Peter Waterhouse Aufzeichnung während des Besuchs Herrn Lenz' und Mr Bacons (Für E. J.) 20. 7. Ich setze heute ein mit dem Wind; er fuhr zwischen angenommene zwanzigtausend Blätter des Gartens und kam über die eigene Haut; er war im Tal gewesen, er setzte sich fort, und der Augenblick war bald vergessen. Lenz sagte heute: Die Landschaft weht in mich herein, ich bin an diesem Sommertag zu viele Bäume, das weite Tal ist meine Seele, und das könnte gut sein, aber es ist nicht gut. Warum? Ich antwortete ihm: Lieber Herr Lenz. Das Große hat zwei Erscheinungsformen: Die freundliche, vielversprechende Form; man wird in dieser Form zum Spaziergänger, jeder geht durch die Bedeutungen des steigenden Geländes usw. Die zweite Erscheinungsform heißt: Das Große ist zu groß. Wenn das Zugroße in die Seele kommt, hat es keinen Platz. Was meinen Sie zu unserem Gespräch, Mr Bacon? Mr Bacon sagte: Meine lieben Herren Lenz und Berlin. Sie täuschen sich außerordentlich. Im übrigen bin ich heute Vormittag verstimmt. Fragen Sie mich am Nachmittag. Wissen Sie nicht, daß ich für Gespräche über das Große schlecht geeignet bin? Lenz nach einer Stunde Stille: Ich meine, wenn einer das Unbenennbare zu lange Zeit anschaut, so nennt er es in seiner Verlegenheit schließlich Seele. Auch wenns keine ist. Und das könnte gut sein. Zur Bewegung sage ich gern: Ostwind oder fast ein Sturm oder Luftzug. Aber ohne die Namen Luft, Sturm, Wind ist das alles nur die sogenannte Seele. Verstehen Sie: Magnetisches Subjekt oder gesamte landschaftliche Explosion oder der Sturm der vergangenen zweihundert Jahre oder verfluchte Sprachlosigkeit im sehr vollen Kopf oder Ende der Begrenzung. Ich unterbrach und sagte: Ist doch angenehm, dieser Luftzug am heißen Tag. Lenz sagte ja. Bacon winkte ab. So unser mißlungener Vormittag. Mittagessen: Lammfleisch, mit Zitronensaft mariniert. Nachmittags trug Lenz ein Gedicht vor: Ich öffnete die Augen und sagte: Los jetzt, Dämonen (eine Brille, eine Nase, Ameise, Schukosteckdose). Ich sagte: Es scheint, wir haben einen teilweise gemeinsamen Weg. Die Dinge hatten Namen, wurden belegt mit Bedeutung, taten einen positiven Schrei. Das alles traf auf mich nicht zu. Der unermeßliche Schrei, ja. Ich hörte nie meinen unermeßlichen Schrei. Ich sagte: Ich stehe im Licht. Ich leite nichts ab. Von mir werdet ihr nichts hören. Erste Sekunde der Welt: Darauf war ich verzeihlicherweise unvorbereitet. Gehen nannte ich: Das Ungeheure anregen, einholen, undsofort. Auch das war ungültig. Los jetzt. Ich drehte die dämonische Sekunde um und ließ sie rückwärts laufen. Das Weitere verlangte das Auge. Auch das war metaphorisch und ein Irrtum. Es war verlangt: Etwas wie Himmel, hingelegt auf das tiefere Maß, und jetzt laß los, womit ein Würgen verbunden war. Ich brach damals in mich ein. Ich sagte: Ich stehle meinen Besitz und verteile mich. Eine beträchtliche Erhöhung der Zwischenräume war die Folge undsofort Aus einem Zyklus, meine Herrn. Nachdem ich Ihnen vorgelesen habe, geht es mir besser. Das Nichtgreifbare, um einige Grade deutlicher gerückt, steht wie eine Geliebte neben mir. O, ich mache da keinen Fehler, Mr Bacon. Ich denke bloß das Ferne mit. So sprach Herr Lenz einige Zeit weiter. Er nannte seinen Gedichtzyklus ein glückliches Werk mit größtmöglicher Unsichtbarkeit, die elliptische Welt aus der Hand und anderes mehr. Um drei Uhr: Kaffee, dazu ein Käsebrot. Danach Lenz und Bacon im Gespräch. Lenz: Folgendes ist mir unterlaufen: Erstens: Ich sah, als ich es für den guten Augenblick hielt, Asche und Herzlosigkeit. Zweitens: Ich selbst wurde zu Asche und Herzlosigkeit. Was wollen Sie mir raten, Mr