Maike Albath

Die Vollkommenheit der Schneeflocke

Andrea Zanzottos Gedichtband «La Beltà» auf Deutsch



14. März 2002, Neue Zürcher Zeitung

Wie manchmal in Italien kommt das Neue von den Rändern der Republik. In Pieve di Soligo, einem kleinen Ort in Venetien, arbeitet in den Jahren des italienischen Wirtschaftswunders ein Lehrer an seinem vierten Gedichtband. Unter Eingeweihten ist Andrea Zanzotto längst kein Unbekannter mehr, aber als die Sammlung «La Beltà» im April 1968 herauskommt, wird er plötzlich landesweit berühmt. In allen grossen Tageszeitungen bespricht man die aufsehenerregende Publikation, Eugenio Montale schreibt im «Corriere della Sera» eine Eloge, enthusiastisch macht sich die Literaturwissenschaft über den Band her, sogar im «Times Literary Supplement» und in «Le Monde» erscheinen Rezensionen. Vor allem Anhänger avancierter Sprachtheorie und lacanianischer Psychoanalyse stürzen sich begierig auf die hochkomplexen Texte – endlich ein Triumph der Signifikanten, endlich ein veritables Gleiten des Signifikats, endlich ein Beleg für ihre Theoreme.

In der Tat sind die Gedichte der «Beltà» ungeheuer schwierig, und die Heidegger’sche Formel – «die Sprache als Sprache zur Sprache bringen» – passt zu den Textbewegungen. Zanzotto hat die Psychoanalyse am eigenen Leib erprobt, das vor- bewusste Sprechen ist ein Scharnier seiner Gedichte, die dennoch eine grosse Konkretion besitzen. Das lyrische Ich operiert unter der Ägide Dantes, der gleich im Eingangsvers des Proömiums zitiert wird: Es geht um die Suche nach dem Wahrhaftigen. Wie beim assoziativen Sprechen in der psychoanalytischen Redekur ist das Zentrum fortwährend spürbar – es wird umkreist und ex negativo heraufbeschworen. Zanzotto formt eine Art Sprachmagma aus Anspielungen auf die illustre Lyriktradition von Dante über Tasso bis zu Leopardi und Pascoli, aus Zitaten eigener Texte, Werbeslogans, Produktnamen, Schlagern und Filmen. Die Landschaft, seit dem Frühwerk letzter Hort des Ursprünglichen, ist nunmehr infiziert von den Folgen der Zivilisation. Das Schöne überlebt höchstens in Form einer verkapselten Zyste. Den materiellen Charakter der Sprache inszeniert der Dichter, indem er englische Begriffe verwendet, comichafte Interjektionen, stotternde Wiederholungen, Alliterationen, Reihungen von verwandten Vokabeln, falsche Etymologien und isolierte Prä- und Suffixe. Wie eine Stimme aus dem Off wirken die Fussnoten, mit denen Zanzotto zu seinem eigenen Exegeten wird.

Eine sprachphilosophische Interpretation der «Beltà» greift viel zu kurz. Schliesslich handelt es sich um ein stark autobiographisch geprägtes Buch; immer wieder tauchen Sinninseln auf, thematische Substrate, Mikrogeschichten, sogar Figuren aus dem Dorfalltag wie der – tatsächlich existierende – Bauer Nino. Wie in einem architektonischen Bauwerk, das im Verlauf mehrerer Jahrhunderte entstand, überlagern sich in jedem Gedicht mehrere Schichten; jeder Vers birgt eine ungeheure Dichte an Anspielungen, Bezügen auf frühere Texte und theoretische Hintergründe. Der Bedeutungsradius eines Motivs wie «Insekt», «Blut» oder «Schnee» reicht bis in die fünfziger Jahre zurück.

Danteske Wanderung

Mit dem sprachzerstörerischen Gestus der italienischen Neoavanguardia, gegen deren ideologische Schlagrichtung Zanzotto schon 1962 heftig polemisierte, hat seine danteske Wanderung durch die allmählich schwindende venetische Landschaft nichts zu tun. Sein Ich richtet sich an ein ungreifbares Objekt und vermutet das Wahre, Absolute immer jenseits des eigenen Standpunktes. Dieses Absolute nimmt aber ganz konkrete Formen an: Es kann das weibliche Geschlecht sein, das Gedicht an sich, die lyrische Tradition, die Mondgöttin Diana, die Restbestände der Landschaft oder der perfekte Kristall der Schneeflocke. Eine traumatische Kriegserfahrung – in einem Maisfeld verborgen, überlebte Zanzotto die Erschiessung einiger Kameraden aus dem Widerstand – taucht in verschiedenen Variationen auf. In der Mitte des Bandes, gewissermassen als Nabel des Ganzen, findet sich die «Elegia in petèl», eine Elegie in der Ammensprache, wie sie in Venetien Mütter mit ihren Kindern sprechen.

