Urs Allemann asklepiadeisch die fünfte Dich die Ferse zertritt oder die Ferse du wundzubeissen den Kopf wenn aus dem Staub es sich schlängelt senkrecht heraufstösst hinzulallen ein Gegengift keines aber gelähmt alles und wär von zwein eines immer der Fuss eines der Mund so dass grundlos es auf dem Boden weggesungen und weitersinkt bis ein anderes uns das Paradiesgeschrei überschreiend den Mund auf darin das Reptil schreit vor Furcht zu ersticken an der Frucht und zu Apfelstaub Die Vieldeutigkeit des Textes und seiner grammatischen Bezüge - in der Tradition des Genres entspricht dies der vielbeschworenen 'Dunkelheit der Pindarischen Ode' - wird hier nicht erst durch die Abwesenheit aller Interpunktion provoziert, sondern schon durch den - wiederum traditionell odentypischen - Satzbau, der durch artifizielle Figuren der Umstellung verfremdet wird. Es würde sich schnell zeigen, daß eine exzessive Beschreibung der Figuration ein Vielfaches des poetischen Textes umfassen würde - und doch geht das Verstehen genau diese verschlungenen Wege: «Dich die Ferse zertritt» - das ist eine Inversion, die das «Dich» an die Spitze des Verses stellt; der zweite Halbvers lautet «oder die Ferse du», und nicht etwa: «Oder du die Ferse». So wird über die figürlichen Inversionen die rhythmische Umkehrbewegung, welche im Schema der asklepiadeischen Anfangszeile mit seiner markanten metrischen Spiegelung der Halbverse vorgebahnt ist, akut. Doch der Chiasmus, der die «Ferse» und das Pronomen «du» einander entgegensetzt, enthält einen Trugschluss. Denn die zweite Hälfte des ersten Verses geht syntaktisch anders weiter, sie wird immer verschlungener und ist kaum mehr zurechtzulegen. Vielleicht so: 'oder, wenn aus dem Staub es sich schlängelt [und wenn] du den Kopf senkrecht heraufstösst, die Ferse wundzubeissen [und] ein Gegengift hinzulallen' -. Solche nur bedingt gelingende De-Figuration deckt eine syntaktische Grundstellung auf, die selbst höchst kompliziert ist, aber grammatisch noch rekonstruierbar scheint, auch wenn kein Satzschluss mehr absehbar scheint. Das «du» ist das «es», das buchstäbliche S, das sich Schlängelnde, die Schlange: die Schlange der Erkenntnis. Sinn zeigt sich: Es ist also die Rede von der Paradies-Schlange, die, wie es in der Bibel heisst, Staub fressen und von der Ferse des Menschen zertreten werden soll, aber auch in dieselbe zu beissen pflegt, indem sie plötzlich aus dem Staub heraufstösst und giftig zubeisst. (Orpheus' Gattin Eurydike starb diesen Tod). Der die Ferse wundbeissenden Syntaxschlange begegnet als «Gegengift» ein Effekt, der die Ode noch einmal in sich umkehrt: Denn «hinzulallen» ist als Antidot der semantischen Verschlingung die Homophonie: die «Ferse» im Gedicht als «Verse». So wird nun auch die zweite Strophe, in welcher sich die unendliche Syntax der ersten Strophe sinnentschlüpfend fortsetzt und die so semantisch paralysiert wird («keines aber gelähmt alles»), für einen Augenblick der poetischen Erkenntnis transparent auf ihr eigenes Verfahren: «Fuss» und «Mund» als Metrum und Laut. Aus dieser konjunktivisch («und wär») entworfenen Ordnungsphantasie der Ode, die zwischen Fuss und Mund, Vers- und Satzbau, unterscheiden will, entspringt eine scheinbare Lösung: «so dass / grundlos es auf dem Boden / weggesungen und weitersinkt». Die giftige Schlange der Erkenntnis - «es» - hat keinen Grund mehr und verschwindet daher «grundlos» - und doch «auf dem Boden». Aber «es» erhält sich in der Homophonie: «weggesungen und weitersinkt» klingt gleich wie «weggesunken und weitersingt». Die paradoxe Aufhebung der Unterscheidung von «Mund» und «Fuss», von singen und sinken (Verse verlaufen in Senkungen und Hebungen), führt in der dritten Strophe - «bis ein anderes» - ins Desaster der Nichtunterscheidung. Das «Paradiesgeschrei / überschreiend» schreit es, das Reptil, die Schlange, mitten im «Mund auf». Vor «Furcht» an der «Frucht» zu ersticken, schreit's und beendet das Gedicht «zu Apfelstaub». Der «Apfel», die paradiesische Frucht der Erkenntnis, ist im Kompositum «Apfelstaub» in seinen Gegensatz verkehrt: Schlangenfrass. (Auszug aus dem Aufsatz von Wolfram Groddeck, der Urs Allemanns Oden in ZdZ Heft 15, April 2000 begleitet.) Urs Allemanns Bio- und Bibliographie |