruck wird begleitet und ergänzt von einer Mikropoetik, die als Gleichgewichtsachse über dieser Leere gedient hat. Diese Achse, oder Achsen, mit wenigstens zwei Aspekten (dem theoretischen und dem phantastischen), werden im Text sozusagen wiedereingesetzt und kristallisiert. Es ist auf jeden Fall sehr unwahrscheinlich, daß man von diesem genauen Moment sprechen kann, in dem sich die chemische Präzipitation, die Katastrophe oder der Kurzschluß ereignet haben. Auf gerade den Kurzschluß hat sich Maria Corti bezogen als auf eine Metapher, die von vielen Dichtern verwendet wird, um den eigenen 'kreativen Prozeß' zu beschreiben. Man könnte sagen, es handelt sich dabei um das Über-Springen der Gestalt, in dem alles sich fügt und vollendet und integriert wird in eine ungedachte Einheit. Kurzschluß ist zudem ein Ausdruck, der auch eine negative Konnotation hat: und zwar die Konnotation vom Durchbrennen der Sicherung. Das erzeugt ein blitzendes Licht, eine (hoffentlich) wunderbare Flamme, aber vor allem auch vernichtet und unterbricht der Kurzschluß die Kreise, die dazu dienten, den Vorgang zu planen, er stößt sie ab, verwischt ihre Spur. Auch wenn die Stromkreise als Fragmente, als Splitter, auffindbar bleiben. Vom höchsten Punkt der Erfahrung kann man also nicht erzählen, oder nur wie man Träume erzählt (wie es auch Luigi Malerba behauptet), oder von einer Leere, vom "ganz Anderen", im radikalsten Sinn. Dieser Moment von Zerstörung/Überwindung (oder Sublimation?) kann auch als eine Art von Miniorgasmus gefühlt werden, der eine "Unterbrechung der Bewußtheit" mit sich bringt (wie es beim Niesen geschieht). Also: "Niesen", Automatismus/Geste, notwendig und gleichzeitig kindisch-ungeschickt. Und darüber hinaus "Orgasmus", ein Begriff, der mit der Raserei verbunden ist, mit der Atemnot oder gar mit der Impotenz... Es scheint notwendig, den poetischen Prozeß Phänomenen anzunähern, die um einen Widerspruch kreisen, um eine Verzückung, die mächtig (Potenz) sein möchte, aber unter gewissen Aspekten eine Machtlosigkeit (Impotenz) dokumentiert. Franz Kafka hat Aufschlußreiches über den kreativen literarischen Prozeß geschrieben, der empfunden wird als freudig transgressiver Impuls (fast sexuellen Charakters) und dennoch nur den Zorn und den furor verdeckt. Diese wiederum stammen vielleicht vom Neugeborenen (infans), oder besser von dem Tier, das noch nicht oder niemals den "vollkommenen" Logos besitzen wird und das seinen Logos auf eine einfache Anwesenheitsäußerung reduziert, auf ein Winseln, in dem sich vielleicht sämtliche verstümmelten Diskurse gesammelt finden, sämtliche auf Ausrufe reduzierten Vernunftleistungen. Daraus zieht jede Art von Ausdruck - von der Göttlichen Komödie bis zur Zeichnung auf der Mauer - ihre erbärmliche Autorität als "Natur", unter dem Vorbehalt, daß jeder Leser/Gesprächspartner das Risiko einer Auswahl eingehen muß, das Risiko, einen ins Auge springenden Wert anzugeben. Der "durchschnittliche Leser" scheint am geeignetsten dafür zu sein, sich zu beteiligen und seine Meinung zu sagen. Aber wer ist dieser? Ist der durchschnittliche Leser von Riffaterre derselbe wie der von Cohen? Oder ist er der "lector in fabula" von Eco? Es scheint sich um sehr verschiedene Personen zu handeln; und doch gibt es den durchschnittlichen Leser auf irgendeine Weise, er ist wohl niemand anderes als die Urform des privilegierten Lesers, also die Urform des Kritikers. Aber auch der