Die Nachahmung der frühkindlichen Laute bietet so etwas wie eine Schutzzone, in der die Sprache noch unberührt von konventionalisierten Bedeutungen ist. Der flüssige, milchartige Charakter dieses Lallens schlägt sich lautlich in dem Gedicht nieder. Die Regression, auch für Zanzottos Patron Hölderlin-Scardanelli die einzige Zufluchtsstätte, kann aber von traumatischen Erfahrungen nicht befreien. Die Alltagssprache und die Sprache der klassischen Dichtung bleiben trotz den Verstümmelungen durch die Geschichte der (oft negative) Referenzhorizont.

Wie soll man ein derartiges Buch übersetzen? Nach der Lektüre des wagemutigen Unterfangens von Peter Waterhouse, Maria Fehringer, Donatella Capaldi und Ludwig Paulmichl stellt sich die Erkenntnis ein: vielleicht gar nicht. Das Quartett, bereits mit der preisgekrönten Zanzotto-Anthologie «Lichtbrechung» hervorgetreten, beginnt mit diesem Band gar eine Werkausgabe des venetischen Dichters. Wiederzuerkennen ist die atemraubende Stimme Zanzottos in der deutschen Ausgabe häufig nicht. Und warum man auf ausführliche Kommentare und Erläuterungen verzichtet, obwohl in Italien inzwischen ein hervorragend edierter Zanzotto-Band der Reihe «I Meridiani» vorliegt, bleibt unverständlich. Fragwürdig ist bereits die Titelwahl: «Pracht» für «La Beltà» klingt viel zu barock und überzuckert angesichts des strengen Begriffs, in dem etwas Lateinisches mitzuschwingen scheint und der auf Leopardi anspielt. Beltà ist eine archaische Variante von bellezza, «Schönheit». Das Wort «Schönheit» wäre zwar eher eindimensional, entspräche aber mehr dem Gestus. Weil Beltà ein Leitmotiv ist, setzt sich dieser falsche Ton durch die gesamte Sammlung fort.

Vielleicht aus Ratlosigkeit bieten die Übersetzer gleich vier Fassungen des ersten Gedichts, «Oltranza Oltraggio», an. An zwei Stellen sind dieselben Texte doppelt abgedruckt, sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch – unverständlicherweise, da in Abweichung von der Originalausgabe der «Beltà». Vielleicht wollte man den zyklischen Charakter der Sammlung betonen. Waterhouse, Fehringer, Capaldi und Paulmichl spielen sich damit aber als Mitautoren des Bandes auf, was nicht ohne Peinlichkeit ist. Vor allem die Schnee-Gedichte weisen zahlreiche übersetzerische Übergriffe auf. Aus dem kühlen «La perfezione della neve» wird ein schwülstiges «Das Reichtum des Schnee» (warum, um alles auf der Welt, «das», und warum nicht einfach «die Vollkommenheit»?). In dieselbe Richtung geht «Königreich» für «perfezionato», es ist immer noch die Rede vom Tanz der Schneeflocken. Die deutsche Variante nimmt dem Vers den abstrakten Charakter; dabei führen die Motive Schnee und Eis immer in die Bereiche der Mathematik und des Abstrakten.