Bacon? Dann Bacon: Er selbst müsse sagen, er stolpere über die kleinste Denkbarkeit. Jeder Versuch, darüberhinaus zu verweisen, gelinge ihm nicht. Der Blick in den Garten laute mündlich: Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt Blatt. Ast Ast Ast Ast Ast Ast. Liebstöckel. Rhabarber. Zaun. Gurke Gurke. Zusammenfassend sage er zu dem ganzen gepflegten Gebilde: Undsoweiter. Wie in Ihrem Gedicht, lieber Herr Lenz. Ein magnetisches Undsoweiter, darauf könnte ich mich mit Ihnen einigen, aber Verweis, innere Linie, irgendein Bogen seit zwei angeblichen Jahrhunderten - ich erinnere Sie an den Vormittag - lassen sich aus dem Und, also aus dem Kern der Zusammenfassung nicht schließen. Ich lasse gelten: Im vorliegenden Beispiel ist der Garten das Paradies, darin kann mancher liegen und den Gedanken bilden: Undsoweiter als Paradies. Dann endets aber. Es setzt sich fort, indem an dieser Stelle alles so weiter endet. Bacon und Lenz so fort. Ich konnte nicht folgen und beschloß, im Keller nach Bohnen für das Abendessen zu suchen. Auf einem Absatz entlang der Kellertreppe ein Topf mit hellbraunen, schwarzen und weißen Bohnen. Auf jeder ein weißer Punkt, der Keim. Um den Keim in kleinen Wäldern stehend oder auf dem Keim versammelt fand ich Schimmelanlagen. Schließlich Vorschlag an Bacon und Lenz, Autofahrt, Fischessen usw. Kurzes Gespräch wie folgt: Lenz: In der Aussparung ist die Darstellung möglich, sozusagen im Gegenteil des Gemeinten, alles falsch niedergeschrieben macht das Richtige bleiben. Bacon: Das Loch sei gottseidank das Loch usw. Ich hielt mich aus dem Gespräch. Fisch im übrigen gut (Knoblauch). Nachts Gespräch über die Freiheit mit Frau Mercier. Gegensatz zwischen der einzigartigen Gewißheit (sie) und der Durchflutung (selbst). Aber was sie sagten, klang immer so unantastbar; also eine Gewißheit darin. Darauf ich: Das ist nichts anderes als eine starke Strömung. In der Strömung denkt man: Leider gibts auch diese Freiheit. Sie: O, der Strömung setze ich mich rasch entgegen. Selbst: Nein. Sie: Doch. Selbst: Nein. Sie: Doch. Selbst: Nein. Sie: Doch. Selbst: Nein. Sie: Doch. So gings noch lange Zeit dahin. Nachdem wir dann einige Schleifen gelegt hatten, kamen wir zu dem Gegensatzpaar: Die Geschichte bei schwebendem Verfahren (selbst) und die Geschichte bei schwebender Bedeutung (sie). Wörtlich: Ich lasse die Bedeutungen schweben. Wörtliche Entgegnung von mir: Ein anderes, das nicht in der Schwebe zu halten ist, begleitet uns. Man kann ihm zärtlich begegnen, wie Sie, Frau Mercier. Es schlägt zurück. Aber ich will Sie nicht erschrecken. Ich habe zu viel geredet. Ich denke, daß ab einer gewissen Menge alles falsch ist, selbst wenns die reine Wahrheit ist. Gute Nacht. Später erwachte ich und hörte Lenz im Brunnen baden. Frieren Sie denn nicht, im kalten Wasser in der tiefen Nacht? Lenz antwortlos. Ich ging mit Decken hinunter und brachte ihn zu Bett. 21.7. Besuch von Kaufmann und Meister; Mr Bacon und Herr Lenz schwiegen ganztags. Folgendes Gespräch zwischen den neuen Gästen: M: Was kannst du mit deiner linken Hand besser tun als mit deiner rechten Hand, obwohl du ein Rechtshänder bist? K: Alles geht mit der rechten besser. M: Falsch. In deine linke Hosentasche fährst du mit der linken Hand besser als mit der rechten. K: Aber in die rechte Tasche fahre ich besser mit der rechten als mit der anderen. M: Trotzdem: Für die linke Tasche ist die rechte Hand nicht so gut wie die linke Hand. Für die linke Hosentasche bist du eigentlich Linkshänder. K: Falsch. Ich fahre mit der rechten Hand besser in die linke Tasche als mit der linken in die rechte. Wenn ich hin übergreifen