Autor ist aufgerufen, durchschnittlicher Leser zu sein, gegebenenfalls auch Kritiker seiner eigenen Texte. Wird er in dieser Rolle etwas besonderes zu enthüllen haben? Oder wird er nicht eher - wie bereits gesagt - weniger vertrauenswürdig sein, weil es nämlich eine anfängliche Verzerrung gegeben hat, als er - unbewußt - den Text mit Schlüsseln ausgestattet hat? An diesem Punkt taucht auch die Gesamtheit an Zirkelschlüssen auf, die typisch sind im Zusammenhang mit der Sprache - im Gegensatz zu den reinen Farben oder dem Stofflichen und im Gegensatz zu den reinen Klängen, in Malerei und Musik. Dichtung - aus Worten, die Instrumente des Alltäglichen und gleichzeitig Konkretion von soziohistorischen Spuren sind - befindet sich in erster Linie "innerhalb" einer bestimmten Sprache, mehr noch, sie ist deren wahre idiomatische Seele. Sie verweist nicht bloß auf die extreme Besonderheit "jener" Sprache, die etymologisch gesehen als Idiom Ausdruck einer einzigen ethnischen Gruppe ist. Vielmehr drückt sie (geradezu vorbildlich) die Eigenart des Idioms aus, nämlich das 'Idion', das berufen ist, als Einzigartigkeit in der Dichtung aufzutauchen und somit "erwählt", "erkoren" zu werden. Die Sprache hat in sich die unendliche und notwendige Selbstliebkosung und die narzißtische Verhärtung der ethnischen (oder einer anderen) Gruppe: das, was sich dann als Barriere wiederfindet, die Unmöglichkeit der restlosen Übersetzung. Diese narzißtische Selbstliebkosung, die schon in der Idee des Idioms verankert ist, führt - wiederum notwendigerweise - dazu, in der Sprache - und zwar in jeder - sich einerseits Paradiese autistischer Art vorzustellen, andererseits (letztlich wiederum rückführbare) Eden - und Pfingsthalluzinationen, die beide allerdings fern der tatsächlichen Brutalität "dieser" Sprache sind. "Diese" Sprache ist nämlich unüberwindliches, unverrückbares Ereignis /Konvention, und jeder Audruck in jeder "historischen" Sprache stürzt in sie, vor allem gerade das, was man Dichtung nennt. Jeder Versuch im Bereich der poetischen Erfahrung ist folglich mit "Sprache als Risiko" verbunden, damit ist nicht nur die Notwendigkeit gegenwärtig, die "Frequenzen", die innersten "Stimmen" dieser Sprache, die ihr innewohnenden Strömungen und Wirbel zu fühlen, sondern auch das Bewußtsein, daß alle diese Kräfte im selben Vorgang, in dem sie die Sprache bilden, sie auch wieder "verschließen" und innerhalb des babylonischen Schemas die Sprache zum Feld der Ausschließung, der Fragmentierung machen. Darum lebt in jedem Dichter die Nostalgie nach einer Sprache, die universal sein soll und nicht "idiomatisch", auch wenn sie trotzdem immer noch "mütterlich-eigen" ist. In diesem Spannungsfeld ist es das Schicksal der Dichtung, sich als bloßer Signifikant zu äußern, der ein gewaltiges Spiel der Signifikanten stützt, aber im Gegenzug unbeherrschbare, unendliche Nostalgien nach Signifikaten ausgräbt, die Dichtung ist wie ein flatus vocis, innerhalb dessen sich aber ein dermaßen weites Sinnfeld stiftet, daß es im Freudschen Sinn "verstörend" wird. Einer, der ausgehend von der Idee des Heimlichen, Häuslichen, des Zu Hause, in der eigenen Muschel Bleibens "Dichtung" sagt, der findet unmittelbar hinter sich dann die 273 Grad unter Null des kosmischen Raums, der absoluten Fremdheit. Das kommt auch daher, weil alles, was einen Mikrokosmos, vor allem in sprachlicher Hinsicht, ausmacht, zu unmöglichen Funktionen des