Für Zanzotto bieten Fachbegriffe häufig einen Ausweg aus dem Dilemma, mit zerschlissenen Wörtern operieren zu müssen (vor allem in der fünfzehn Jahre später erschienenen Sammlung «Fosfeni»). Der Anfang desselben Gedichtes, «Quante perfezioni, quante / quante totalità» (in der Zanzotto-Forschung als Anspielung auf Dante gewertet, Par. XXIII, Vers 130), heisst bei Waterhouse «Solche Reichtümer, solche / solche Alle.» «Vollkommenheiten» und «Totalitäten» würde der Sache näher kommen, denn es handelt sich – wie bei Dante – um ein Staunen über die Blendung durch den Schnee (bei Dante ist es das Licht). Die Vokabel «vita» wird häufig mit «Dasein» übersetzt. Die deutschen Begriffe lösen völlig andere Assoziationen aus. Das «grande magazzino», ein Kaufhaus, ist bei Waterhouse & Co. ein «Süssmarkt». «Stagione», die «Jahreszeit» oder «Saison», ein Schlüsselbegriff, der mit Zanzottos Verständnis von Landschaft, dem Wechsel der Jahreszeiten und geschichtsphilosophischen Positionen zu tun hat, wird in der deutschen Fassung zu «Alljährlichkeit», weil das lateinische Etymon statio einfliessen soll. Die «quiete marginale», eine «marginale» oder «nebensächliche Ruhe», worin die «Quiete dopo la tempesta» Leopardis mitschwingt, wandelt sich zu einem «Saum der Stille».

Mystisches Raunen

Bei allen Lösungen entsteht der Eindruck des Mystischen – ein raunender Zanzotto ist das Ergebnis. Hinter der Dunkelheit des Dichters verbergen sich aber häufig Fragestellungen, die wie Paradoxa formuliert sind und sich nach einer absurden Logik auflösen lassen. Die philosophische, manchmal auch psychoanalytische Spitzfindigkeit des Autors, der immer das Gegenteil des Gesagten mitdenkt, ist in «Pracht» kaum zu spüren, ebenso wenig wie seine Ironie und sein sarkastischer Witz. Aber damit noch nicht genug.

Der Anfang des VII. Gedichts der Reihe «Possibili prefazi o riprese o conclusioni» lautet im italienischen Original folgendermassen: «Più e meno che oniricamente / dal versante del voi- vero dell’io-forse / più o meno, a fondo e di striscio, / riallaccio e preservo faseggiare e atteggiare: / non sta il punto di equilibrio mai là: non apporsi accingersi / a te bella, beltà». In der Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der Landschaft – la beltà – geht es um frühere ästhetische Positionen und neue Möglichkeiten der Dichtung. Bedeutungsschwankungen ergeben sich aus der aufgelösten Hierarchie der Satzteile sowie der Neubildung faseggiare (von fase – Phase) und der Verwendung nichtreflexiver Infinitive wie apporre und accingere als reflexive. Eine weitere Schwierigkeit dieser Verse ist die Doppeldeutigkeit verschiedener Begriffe: versante meint sowohl den «Berghang» als auch die «Seite» im abstrakten Sinn, a fondo e di striscio ist eine wunderschöne Umschreibung von Gegensätzen, «in der Tiefe und knapp daneben» etwa, kann aber auch «gründlich und oberflächlich» heissen.

Eine interlineare Übersetzung der Passage: «Mehr und weniger als onirisch / auf der Seite des Ihr-wahr des Ich-vielleicht / mehr oder weniger, tiefgründig und knapp daneben / knüpfe ich an und behalte bei das Phasenhafte und Sich- eine-Haltung-geben / der Punkt des Gleichgewichts ist niemals dort: man beginne nicht man setze nicht / auf Dich Schöne, Schönheit». Die Übersetzung von Waterhouse verfälscht das Original grundlegend: «Grösser als ein Traum und kleiner als ein Träumchen / auf der Wiese des ihr-Wirklich des ich-Vielleicht / ein grösserer und kleinerer, vergraben oder oberflächlich / halte und behalte ich die Splitter und Gesichtchen: / doch nie ins Gleichgewicht gebracht: nicht bestimmen, nicht erstreben / dich prachtvolle, dich Pracht». Abgesehen von den grammatischen Umformungen und den Hinzuerfindungen passen die Diminutive nicht zu dem Ton des Gedichtes.

Vielleicht ist Zanzotto tatsächlich unübersetzbar. Versucht man es dennoch, müssten die Stimmen seiner deutschen Väter mitschwingen: Hölderlin und Celan. Andernfalls bleibt Zanzotto für die deutschen Leser stumm oder verliert sich in wirren Zeugnissen. Doch um das Sprechen und Gehörtwerden kämpft er ja gerade: «Una riga tremante Hölderlin fammi scrivere», «eine zitternde Zeile Hölderlin lass mich schreiben».


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