muß, greife ich mit der rechten besser. M: Ja; aber noch besser als mit der rechten Hand fährst du mit der linken in die linke Tasche. K: Das darfst du nicht vergleichen. M: Warum nicht? K: Du mußt vergleichen, wie ich mit der rechten Hand nach links und der linken nach rechts fahre. M: Ja, wenn ich das Hinübergreifen vergleiche, gewinnt die rechte Hand. Aber beim Fahren in die linke Tasche gewinnt links. K: Nein. Das Fahren in die linke Tasche muß verglichen werden mit dem Fahren in die rechte Tasche. In die rechte fahre ich mit der rechten schneller als in die linke mit der Linken. M: Gut, aber wenn die rechte in die linke fährt, verliert sie. K: Wenn die rechte Hand in die linke Tasche hinüberfährt und die linke auch in die linke fährt, dann tun beide etwas Verschiedenes. M: Wie können die Hände etwas Verschiedenes tun, wenn sie in dieselbe Tasche greifen? K: Das ist einfach zu erklären: Einmal ist es die eigene Tasche, in die gefahren wird, einmal die gegenüberliegende fremde Tasche, in die hinübergefahren wird. M: Nein, es ist immer dieselbe linke Tasche deiner Hose. K: Für die rechte Hand ist es eine fremde Tasche. Das Fahren in eine fremde Tasche kann nur verglichen werden mit einem anderen Fahren in eine andere fremde Tasche. M: Eine Fremdheit wäre es, wenn der Fuß in die Tasche gehen müßte. Wenn der Fuß in die Tasche geht und die Hand in die Tasche fährt: Da geschieht Unvergleichbares. K: Nein, unvergleichbar sind sehr wohl Hand und Hand oder Fuß und Fuß, und zwar wenn sie nach links oder rechts hinübergeschickt werden. Aber einmal Hand und einmal Fuß in derselben Hosentasche sind zu nennen: Ein großer Unterschied. Beide kommen auf ihre Weise in die Hosentasche hinein. Handfahrt und Fußfahrt in dieselbe Tasche - so lautet unser Beispiel - kannst du vergleichen. Doch unvergleichbar ist das Steigen des linken Fußes in den linken Schuh mit dem Steigen des rechten Fußes in den linken Schuh. Das eine Steigen dieses Beispiels darf mit dem anderen nicht verglichen werden. Der linke Schuh darf nicht zur Konstante für die Füße werden. Der linke Fuß ist nicht der bessere, was das Betreten der Schuhe betrifft. M: Gut gesprochen. Aber der linke ist der bessere, was das Betreten des linken Schuhs betrifft. K: So dürfen wir nicht urteilen. M: Wie müssen wir urteilen? K: Um zu einem gerechten Urteil zu kommen, müssen wir die Füße quer zur Gehachse seitenverkehrt in die Schuhe fahren lassen. Jetzt sind die Bedingungen gerecht. Wenn die linke Hand in die linke Hosentasche kommt und die rechte Hand in die rechte Tasche, dann ist das Bild eines solchen Menschen symmetrisch und gerecht, und du darfst sagen: Rechts fährt besser. M: Rechts fährt nur unter symmetrischen Bedingungen besser. K: Wir sind symmetrisch. M: Nein. Es bedarf nur der Reise der rechten Hand zur gegenüberliegenden Taschenöffnung, daß ich dich widerlege. Wenn ich von rechts nach links komme, widerlege ich deine Gerechtigkeitstheorie. K: Du bist ungerecht. M: Macht es mich in deinen Augen gerechter, wenn ich von links links in die Hosentasche hinunterfahre? K: Ja. M: Wie steht es mit einem Vergleich des Steigens des rechten Fußes in den rechten Schuh mit dem Fahren der linken Hand in den rechten Schuh? K: Der Vergleich ist unerlaubt. M: Ich darf dieses Steigen und Fahren nicht kommentieren? K: Nein. Es handelt sich bei diesem Beispiel sozusagen um zwei Welten. Wenn die linke Hand unterwegs ist zum rechten Schuh, überquert sie eine große Grenze. M: Vielleicht geht es der Hand aber schlecht im Schuh. K: Verglichen womit? M: Verglichen mit dem rechten Fuß, dem es im Schuh vielleicht gut geht. K: Wenn du vergleichen willst, mußt du die rechte Hand in den linken Schuh schicken. M: Warum? K: Wenn du die linke Hand in eine zweite Welt hinüberschickst, so mußt du auch die rechte Hand in eine zweite Welt fahren lassen. M: Wenn ich einseitig eine Grenze überquere, enden die Vergleiche? K: Ja. M: Ich schneide die Überquerung in diagonaler Bewegungsrichtung und darf wieder vergleichen? K: Ja. M: Quer zur Achse der Diagonale liegt die Vergleichswelt? K: Ja. M: Ach so. - Ist es aber nicht trotz allem besser, nach einem Schlüssel in der linken Hosentasche mit der linken Hand zu suchen? Die Taschenöffnung ist ja so angebracht, daß die linke Hand bequem fahren kann. K: Wenn man fährt, ist die Öffnung unbedeutend. M: Aber man fährt nur in bestimmte Öffnungen. Wie suchst du deine Haustürschlüssel? K: Links links, rechts rechts. M: Links ist ungerecht. K: Ja, da bin ich ungerecht. Manchmal bringe ich eine Flasche Rotwein nach Hause. Ich trage die Flasche oft in der linken Hand und fahre mit der rechten Hand zum Haustürschlüssel hinüber. So bin ich gerecht. Abschied der Herren spätnachmittags. 22. 7. Herr Lenz und Mr Bacon vormittags im Gespräch; Lenz: Er habe das sehr wohl genau studiert, was Mr Bacon in Frankfurt über die Kunst vorgetragen habe und jetzt schriftlich vorliege; er sei beeindruckt gewesen von den Gedanken über die Kunst der Abweichung; die Abweichung schaffe einen freien Zustand; die Abweichung leiste aber noch ein Zweites, nämlich sie grabe ein Loch; nun grabe Herr Bacon in seinem Abweichungsverfahren derartig, daß man weder von graben noch von Loch sprechen könne, womit aber die Vergrößerung des Loch nur befördert werde, nur heiße es nicht mehr Loch; es zeige sich. Manchmal sei sein, Lenzens, Hineinspringen in den kalten Brunnen zu unvorhersehbaren Zeiten ein Hinausspringen aus dem Loch, das nicht so heiße, also das Hineinspringen, das so erschreckend aussehe, nur ein Hinausspringen, wobei man das Hinausspringen, und wie erschreckend dieses sei, kaum sehen könne. Bacon: Das einzige, das sich zeigt, ist die Einzelheit. Wenn man ihrem Zusammenhang ein Maß geben will, so muß man sagen: Die Landschaft unterm Fuß. Die Abweichung beruht also auf einem genauen Spaziergang. Das ist zunächst nicht abgründig, sondern ist zu nennen: Pendelbewegung des Unterkörpers. Man schiebt den Planeten unter sich hinweg aber das ganze verhält sich als Fußweg mit Einzelheiten; fast ein altmodisches Weltbild, vorkopernikanisch. Man kann auch sagen: Kepler vergaß die Füße, Keplers Weltbild ohne Trottoir. Verstehen Sie, das Ungeheure wird ja im Detail faßbar, das Detail in der eigenen Wildnis. Lenz: Fürchten Sie sich aber nicht? Bacon: Ja, er fürchte sich. Einwurf von mir: Ich schlage zum Mittagessen grüne Bohnen vor. Bacon: Die Wildnis und die Abweichung seien zusammenzudenken. Abbruch, fast eine Euphorie. Ich schmeckte das Essen mit Sojasauce ab. Nachmittags Spaziergang zum See. Mr Bacon: Einzelheit, Wildnis und Sprache, Bacon dabei schwer atmend, und dagegengesetzt die Gruppe der Herrn, meistens verborgen, bewacht, gut gekleidet, glänzende Schuhe, Bombenflugzeuge, Moral, Ehe, die gezogene Grenze mitten durchs Gesicht der Menschen. Lenz war jetzt ruhiger, einige Gegenfragen, ich mehr mit einem aufziehenden Gewitter befaßt. Abends richtete ich an die Herren Bacon und Lenz die Frage, welchen Vorschlag sie machen könnten hinsichtlich der Beseitigung eines an ungünstiger Stelle hängenden, etwa fußballgroßen Wespennests. Bacon erzählte aus seiner Kindheit: Zur Erholung sei seine Familie jeden Sommer zu einem Bauernhof gereist; dort habe es immer ungewöhnlich große Wespennester gegeben, meistens unter den Dachvorsprüngen der verschiedenen Gebäude angebracht. Den ganzen Tag und alle Tage hätten die Damen und Herrn Wespen alle Bewohner und Gäste des Hofs gepeinigt. Das Hofleben sei ein einziges Umsichschlagen gewesen, das Essen weniger ein Essen als ein Umsichschlagen oder Inderluftfuchteln oder Aufspringenundfortrennen, die Gartenarbeit viel weniger eine Gartenarbeit als eine Schutzaktion und nur dann und wann ein Griff zu Karotten oder Schnittlauch oder Kartoffelstauden, das Melken kaum ein Melken, sondern ein Verjagen und Vertreiben mit etwas Milchgewinn nebenbei usw. Das wenige echte Hofleben, Essen, Gartenarbeiten und Melken sei vollkommen im Unverhältnis gestanden zu der Menge der Einstiche, die den Wespen gelungen seien. Alles Tun war kaum jemals es selbst, sondern vielmehr Verteidigung gegen einen ununterbrochenen und grausamen Angriff gewesen. Natürlich, man könne sich auch ruhig verhalten und dabei ziemlich sicher sein, daß die Wespe. freundlich bleiben werde. Aber wer sehe schon gerne zu, wie eine ins Nasenloch krieche, wo vielleicht schon vor einer Minute die erste ungehindert eingeschlüpft sei? Solle man die zwei sich in der Nase einigen lassen oder sei es nicht ratsamer, vermittelnd einzugreifen, nämlich durch Umsichschlagen, Inderluftfuchteln oder Aufspringenundfortrennen? Jetzt folgendes: Die Kinder hätten sich eines Jahres und eines Tages in der sogenannten Milchküche versammelt, ein Raum, in dem die Milch nach dem Melken zusammengetragen worden sei. Tür und Fenster seien in besonderer Weise abgedichtet gewesen, um alle Arten von Insekten aus dem Raum und von der Milch fernzuhalten. Vom Fenster aus Blick auf sechs nebeneinanderhängende große Nester, so Bacon. Mit einem scharfen Strahl aus dem Schlauch, der zum Reinigen der Milchküche gedient habe, seien die Wespennester angeschossen worden und sogleich abgestürzt. Gegen den Aufruhr, der jetzt gekommen sei, habe kein Umsichschlagen und kein Inderluftfuchteln, kein Verjagen und kein Vertreiben und überhaupt nichts geholfen. Der Bauernhof habe einfach für einen Tag evakuiert werden müssen. Aus der Milchküche andererseits habe es kein Herauskommen gegeben. Bacon schlage daher vor, lieber zu fuchteln als so vorzugehen. Lenz: Er kenne nur die Fußmethode. Podgornik, der auf der anderen Talseite wohnt, habe ihm davon berichtet. Frühmorgens stelle man sich auf das Loch der Erdwespen. Wenn sie ein neues bohrten, bitte man den Nachbarn, auf das neue Loch zu steigen. Aus dem Dorf habe man auf diese Weise alle Erdwespen vertrieben. Allerdings sei von den Dorfbewohnern schon mancher Sonntag mit dem Stehen auf Löchern zugebracht worden. Man stehe dann in den Gärten und bespreche, zu was man sonst keine Gelegenheit finde. Durch die Erdwespen sei es zu neuer Liebe gekommen, zur Ausbreitung des Atheismus, Beruhigung von Streit, Parteiaustritten, Kenntnis neuer Verhütungsmittel, Fremdsprachenerwerb, Widerlegung von Leibniz' These von der besten aller möglichen Welten, und zwar jeweils mit dem Fuß auf einem Wespenloch. 23. 7. Gespräch über das Leuchten; nach zwei Stunden der Wechselrede kamen Bacon und Lenz auf das Leuchten des Geringsten. Lenz: Die Toten leuchten; im Augenblick der Vergeblichkeit ist die Nacht hell usw. Bacon: Guten Tag Ende der Klassik; lieber Herr Berlin, erzählen Sie uns doch etwas von der Geschichte des Dorfs, in dem wir als Ihre Gäste so gut untergebracht sind. Ich: Ich denke, hier hat der Erzähler zwei Möglichkeiten. Erstens: Die Schreckensgeschichte; zweitens: Die Geschichte bei schwebender Bedeutung. Die erste Geschichte besteht in der Vernichtung der zweiten, darin bildet das Dorf keine Ausnahme. Es ist also ein Dorf der vernichteten zweiten Geschichte. Damit ist nicht ein Rückblick getan, sondern gemeint ist: Das Dorf wird soeben vernichtet; Gärten gepflegt, Türen geschlossen, die Speisekammer reichlich gefüllt, der Sinn hoch, die Trauer beständig, einige Augenblicke des Vergessens, Hautberührung, Küsse, Zweifel bei steigender Bereitschaft, zahlreiches Grüßen, bedenkenloses Rufen und die gleichzeitige Vernichtung. Herrn Orasch schnitt man in die Brust ein Loch, damit er am Krebs vorbeiatmen kann; sein Mund ist neuerdings die Lunge. Oder: In Waldbach hat Samstag abends schwer berauscht der Maurergehilfe Franz Cepnik in der Hauptstraße exzediert. Cepnik wurde wegen überwiegender Milderungsgründe - er ist Vater von zehn zum Teil noch unversorgten Kindern - zu bloß vier Tagen Arrests verurteilt. Oder: Am 23.1.1944 ereignete sich in Waldbach ein Feuergefecht zwischen regulären deutschen Truppen und Aufständischen. Tote auf beiden Seiten. Oder: Die Mächtigen schaffen Bedeutung; man könnte, in seiner eigenen zweiten Geschichte, beständig alles wieder auseinanderlegen. Mögen Sie mir noch zuhören, meine Herrn Lenz und Bacon? - Beide nickten. - Aus dem letzten Predigttext der Sonntagspredigt unseres Herrn Dorfpfarrers habe ich die Verben entfernt. Jetzt erzähle ich Ihnen also auch das als Dorfgeschichte, wenn Sie mir verzeihen. Ohne Verb heißt der Titel des Predigttexts: Das letzte Wort Gott: Wir nicht immer wieder die Klage, daß Gott? Daß er unbegreiflicherweise so viel Ungerechtigkeit, Elend und Jammer auf unserer Erde? Und nicht der Glaube so manches Menschen an diesem Schweigen Gottes? - Nein, Gott nicht! Aber der Mensch in zunehmendem Maße schwerhörig, ja vielfach vollkommen taub gegenüber der Stimme Gottes. Viel Leid in der Welt, wenn der Mensch mehr Empfänglichkeit für die Willensäußerungen Gottes. - Gott zum Menschen durch die Werke seiner Schöpfung, aber der Mensch das ehrfürchtige Staunen. Er zwar die Gesetze der Natur für seine Zwecke, aber er nicht mehr den Weg von den Gesetzen zum Gesetzgeber und Urheber allen Seins. - Gott auch durch die Fügungen des menschlichen Lebens, aber in diesem Zusammenhang der Mensch Gottes Sprache noch weniger. Er die Stille und in den Trubel der Geschäftigkeit und des Vergnügens. Er auf, wenn seine Pläne, aber es ihm der Gedanke, daß Gott ihm vielleicht gerade dadurch. - Weil nun der Mensch Gottes Sprache so schwer, der Ewige eine deutlichere Form der Offenbarung seiner selbst. Nämlich sein Wort, das sich unmittelbar an den Menschen. «Nachdem vorzeiten Gott manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern durch die Propheten, in diesen letzten Tagen zu uns durch den Sohn ... », und alles, was der Allmächtige durch die Propheten, durch seinen Sohn und seine Apostel, wir gesammelt in der Bibel, welches auch die «Heilige Schrift». - Wie, daß die Bibel Gottes Wort? Sie doch von Menschen! Ja gewiß, es Menschen, die die Niederschrift und Sammlung der biblischen Bücher, aber Menschen, die so sehr unter dem Einfluß des Heiligen Geistes, daß dieser ihnen Gottes Willenskundgebung. Die Bibel ein Buch wohlbegründeter Hoffnung, die über das Grab. Darum auch heute noch Millionen Menschen, die über das Woher und Wohin des Menschengeschlechts und vor allem ihres eigenen Lebens, zur Bibel. Wer sich mit dem Inhalt der Bibel, dem vielleicht manches anfangs in diesem Text seltsam, er möglicherweise fürs erste über manches. Dies aber niemand. Gottes Gedanken, die in der «Heiligen Schrift» zum Ausdruck, und diese höher als die Menschen. Die Bibel darum nicht wie ein Roman, den man und dann. Man sie immer wieder aufs neue und in ihr wie nach verborgenen Schätzen. Dafür aber dieses Suchen reich. Man: Gott das erste Wort: «Es» und «es», und bald er auch das letzte Wort: «Ich alles neu!» - Darum. Hier folgen natürlich die Fragen, die ich nicht auszusprechen brauche. Glauben Sie eigentlich daran, daß es eine verschwiegene Geschichte gibt? Lenz: Ja. Bacon: Nein. Lenz: Ja. Bacon: Nein. Lenz: Nur wo ich schweige, ist es meine Geschichte. Bacon: Wenn Sie das Schweigen weiterdenken, dann kommen Sie zum Laut. Ungefähr hier der Ruf zum Abendessen. Lenz mit dem Ausdruck großer Verzweiflung, so ging uns der Tag zuende. 24. 7. Spaziergang Lenz': 9-12 Uhr. Spaziergang Bacons: 12-15 Uhr. Mein Spaziergang: 15-18 Uhr. Offenbar gingen wir uns aus dem Weg. 25. 7. Lenz unvermittelt: Und ich dachte immer, wir sind gemeint, im Entgleitenden gleiten wir mit, wo uns alles mißlingt, sind wir immer noch ein ausreichender Gedanke, wo ich untergehe, ist etwas Großes untergegangen. Und ich dachte immer, unverletzt bleibe ein Rest, unteilbar, nachdem alles geteilt und auseinandergejagt und aufgegeben worden ist, also am Ende stehen wir doch in der Form der Begegnung da. Bacon: Lieber Herr Lenz, ich lade Sie jetzt auf ein Glas Rotwein ein, und machen Sie sich in dieser Angelegenheit weiter keine Gedanken. Lenz und Bacon Hand in Hand fort, über die Felder, streckenweise in hüpfendem Rhythmus. Ich dachte: So also gehen Schriftsteller spazieren; sie lassen sich hupfen, sie holen eine Bewegung aus sich hervor, die mit nichts zu vergleichen ist usw. Ich kehrte zurück zu meiner Arbeit, die ich in den letzten Tagen vernachlässigt hatte, nämlich Beantwortung dreier Briefe von Patienten. Mittagessen: Kartoffeln mit Butter und Salz. Anschließend nichtendenwollendes Naseputzen, Ohrkribbeln links, Kitzeln auf dem rechten Arm. Eines der Hühner sah ich am Nachmittag, das war am Arsch entfedert und sah zerfetzt aus. Mein Gedanke: Entweder im Liebestaumel des Hahns oder von einem Automobil scharf angefahren. Blumengießen, kurze Befassung mit dem Maulwurf, schnelles ekstatisches Erlebnis mit den Kirschen, langer Tagtraum von den möglichen Freuden der Sinne, darüberhin der obere Teil des Sommertags in der Helligkeit. Abends mit Besen und Schaufel unterwegs; von Lenz und Bacon sah ich nichts mehr. 26. 7. Nach dem Frühstück sagte ich zu Mercier: Drüben behaupten wir uns, hier, wo wir sind, ist nur der ganz kleine Teil; mit dem Wort drüben ist aber nicht gemeint ein Geheimnis, sondern Äpfel, Birnen, Türgriffe usw. Im Grunde sind wir ja nur Äpfel und im Grunde sind wir ja nur Türgriffe, nämliche wirkliche Formen, die man drücken kann, in die man beißen kann, und es schmeckt süß, und es gibt ein Getränk für den Sommer, von dem wir zugegebenermaßen hier trinken, und mit hier meine ich wiederum, bitte erlauben Sie mir die Wiederholung, mit hier meine ich den ganz kleinen Teil oder sogenannten ganz kleinen Teil oder ganz kleinen sogenannten Teil. Und von hier aus also noch einmal die Frage nach der Geschichte bei schwebender Bedeutung, liebe Frau Mercier. Der Apfel und die schwebende Bedeutung: Darf ich Sie bitten, das zusammenzudenken, und wie lautet dann der Gedanke? Lautet der Gedanke nicht so: Drüben schweigen wir mit? Mercier: Von drüben kann nicht die Rede sein. Der Gedanke, den Sie von mir wünschen, lautet: Ende der Bedrohung, Ende der Herrschaft. Wir setzen uns ein. Ich: Aber die Äpfel, Frau Mercier, wie können wir uns in die Äpfel einsetzen? Hier verloren wir den Faden unseres Gesprächs. Nachmittags die Frage an Herrn Lenz und Mr Bacon: Wie können wir uns in die Äpfel einsetzen? Bacon: Das geht überhaupt nicht. Es gibt sozusagen nur Äpfel. Lenz: Die Äpfel als Äpfel als wir. Ich ließ weitere Fragen an die Herrn bleiben und legte mich zur Rast aufs Bett. Frau Mercier abends: Die Äpfel überrumpeln uns nicht - wobei die Äpfel nur ein Beispiel sind; wir bleiben mit dem Beispiel unangetastet. Lieber Berlin, die Beispiele bilden die Welt, wir sind nicht Beispiele. Ich war begeistert von dem Satz und sagte, daß ich begeistert sei und den Satz bewundere. Trotzdem glaube ich Ihnen diesen Satz nicht. Das macht nichts und ist schön so. Mercier: Ja, so ist es schön. Frau Merciers Mund: Farbe der Himbeeren in den letzten drei Augusttagen (Sabine, Felix, Raimund), Breite 5 cm, als Rand der Oberlippe dient eine viertelmillimeter breite helle Linie von intensiver aber ungewisser Bedeutung, Zahnreihe oben und unten barock, das ganze Gebilde eine Vereinigung von Kunstgeschichte und süßem Obst. So habe ichs gesehen. Ich lasse das jetzt bleiben. 27. 7. Lenz erklärte sich für untröstbar und blieb während des ganzen Tages im Bett. Bacon unauffindbar. Frau Mercier reiste ab (Urlaubsende in der Tischlerei). 28. 7. Bacon erklärte sich für untröstbar und blieb während des ganzen Tages im Bett. Lenz ging ins Nachbardorf, dort ein gestern verstorbenes Kind mit dem Namen seiner Geliebten aufzuwecken. 29. 7. Ich sah Bacon einen Kopfstand machen. Wie er später berichtete, habe Lenz mit ihm über das Kopfstehen, gesprochen und er, Bacon, habe diese Körperhaltung gleich auf ihre Tauglichkeit zum Herstellen von Gedichten prüfen wollen. Bacon von ungeheurer Röte und wackelig; zunächst murmelte er, dann wurde er laut und sagte: Nicht notieren können, nicht notieren können, nicht notieren können, nicht notieren können, ohne umzufallen, ohne umzufallen, ohne umzufallen, dabei drei Minuten Zeit nur, dabei drei Minuten Zeit nur, erlaube jedem der Kopf. Platsch: So etwa das Geräusch des umgefallenen Bacon. Ich half ihm auf, rückte seine Anzugjacke zurecht, wir schüttelten uns lange die Hände. Machen Sie doch bitte eine spontane Übersetzung, bat Mr Bacon. Also ich in den Kopfstand: Can't take it down, can't take it down, can't take it down, can't take it down, without falling, without falling, without falling, and only three minutes time, and only three minutes time, in everybody's head. Das Geräusch der Landung: Flap. Nachmittags Tomatenernte, Auseinandersetzung mit dem Sicherungskasten des Hauses, schließlich leuchtet im Parterre wieder Licht, zwei Glas Sherry mit Lenz, als abends die Schatten kamen. Über das, was Nacht ist, füge ich hier nichts an. 30. 7. Lenz im Brunnen sitzend: Wir werden geboren, es entsteht eine Lücke in der Republik, wo wir hineinpassen, wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die anderen Räder und stoßen und treiben, bis wir, wenn's noch so ordentlich geht, abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen, das ist, meine Herrn, ohne Ruhm zu melden, unsere Biographie, und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzügliche künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufe nennen, besser oder schlimmer hineinpaßt. Bacon: Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder holen wir die Bestimmung aus der Welt oder wir holen die Bestimmung aus dem Abgrund. Abgrund ist besser, aber so schmerzlich. Mit Bestimmung meine ich: Stimme. Lenz durchaus beruhigt. 31. 7. Herr Lenz und Mr Bacon im Gespräch über die Utopie; als ich hinzukam, sagte Bacon: Trotzdem; Lenz: Aber; Bacon: Durchlässigkeit; Lenz: Jawohl. Ich verstand nichts, und wir lachten alle herzlich. 1. 8. Mr Bacons Geburtstag; wir gratulierten und wünschten Gutes. Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor |