Marco Baschera Das unerhörte Sprechen des Geschriebenen: Reflexionen von Hans-Jost Frey Das neue Buch «Lesen und Schreiben» von Hans-Jost Frey spürt elementaren Grundformen des Umgangs mit Texten nach. In kurzen Kapiteln handelt es vom Wiederholen, vom Abschreiben, von der Kalligraphie, vom laut und leise Lesen, vom Gebrauch der Tastatur im Gegensatz zur Handschrift, vom Rhythmus, von der Zerstreutheit des Lesers usw. Klar und allgemein verständlich geschrieben, vermag es den Leser dennoch immer wieder an schwierige Sachverhalte heranzuführen. Die fundamentalen Formen von Lesen und Schreiben verlieren dabei ihre scheinbare Einfachheit und öffnen den Blick auf Abgründe, die in der Sprache angelegt sind. Unermüdlich werden Fragen umkreist nach der rätselhaften Materialität von Schrift und Sprache sowie nach dem Verhältnis von aktivem Hervorbringen von Sprache - der Tatsache, daß man spricht oder schreibt - und dem dabei mitgeteilten Inhalt. So stellt sich durch die Möglichkeit des immer anders Wiederlesenkönnens eines selben Textes die Frage nach der Gegebenheit und der Identität sowohl des Textes als auch des von ihm Mitgeteilten. Das heißt, ein Text läßt sich nicht nur von seinem Inhalt her bestimmen, oder allgemeiner formuliert, Sprache erschöpft sich nicht in ihrer Instrumentalität. Wie aber soll und kann von dem gehandelt werden, was die mitteilende Funktion der Sprache unterläuft? Kann es überhaupt Gegenstand der kritischen Betrachtung werden? Unterliegt das «Nichtmitteilende» der Sprache der Intention des Sprechers bzw. des Autors? Solchen Fragen geht Frey anhand von Texten - Proust, Leopardi und Mallarmé - in subtiler und eindringlicher Weise nach. Dabei zeigt sich, daß beim literarischen Reden das je weils Gesagte sich nicht vom Vollzug des Schreibaktes trennen läßt. Neben einem mitteilenden Reden und Schreiben geht somit ein Sprachvollzug einher, der sich Wort für Wort aus sich selbst heraus entwickelt und dabei den Gedanken nach sich zieht. Am Beispiel der Wiederholung zeigt sich die Kehrseite des fraglos sicheren Umgangs mit Wörtern. Einerseits scheint die Wiederholung eines Worts seine Bedeutung zu intensivieren. Es gewinnt an Gewicht. Anderseits aber tritt gerade Kraft der Wiederholung das Wort nicht nur als ein bedeutendes Wort auf, sondern gerät auch in eine Beziehung zu sich selbst: «Die Wiederholung öffnet das Wort auf das Dazwischen zwischen ihm und ihm selbst. In ihr klafft das Wort, und die Lücke geht in ihm auf.» Dadurch verliert es seine Selbstverständlichkeit. Die scheinbar fraglose Beziehung des Worts zu seiner Bedeutung gerät ins Wanken. Je mehr man ein Wort laut wiederholt, um so fremder klingt es für unsere Ohren und um so mehr entleert sich seine Bedeutung. Der Wortklang zeigt immer mehr eine rätselhafte Seite, die vom Wortsinn abgetrennt zu sein scheint. Und dadurch wird auch immer unsicherer, was man in der Wiederholung eigentlich wieder holt. Diese Ambivalenz von Nähe und Ferne wird genährt vom letztlich unbegreiflichen Gegebensein der Sprache. Die Sprache ist uns Menschen gegeben, damit wir uns untereinander verständigen können. Aber jedes Verständnis beruht auf der Fiktion eines gemeinsam festlegbaren Sinns, der aber seinerseits immer einer Interpretation bedarf. Die völlige Deckung von Gesagtem und Gemeintem, wie z.B. das Gesetz sie anstrebt, ist in sich brüchig. So müssen gerade Gesetzestexte ständig neu interpretiert werden. Durch die Interpretation tritt eine Instanz zwischen das Gesagte und das Gemeinte und unterbricht dadurch deren scheinbar unproblematische Übereinkunft. Lesen ist eine Tätigkeit. Sie vermag einen vorliegenden Text bei jeder erneuten Lektüre anders hervorzubringen. Als Bewegung erschöpft sich das Lesen jedoch nie im bloßen Verstandenhaben der Texte. Denn das Verstehen seinerseits führt weg vom Geschriebenen. Es hält dessen Hervorbringung zugunsten eines durch den Text mitgeteilten Sinns auf. So geschieht Lesen «in der abenteuerlichen Offenheit des Nichtverstehens». Es versucht jeweils, alle Sinnmöglichkeiten eines Textes gleichzeitig zu wahren. Und trotzdem kann es nicht bei der Schwebe des reinen Lesens bleiben. Man liest Texte immer auch auf einen mitgeteilten Sinn hin. So etwa will der Zeitungsleser - zu Recht - möglichst schnell zu knapp bemessenen Informationen kommen. Zielt das rein inhaltliche, an der Mitteilung orientierte Lesen auf das im Text Gesagte, so hat sich das Lesen literarischer Texte auch auf das Sagen, auf die Sprachgestalt und auf die Beziehung zwischen ihr und dem Gesagten zu konzentrieren. Oft sperrt sich dabei die Sprachgestalt gegen das durch sie Mitgeteilte und unterbricht es. In zwei Untersuchungen zu Proust und Leopardi zeigt Frey die desorientierte Wirkung auf, welche literarische Texte beim Leser auslösen können. Wer von diesem Buch große Schlußfolgerungen und Resultate erwartet, wird eher enttäuscht sein. Denn es orientiert sich nicht ausschließlich am literaturwissenschaftlichen Diskurs. Auch kann und will es nicht Literatur sein. Und trotzdem ist ihm eine Präzision eigen, die es sowohl mit der wissenschaftlichen als auch mit der poetischen Genauigkeit verbindet. Zwischen auratischer Weite der Worte und definitorischer Enge der Begriffe entwickelt Frey einen ihm eigenen Sprachgestus, der trotz der Schärfe und dem Tiefgang der einzelnen Betrachtungen nie den Kontakt zum Spielerischen verliert. Das Spielerische definiert Frey in bezug auf den literarischen Text als eine Form von innerer Stimmigkeit, bei welcher der Text vor allem seinen eigenen Regeln folgt und sich nicht an einem sprachunabhängigen Mitgeteilten orientiert. Etwas von dieser heiteren Stimmigkeit findet sich in allen Stücken des vorliegenden Buchs wieder. Sie resultiert aus der Einsicht, daß je mehr man glaubt sprachliche Phänomene in den (Be-)Griff zu bekommen, sie um so weiter in die Ferne rücken. (Neue Zürcher Zeitung, Dienstag, 20. Oktober 1998, Nr. 243, Besprechung zu: Lesen und Schreiben) |