Makrokosmos drängt: ein unumgänglicher Vorgang. An diesem Punkt wird es noch schwieriger, zur Frage nach der Entstehung von Dichtung zurückzukehren, zur Dichtung als Versuch und Erfahrung, die einen Text, ein Objekt hat entstehen lassen. Was die Autoren betrifft, die sich in "jenem" Augenblick "beholfen" haben, indem sie "jenen" Text geschrieben haben: Sie bringen eine vollkommen zerfaserte Serie von Indizien, von "aufblitzenden Poetiken" hervor; aber vielleicht verweist jeder einzelne Punkt des Gedichts auf diese oder ist aus ihnen gebildet. Der Dichter wird Indizien des "Idioms" seines Schaffens geben, während er zugleich das von ihm verwendete historische Idiom zu einer/gegen eine Grenze der Idiomatizität/Besonderheit drängt. Vittorio Sereni wußte in "Gli immediati dintorni" (Die unmittelbaren Umkreise) grundsätzliche Dinge dazu zu sagen, und er hat dann für sein letztes Werk einen der hellsichtigsten Titel gewählt, die man einem Lyrikband geben kann: Stella variabile (Veränderlicher Stern). Der Ausdruck verbindet ihn in gewisser Weise mit René Char, wie man bei Stefano Agosti lesen kann. Und wir kennen den Gegensatz und die fruchtbare Affinität, die zwischen Char und Sereni bestand. Eine ganze Poetik mit all ihren Regeln drückt sich in dem Syntagma 'Stella variabile' aus. Der veränderliche Stern ist eine hohe Metapher, die dem beständigen Schwanken der nicht abgesicherten Poetiken des Dichters gleicht. Es wäre interessant, mit diesem Schlüssel die verschiedenen Kategorien von veränderlichen Sternen zu untersuchen; vielleicht würde daraus eine ganze Phänomenologie der nach bestimmten Arten von Sternen katalogisierbaren Dichtung entspringen... und zwar ausgehend von jenen Sternen, die in Wirklichkeit aus zwei Himmelskörpern bestehen, von denen der eine den anderen (wie in der Eklipse) auslöscht, bis hin zu jenen, die pulsieren, mit einer gewissen Regelmäßigkeit von einem Leuchtgrad zum anderen übergehen, bis weiter zu jenen, die dazu beitragen können, die anderen, nichtveränderlichen Sterne besser kennenzulernen, und letztlich bis zu jenen, die zu der Kategorie der Novas und Supernovas gehören, die Explosion, der "Kurzschluß" par excellence, und so weiter. Die Dichtung kann wie ein Fixpunkt von "pulsierender" Stabilität erscheinen, stabil, indem sie eine poetische Logik (mit Verbindung zu allen Formen von Logik) einschließt aber dennoch "unglaubwürdig" im beständigen Wechsel ihrer Leuchtkraft. Unglaubwürdig als Erkenntnistatsache, die sich außerhalb der Dichtung befindet, oder besser außerhalb des Werks eines einzelnen Autors, und die ein der Erfindung zugrunde liegendes Gesetz erkennen läßt, das sich nicht letztlich mit Jenem Textprozeß" vermischt. Hier kehrt das alte Sprichwort wieder, demzufolge die Dichtung immer von sich selbst spricht, auch wenn sie glaubt, von anderem zu sprechen - trotzdem kann sie, um mit sich selbst zu sprechen, nur existieren, indem sie zum anderen und vom anderen, von allem spricht. Jetzt möchte ich nur noch an einige der versteckten "Poetiken", Mikrotexte, Lesehinweise, Mikropoetiken und Spuren von Erfindungsprozessen erinnern, die beispielhafte und keimfähige Zellen sind, in denen sich die Begründungen für ein ganzes Werk zeigen. Man kann hier zum Beispiel an Dante denken. Das, was ihn in seinem "Paradies" zu Gott hinführt, zum Mittelpunkt des Kosmos, des Makrokosmos, scheint ihn gleichzeitig zu verkleinern, es macht ihn winzig, kindlich und stößt ihn immer tiefer in seinen eigenen Mikrokosmos hinein, bis an einem bestimmten Punkt sich eine versteckte Poetik in den neun Versen am Beginn des XXV. Gesangs des "Paradies" zu verdichten scheint, eine unausgesprochene Poetik, aber vielleicht war sie der eigentliche Mechanismus, durch den sich das ganze Monstrum erzeugt hat: Se mai continga che'l poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra, si che m'ha fatto per più anni macro, vinca la crudeltà che fuor mi serra del bello ovile ov'io dormi' agnello, nimico ai lupi che li danno guerra; con altra voce omai, con altro vello ritornerò poeta; ed in sul fonte del mio battesmo prenderò 'l cappello; Wäre, daß das heilige Gedicht, jenes aus der Hand von Erde, Himmel, das mir die Jugend Jahr um Jahr zerbricht, die Grausamkeit besiegte, die mich nimmer zu den Schafen, als Lamm, zum Schlafen nicht mehr in den schönen Stall zurückkehren läßt, seit im Krieg der Haß der Wölfe spricht: ich käm am Taufort dann zum großen Fest, um meine Dichterkrone zu empfangen; Wozu dieses ungeheure Unterfangen? um wieder, wenn auch nicht Lamm im Stall, so doch embryonale Zelle im Uterus zu werden: Der Vers "del bello ovile ov'io dormi'agnello / zu den Schafen, als Lamm, zum Schlafen nicht" ("bello" reimt sich auf "agnello" / "Schafen" reimt sich auf "Schlafen") ist präzise in eine Kreisbewegung eingeschlossen, und auf verschiedene Weise klingt darin das Thema des Eies an, während die Gegenwart der i-Laute wie ein Wimmern ist (in der Übersetzung a-Laute - mütterliche Laute?). Es scheint fast so, als ob die Gegenwart Gottes, des höchsten Begriffs, die bald im Mittelpunkt der Mystischen Rose erscheinen wird, vom winzigen, aber spiegelbildlichen Triumph des Dichter-Ichs vorweggenommen wird, eines Ichs, das sich genau in der Mitte des fünften Verses befindet ("io/Lamm"), der seinerseits das Zentrum des Incipit bildet (neun Verse, vier plus eins plus vier). Wenn man auf einen unserer modernen Dichter verweisen will, findet man bei Umberto Saba ein weiteres einzigartiges Beispiel. Mario Lavagetta hat einen sehr schönen Aufsatz mit dem Titel "La gallina di Saba" (Das Huhn von Saba) geschrieben; in einer psychoanalytischen Deutung erklärt Lavagetto, warum Saba das Huhn in beinahe mystischer Weise empfindet, nämlich mit solcher Intensität, daß er die eigene Ehefrau vor allem mit einer weißen Henne vergleicht (eine Metapher, die wie auch die ihr folgenden Metaphern in Bezug auf die Ehefrau, vor dem Hintergrund und dem Spektrum einer Zwölfton-Ironie, lieblich verstimmt klingt). Saba erinnert uns an Chagall, der Engel malt, die Hühner sind, aber doch Engel bleiben, im Himmel umherfliegend, und an den Chagall der vielen anderen mehr oder minder mythischen Tierformen. All das schließt wieder an die Vertrautheit und die Mythisierung im Umgang mit den Tieren an, die heute fast überall verschwunden ist und die grundlegend war für einen reichen und ausgeprägten Wirklichkeitsbezug. Saba gelang es in diesem Gedicht, nicht nur die eigene Poetik zu formulieren, sondern auch seine Vorstellung von "poetischer Pleiade", einer Pleiade, wie letztlich nur er sie empfinden konnte, er als armer und ewig geschlagener Mann in einer verfluchten Epoche. Unter dem Namen Odone, in der Erzählung La Gallina (Das Huhn), erzählt Saba von einem Kindheitserlebnis: nämlich davon, daß er ein kleines Huhn besaß, das er besonders liebte. Aus dieser Kindheitserfahrung herrührend durchdringt das Thema dieses bescheidenen Geflügels die Dichtung Sabas bis in die feinsten Metamorphosen. Ich erinnere mich gerne daran, daß auch ich selbst (wie viele andere aus unserer Generation, die die Hühner im Hof und in der Küche herumlaufen gesehen haben) ein eigenes kleines Huhn hatte, das von meiner Großmutter gefüttert wurde und das "Schittabùria" hieß (etwa: Groaßfetzatr/Siebenscheißer), ein guter Name, der die Idee des jeden Tag regelmäßig gelegten Eies andeutet, regelmäßig wie das Kacken (lo schitto). Dinge aus vergangenen Zeiten. Und diese Zuneigung zu den Tieren, die beinahe als Verwandte empfunden wurden, wurde dann von einem Drama überschattet: warum und wozu sie getötet wurden (vor allem die Kinder fühlten das). Nun gut, Saba bezieht aus jener Art von Glucken, das die Hühner in den Ställen beim Herabsinken der Nacht machen, nicht nur die Anregung zu seiner Poetik, sondern darüber hinaus zu einer Pleiade, zu einer Gemeinschaft der Dichtung: Quando la sera assona le gallinelle, mettono voci che ricordan quelle, dolcissime, onde a volte dei tuoi mali ti quereli, e non sai che la tua voce ha la soave e trista musica dei pollai. (eine Zeile fehlt) die Hühner schläfrig macht, geben sie Stimmen von sich, die manchmal erinnern an die sanftesten Wellen in deinem Schmerz, du wimmerst, vergißt, wie sehr deine Stimme traurige milde Musik ist aus den Ställen der Hühner herüber. Werden die Stern-Pleiaden übrigens (bei Pascoli) nicht auch "Galligere" (Hühner) genannt? Ich möchte, um diese flüchtigen Andeutungen abzuschließen, ein letztes, aber vielleicht das höchste Beispiel anführen; es stammt von Giacomo Leopardi. Die furchterregende heilige Hymne, die von den Toten im Arbeitszimmer des Doktor Ruysch gesungen wird - sie ist vielleicht das schönste Gedicht Leopardis -, dient als Präludium zu dem von schwarzem Humor erfüllten Dialog zwischen dem Wissenschaftler und den Mumien. Die allumfassende Frage, aus der jede Dichtung entsteht, um sich als perspektivischer Punkt innerhalb des Lebens, als Artikulationspunkt im Leben, des Lebens überhaupt, zu setzen, diese Frage wird im Umkreis des Komischen in tragischen Begriffen aufgeworfen. Keines der beiden Elemente hebt das andere auf oder schließt es aus. Im Gegenteil, in einem bestimmten Bereich treffen sie sich. Und in drei Versen taucht die aufblitzende Poetik, oder die ARS POETICA, oder Leopardis "Lehre vom Fragen" auf: Che fummo? Che fu quel punto acerbo che di vita ebbe nome? Was waren wir? Was war jener bittere Punkt der den Namen Leben hatte? Bitter - Punkt - Name - Leben. In dieser Reihe von Syntagma-Fragmenten steckt das ganze Werk Leopardis. Gleichzeitig läßt sich eine allgemeingültige Form von Lehre/ Nicht-Lehre erkennen, die mehr denn je wirksam ist. Die Dichtung Leopardis, die Dichtung aller mehr oder weniger ernsthaften Freunde der Dichtung, Dichtung seit jeher ist eine Form von Selbstbefragung und Selbstdefinition innerhalb von Ursprung und Ende (auch im Sinne von Zweck) des Lebens und der Dichtung selbst, allerdings nur indem sie sich als unkontrollierbarer Tick äußert, als undeutlicher Umriß, als widersprüchliches Murmeln, das sich nur wenig oberhalb des Nichts bemerkbar macht, aber doch anmaßend ist, als könnte es ein Ganzes buchstabieren. (Aus dem Italienischen von Donatella Capaldi, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse) Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor |