Peter Waterhouse

Bausteine zu einer Poetik des Kontinuums




Oh Gott, allgegenwärtge Quelle
Von aller Schönheit, so die Welt
In ihrem weiten Kreis enthält,
Wie groß ist deine Macht! Was zeiget jede Stelle
Uns für Veränderung! wie ist der Unterscheid
So unbegreiflich groß! o Mensch, besinne dich,
Der du bisher, betrogen durch den Schein,
Das Feld nur überhin, als wär es grün allein,
Unachtsam angesehn, es bloß begrast geachtet,
Und so, wie ohne Lust, auch sonder Dank, betrachtet!

Leserin oder Leser des Barthold Hinrich Brockes, du müßtest doch sogleich, in diesem Gedicht von der Wiese, wissen, was das Allgegenwärtige ist, sagen wir: dich dann umschauen, in einem bestimmten Gasthaus, wie damals wir, und aus den Tischen und Sesseln, aus den Tischtüchern, aus Salz und Pfeffer, aus den österreichischen Zahnstochern, und aus Gläsern und Wein, aus den allgemein Sprechenden (zwischen dezidiert, deplorabel und Dialekt) und Essenden, aus den Köchen und Servierenden, aus der kroatisch bestimmenden Wirtin, auf etwas schließen, das größer ist als du, größer als du. Oder kleiner. Allgemeiner. Spezifischer. Dieser Hamburger Senator sagt: alle Orte sind göttliche Orte, bilden eine totale Heimat (Ritzebütteler Blendung). Der Protestantismus kennt ja keinen Vaticanus, den Hügel der Weissagung, den achten Hügel von Rom, nicht, auch kein Lourdes und die Marienerscheinungen, auch keine Identität von Mekka oder die genaue Wegkreuzung oder den genauen Bauplatz. Sondern: Ich denke hier auch an eine Dichtung wie jene des Biagio Marin, den Blick auf die Adriainsel und die Landschaft des Friaul; wie kommt diese Welt in den Gedichten zur Sprache: als Altar und Kirche. Die Blumen, Sträucher, Bäume, Bäche, Vögel, Häuser und die dort Wohnenden sind zusammmen ein Kirchhaus = katholikos, allgemein gültig, Kirche hier in der Etymologie von Zirkus, Umkreis, circus elucens. Wie anders dagegen liegt, fast in derselben Landschaft, wenig weiter nordöstlich, auf der Hochebene des Karst, über dem Golf von Triest, gegen Ende von Peter Handkes «Die Wiederholung» das Holzboot als Wunder und als wunderwertiger erhobener, teurer Ort da, mit dem Namen Bundeslade: «und dann am Grund des Dolinentrichters zu deinen Füßen, zwischen zwei Felsbrocken, die ganz wirkliche, mehrsitzige halbverrottete Barke samt Ruder entdecken, und sie, den Teil für das Ganze, unwillkürlich, du bist nun so frei, bedacht haben mit dem Namen BUNDESLADE.» Lourdes bei Triest; dagegen Brockes:

Indem in mancher grünen Tiefe
Mein Auge hin und wieder liefe,
Macht eine dunkel grüne Stelle
Die liebliche «Vergiß mein nicht»,
Fast wie ein kleines blaues Licht,
Mit holdem Schimmer, gleichsam helle.
Die Himmelblaue Farbe machte,
Daß ich, voll Frölichkeit, auch an den Himmel dachte.
Der Sternenförmige fast güldne kleine Schein
Im Blauen, schien mir recht ein Sternen-Bild zu seyn.
Ich freu mich über dich, holdseligs Blümelein!

Von der Unterscheidung schon zur Allgegenwart! Eine dunkelgrünere Stelle in der Wiese, genauer besehen ein wenig blau, eine kleine Blüte ist es, die sich in einer allgemeinen Wiese unterscheidet, sogleich wird der Gedanke an den Himmel, an die Nicht-Blume, Nicht-Wiese, der Blumen und Blüten Nicht-Identität. Aber warum jetzt die Nicht-Identität? Das ist ein bißchen Methode, Wahrnehmungsmethode, Erkenntnisprinzip, Dasein; und es klingt auch ein bißchen lustig -

Wie lieblich sind des Grases grüne Spitzen,
Die theils gebogen sind, und theils gerade stehn;
Zumal wenn sie bestrahlt vom Licht der Sonne, blitzen,
Wodurch die Hälfte gelblich grün,
Die andre grünlich weiß, ja oft wie Silber, schien.
Wobey ich, wie gesagt, den drey belaubten Klee
Mit Lust so dicht verschränket seh,
Daß hin und wieder kaum durch ihrer Blätter Ründe,
Die ich bald groß, bald klein, mit tausend Anmuth finde,
Des Grases zarte Spitzen dringen. Gewiß, es kann ein solcher Platz,
Mit zartem Klee bedeckt, uns einen reichen Schatz
Von Anmuth und Vergnügen bringen.
...
Wenn hier ein Busch getheilt und da gespitzet stund,
War dort ein anderer, der rund,
Bey welchem man oft fern, oft nah
Verschiednes niedres Buschwerk sah,
Wovon der dunkeln Schatten Menge
In unterschiedner Breit' und Länge
Sich Strichweis auf die Wiese streckte,
Und hier und dort das helle Feld bedeckte,
Wodurch denn auf hell-grünem Grunde,
Durch die mit Licht vermengte Dunkelheit,
Ein' Anmuthreiche Lustigkeit,
Die alles rings umher erfüllt', entstunde.

Zu dieser Lustigkeit mehr zu sagen, gehe ich zu dem Staub und einem staubgrauen Tag. In seinem Vergnügungsbuch - welches Vergnügen ist das? - sagt Brockes, daß nicht nur der Himmelsraum und der Sonnenschein und die Größe der Planeten bewundernswert sind, sondern auch ein Stäubchen. Ein staubgrauer, ein trüber Tag war es einmal - man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen -, die Weckuhr hatte nicht geläutet, die Zeit war verschlafen, die Zugabreise versäumt, - als es an der Wohnungstür läutete. Gregor brauchte nur das erste Grußwort des Besuchers zu hören und wußte schon, wer es war - der Prokurist selbst. Warum war nur Gregor dazu verurteilt, bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten Versäumnis gleich den größten Verdacht faßte? Genügte es wirklich nicht, einen Lehrjungen nachfragen zu lassen - wenn überhaupt diese Fragerei nötig war -, mußte da der Prokurist selbst kommen, und mußte dadurch der ganzen unschuldigen Familie gezeigt werden, daß die Untersuchung dieser verdächtigen Angelegenheit nur dem Verstand des Prokuristen anvertraut werden konnte?

Zur anmutreichen Lustigkeit; einmal machte die Akademie für Sprache eine Reise nach Casarsa (wieder die Landschaft des Friaul). Warum Casarsa? Was war gemeint? Ist nicht dort, nachdem im Zweiten Krieg die alte Stadt - die Brombeerstadt - durch Bomben zerstört wurde und nachdem die große Durchfahrtstraße Jahrzehnte hindurch breiter wurde, bereiter, und von immer mehr Lastwagen und immer mehr Bussen und immer mehr Automobilen wichtiger und wichtiger und lauter und schneller, ist nicht dort die Rebarbarisierung weitergeschritten, mitten durch den Genius, der die Menschen durchs Leben begleitet/begeistert? Und später, nachdem Pasolini den Ort verlassen hatte, ist der nicht fast römisch geworden, borgata ohne Zentrum, radikaler als Rom? Eine Antwort auf die Freude? Viel südlicher, aber es schneite stark, schrieb Pasolini von der weiteren Entstofflichung des Ortes oder der Sitten, des Panzers, und der Sprache, von einer heftigen Entidentifizierung, von, vielleicht, der anmutreichen Lustigkeit -

die Geschichte von Ninetto, dem kalabresischen Jungen, der zum erstenmal erlebt, wie es schneit. Wir waren gerade in Pescasseroli angekommen, die weiten Schneeflächen hatten bereits, aus reiner Überraschung, bei ihm eine für sein Alter (er war sechzehn) etwas zu kindliche Freude hervorgerufen. Doch als die Nacht hereinbrach, wurde der Himmel unversehens weiß, und als wir das Gasthaus verließen, um in dem kleinen, zu dieser Stunde verlassenen Ort noch ein wenig spazierenzugehen, belebte sich plötzlich die Luft; in einer seltsamen optischen Täuschung - denn die Flocken fallen ja nieder - scheint man zum Himmel emporzuschweben, doch unregelmäßig, da sie nicht stetig fallen, ein jäher Bergwind versetzt sie in Wirbel. Blickt man nach oben, so wird einem schwindlig. Es ist, als käme der ganze Himmel auf einen herab und löste sich auf in diesem glücklichen und wilden Fest des appeninischen Schneefalls. Man stelle sich nun Ninetto vor: Kaum nimmt er das nie gesehene Ereignis wahr, dieses Sichauflösen des Himmels über seinem Kopf, und schon überläßt er, den keine gute Erziehung hindert, seine Gefühle kundzutun, sich einer zügellosen Freude. Sie durchläuft sehr schnell zwei Phasen: zunächst eine Art Tanz mit genauen rhythmischen Zäsuren (das erinnert mich an die Dinka im südlichen Sudan, die mit den Fersen auf den Boden stampfen und mich seinerzeit an die altgriechischen Tänze erinnert hatten, wie man sie sich beim Lesen der Verse klassischer Dichter vorstellt). Er stampft kaum merklich, er deutet ihn gerade nur an, jenen Rhythmus, der die Erde mit den Fersen schlägt, indem er sich in den Knien auf und ab bewegt. Die zweite Phase ist vokalisch: sie besteht in einem kindlich-orgiastischen Freudenschrei, der die Höhepunkte und Zäsuren jenes Rhythmus begleitet: «Hè-eh, hè-eh, heeeeeh!» Ein Schrei also, der keine schriftliche Entsprechung hat. Eine Vokalität, die sich einem Memoriellen verdankt, das den Ninetto von heute in Pescasseroli mit dem Ninetto in Kalabrien - einer Randzone, die sich Reste der altgriechischen Kultur bewahrt hat - und mit dem vorgriechischen, rein barbarischen Ninetto, der die Fersen auf den Boden stößt, wie es heute die vorgeschichtlichen, nackten Dinka im südlichen Sudan tun, in einem Kontinuum ohne Unterbrechung verbindet.
(Ketzererfahrungen)

Die Freude ist eine Auflösung des festen Himmels, und die Freude ist ein Kontinuum. Ich meine hier eine Akademie der Disfiguration; doch wie soll sie sich darstellen? Ich gebe ihr die Gestalt zweier Sätze aus dem Oktober 1803:

My nature requires another nature for its support, and reposes only in another from the necessary indigence of its being. Intensely similar yet not the same must that other be; or, may I venture to say, the same indeed, but dissimilar, as the same breath sent with the same force, the same pauses, and the same melody pre-imaged in the mind into the flute and the clarion shall be the same soul diversely incarnate.

Mein Dasein verlangt, als Halt, ein anderes Dasein, erneuert sich nur dort vom notwendigen Ungenügen seines Zustands. Heftig ähnlich muß dieses andere sein aber nicht gleich; oder, wage ich es so zu sagen, eigentlich gleich, aber unähnlich, wie der gleiche Atem, der mit gleicher Kraft, den gleichen Pausen und der gleichen, vorgedachten Melodie in die Flöte geschickt wird, und der Klang wird die gleiche Seele sein in unterschiedener Verkörperung (unterschieden gefestigt, unterschieden identifiziert).

Die gleiche Seele in der verschiedenen Verkörperung. Warum braucht es in der «Anima poetae» von Coleridge die Unterscheidung und Verwandlung? Because of the necessary indigence; das ist ein notwendiges Ungenügen des Zustands. Ungenügen? Indigence? In seinem lateinischen Ursprung meint das Wort: dürftig, darbend, arm, ermangelnd, auch: im Elend sein, auch: verlangen und wünschen. Aber zugleich heißt es: einheimisch, inländisch. Also: mein ungenügendes inländisches Dasein verlangt, als Halt, den Anschluß an ein genügendes ausländisches oder sogar europäisches Dasein. D.h. verlangt Erinnerung. Woran?

Ich ging in die Abendlandschaft. Der Kanal nahm das Himmellicht in sein berührbares Wasser: hier für dich. Der Baum verwandelte das Haus. Die Tankstelle leuchtete aus zwei Tankstellen. In der einen Ferne rauschte die Schnellstraße, in der anderen Ferne rauschte die Eisenbahn. Dort und dort. Ferne Brücke. Die Hochspannungsleitung maß die Entfernung, jedoch sie nahm keinen Anfang und kein Ende. Die Nesselblätter wippten, und die Felder taten es ihnen gleich. Die Grashalme leuchteten wie die Abblendlichter. Ich sah die Drehung der Blume. Eine Blüte drehte sich und war ein drehender Wagen, zuerst sah ich das Weiße, dann, rot, das Rücklicht. Die Landschaft fuhr über die Autobahn in zwei Richtungen. Die Stadt dort ist hell wie hier das Zifferblatt auf meiner analogen Uhr. Licht und Licht. Der Industrieschornstein war aus der nahen Reihe der Zaunpfähle gerückt, aber ein Erstens und Zweitens, ein So und ein Anders, ein Groß und ein Klein, ein Handausstrecken und ein Meilengedanke, ein größeres Gespräch, ein Wort für den Zaun hier und ein Wort für den Schornstein weit, ein Wort für die Landschaft und ein Wort für den Betrachter, ein Betrachter-Anderes, Holzzaun-Anderes, Augen-Anderes, das alles war gefunden. Es war Stunde der offenen Tür. Von den Worten 'helles Fenster' wurde das Fenster heller. Von dem Wort 'Plakatwand' kräftigten sich die Farben des Bilds. Von dem Wort 'Eisenbahn' wurde das Rauschen metallischer. Von dem Wort 'Flugzeug' blinkte dieses eindringlicher und mit weiteren Lampen. Von dem Wort 'Landschaft' ging ich schneller. Von dem Wort 'Weg' ging ich in das Wiesengras. Von dem Wort 'Wiesengras' blickte ich zurück, und die Hügelkette war blau, und es sprang ein kühler Wind heran. Und von dem Wort 'blau' ging das Licht fort. Und von den Worten 'dunkelroter Nachtbeginn' ging ich zurück zum weißen Wagen und nahm Platz in ihm. Ich schaltete die Scheinwerfer ein, und draußen die schwarzen Brombeeren leuchteten auf. Ihr Schwarz leuchtete, und ich wollte solches der Sprache verdanken. Aus den Brombeeren melanosis, aus den Scheinwerfern leukosis, aus dem Himmel iosis; Schwärzung, Weißung, Rötung.

Die Wiese, das morgendliche Zimmer, das verletzte Casarsa, das schneiende südliche Dorf, die andere Natur, die Ebene der Alchimie - Orte - Orte. Wie wird man sie vereinen? Oder muß man sie isolieren? Soll man lesen oder buchstabieren? Haben Sie einen gemeinsamen Kern? Wohin kommt der Geher in den Wald und in den Garten? Diese vielen Wörter für Orte. Weben denn die Nymphen und sind die Bienen unterwegs? In der Österreichischen Nationalbibliothek findet der Leser unter dem Stichwort 'anonym' ein Konvolut von Gedichten unbekannter Autorschaft angegeben. Es sind, bestellt man diese Mappe, zumeist handgeschriebene Gedichte aus der Zeit der sogenannten Ersten Alpenrepublik, darunter ein längerer, zumeist unklarer Text mit dem Titel 'Die Erzählung vom Benzin'; eine Abhandlung über Isolation und den Rausch des Zusammenhanges, wie sich herausstellt, oder über das Rauschen, oder dem Rausch widerstehend, das heißt, amethystisch, dem Met widerstehend, eine Art Hotel Kontinental -

Die Erzählung vom Benzin

schuldig der Wiesen und Bäche, schuldig der Blumen, schuldig des Himmels, der Straßen, Häuser, Hügel, schuldig der Brennesseln, schuldig der Schnecken, Bäume, Kiesel
30. August. An der Einmündung der Badener Bundesstraße in die Triester Reichsstraße, zwischen den Ortschaften Guntramsdorf und Traiskirchen, ereigneten sich heute zwei furchtbare Autounfälle, die zusammen vier Todesopfer erforderten. Fünf Personen wurden außerdem schwer verletzt.
Der erste Unfall spielte sich gegen 9 Uhr vormittags ab. Um diese Zeit fuhr der Wiener Fleischhauer Haselmeier, 16. Bez., Koppstraße 36 wohnhaft, mit seiner Frau und drei Angestellten in seinem Personenauto in der Richtung nach Wiener Neustadt. Das Auto wurde von dem Fleischhauergehilfen Hellebard gelenkt. Bei der Einmündung der Badener Straße kam dem Auto ein mit zwei Personen besetztes Motorrad entgegen. Die Fahrzeuge stießen mit solcher Wucht zusammen, daß das Motorrad vollständig zertrümmert wurde.
Um 5 Uhr nachmittags trug sich an der gleichen Stelle ein noch folgenschwererer Zusammenstoß zweier Autos zu. Der Wiener Obst- und Gemüsehändler Cardillo vom Naschmarkt, der mit seiner Familie in Baden den Sommer verbracht hatte, befand sich mit einem vom Chauffeur Schedelbauer aus Wien gelenkten Taxi auf der Heimreise nach Wien. Im Wagen saßen außer ihm seine Gattin Elisabeth, seine 9jährige Tochter Nunzia, die 28jährige Kinderpflegerin Oder und seine drei Monate alten Zwillingskinder Salvator und Maria. Unweit der Einmündung der Badener Bundesstraße fuhr das Auto mit dem entgegenkommenden Mietwagen des Chauffeurs Schlegelbauer zusammen. Die Wirkung des Zusammenstoßes war furchtbar. Die beiden Fahrzeuge verkeilten sich förmlich ineinander. Der Chauffeur Schedelbauer war auf der Stelle tot.

Und ich stand unter einem blauen Himmel
nahe jener Stelle.
Klärte ich eine Schuldfrage?
Sehr schwere Wagen
sehr schwere Verletzungen
schwere Gefühle.
Der Fleischhauer, ein Mann, ein Mann,
die Pflegerin, eine Frau Oder.
Auf den Lenkrädern der vorüberfahrenden Limousinen
lagen die Hände, und ich sah die Gesichter
von Männern, Frauen
aufmerksamen Fahrern.
Ich stand in einem katholischen Land
und an einer mit den Verboten geregelten Kreuzung
und die Blumen die ich sah
waren geschriebene Gesetze.
Und die Gewalt fuhr
und das Fahren war wie ohne Gewalt
dann das Fahren war blau
und es war gelb und blau
und es war schwarz
und es war auch schnell
wie Licht von der Sonne herab auf die Blüte
die davon größer wird und offener
gewaltlos. Die Straße ebenmäßig
wie wenn ein nachtblauer Teppich geknüpft wäre
in vielen Tagen Arbeit Fäden die Finger berührt hätten
durch die Hände gekommen wären
ohne Hitze, ohne Funke, ohne Bindemittel
immer Fäden und Fäden
und der Teppich die Straße wieder einzurollen wäre
und das blaue Dach auch wieder zu bündeln
und auf dem Rücken eines Tieres mitzunehmen
am anderen Ort.
Die Straßenschilder provisorisch aufgebaut,
wohin sie zeigen
dahin könnten sie mitzunehmen sein.
Nicht absolut gelten hier
das rotrandige oder notwendige Dreieck
welches von drei Schrauben gehalten wird
und in einem Winkel schon ein wenig rostet
wer sieht den Rost?
Gewaltloser Rost.
Oder die Tankstelle ist verlassen worden
die Zapfsäulen abgebaut
die Hütte geschlossen
und jetzt beginnt die Tankstelle zu schweigen
oder ein weißes Wort zu schreiben.
Klärte ich eine Schuldfrage
denn ich war jung und wie geboren
und ich schien sehr absolut gültig
eine Art Limit
oder Ausgangspunkt der Rennbahn
und sehr gerne gezeugt
daß ich es noch spürte.
In bestimmten Minuten hielten die Wagen
und ich hörte aus ihnen, den sehr leisen
und das Seitenglas war gesenkt,
die Gespräche der deutschen Sprachen
die Höflichkeit und die Unterhaltsamkeit
selten die Ausgelassenheit
manchmal die Weisung.
Immer waren es Gespräche
zwischen Fahrer und Frau
nie zwischen Fahrerin und Mann.
Es war Deutsch
ich war jung und wie geboren,
ich wie einer ohne Gewalt
begegnete den deutschen Sprachen, die wie ohne Gewalt waren
was ist damit gemeint
oder wer ist damit gemeint,
solche Fragen klangen selbstverständlich,
im Wagen sagte einer Baum oder blau
und ich wußte
wenn ich auch noch nicht fasziniert war.
Ein Wagen stoppte
ich hörte: heute, jetzt.
Ein Wagen stand
ich hörte: wir, du.
Dann wurden die Wagen schnell
und das Schnelle war gespeist vom Können des Fahrers
und vom Glanz der Fingerringe
Schmuck, den die Frauen besaßen.
Und über die geknüpfte Straße fuhren sie
und knüpften noch viel mehr
und ich stand von der Schönheit der Straßenlandschaft belohnt.
Ich nahm diesen Lohn
eine Art Geld
und konnte damit zahlen
denn um mich kostete alles.
Bettler an der Straßenkreuzung
und ich bettelte fast nicht
sondern war aufmerksam.

Und zwischen dem Himmel und der Erde
ruhte oder schwebte ein Halbwert
ein See oder die Seelen der Verstorbenen
oder ein abgewendetes Gesicht
auch eine Gottes- und Menschenliebe
eine fremde Unterhaltsamkeit
eine seltene Ausgelassenheit
eine Weisung
und das Dorf der Blumen mischte sich hinauf
und das Geräusch der Ebene mischte sich hinauf
und der blaue Verbrauch der Wagen mischte sich
und die Gewalt machte es zittern und schwingen
und lebendig werden.
Die Gewalt weckte die Toten
und ich stand nahe.
So lebte ich
geweckt von der Gewalt.
Und dem vorüberkommenden Schutzmann oder Gendarmen
aus Frankreich oder dem ferneren Osten
vorn Land am Atlantik oder einer Stadt wie Czernowitz
ihm sagte ich
wo ein Unfall des Verkehrs geschieht
da gewiß geschieht der nächste.
Das ist wie wenn gewiß in Liebe ein
da wird ihm die Liebe begegnen.
Ist nicht Napoleon über diese Felder gezogen
mit ungefähr achtzigtausend Männern
und jetzt Sie, Herr Gendarm?
Und zuvor ich, Herr Gendarm?
Und vor Ihnen und mir die Bewohner des Dorfs
und dieser Straße
Liebende, Liebende
und die Quecken und Quitten
und Weizen
und die Welle durch den Weizen?
Fällt nicht hier das Sonnenlicht stärker
als in den Frieden?
Ist nicht hier der Sommer besser?
Das Bett ist bereitet
und wir legen und setzen uns
in weiße Tücher
in Dampf, Rauch und Lärm
mitten in ein Vogelnest einer Schuld,
klingt nicht drüben der Regner der Felder
nach dem kindlichen Schnellgewehr
und fallen nicht fast in Vollkommenheit
wenige Tropfen auf unser Kreuzbild
unseren katholischen Steh- und Schauabstand
und wir atmen, weil das Herz Stein
und von einer Kugel getroffen?
Hauch, zwischen der Erde, dem Himmel.
Mein Stein, von Schuld getroffen.
Ein immer näher Stehen
und immer näher zum 30. August.
Und die Kirschbäume tragen die Kirschen
und die Bienen, von Fremdhand hierher gebracht,
tanzen, und die Blüten neigen sich
und Wind weht.
Die Bienen, die Blüten, der Wind -
sind nicht die Worte wie ein Urteil gesprochen
'Kirschen tragen',
'den Bienen zusehen beim Tanz',
heißt das nicht leise auch:
verurteilt zu?
Und wer einen Baum anschaut
hat der Recht?
Und wer den Feldweg geht
ist der entlassen?
Geht er nicht in einem Kirchhaus,
und ist der Bach absolut?
ist nicht über diese Felder der
und seine gezogen
der den Beton und die Bunker hinterließ,
und sie sind jetzt starr wie die Toten
und sie sind unzerstörbar wie die Toten.
Kein Auge schaut.
Ist nicht der Himmel gläsern, glasig?
Wer zieht dann den weißen Schnee über das Geschehen?
Tot. Lebendig.
Benzin.
Benzin trinken
tanken.
Und wer einen Baum anschaut,
hat der Recht?

Und die Landschaft war eine Gemischbildung.
Bäche Kohlenwasserstoff.
Tankstellen-crack.
Flußmündungen, Getränke.
Und die Formbeständigkeit
und die Oberflächenbildung
und die Kohabitation
und der große große Schlaf
und der grüne Kohinoor
die diamantene Hochzeit,
die Sporangien öffneten leise
und streuten ihre winzigen Inseln ins Ägäische Meer.
Blaues Benzin.
Pilze und Farne.
Blaues Benzin ein Mamma-Meer,
trinken schlafen streuen
ziehen über die Felder
mischen steuern und die Hände auf einem Lenkerrad
und von einem Mittelfinger blitzt der Ring,
und die Kollision öffnete ihr festes, unzerstörbares Sporangium
und an einem 30. August
betrunken von Benzin
fahren zwei aus dem Dampf, Rauch und Lärm
zwei Wagen, zwei Pilze
zwei oberflächenfeste Blumen
aus ihrem Gemisch
fahren in einen blauen Himmel
aus einer Schwere - heureka -
an einer Einmündung
in eine Isolation
unter der direkten Einstrahlung der Sonne
zu ihren Inseln Insomnia und Insomnia.
Ich stand an einem Straßenrand
ich war geweckt. Corpus iuris.
Insulaner, die bewaldete Höhe
aus Trümmerschutt eines Zweiten Kriegs.
Sie fuhren, flogen, in einem blauen Himmel
waren zweimal das Pfeilgift
die kleine glitzernde Menge
Curare, mich zu kurieren.
Dosis. Und ich wurde nicht.
Nicht Kollision: Prokuktion geschah
in der Agonie. (Agonietropin-Releasing-Hormon)
Nicht Kollision, und es flogen wie Pfeile
Enzyme und Enzykliken und Pollen.

Aus eins mach zwei.
Im gelben Monat der Vermehrung.
Zwei Wagen (Wogen) blühten im August
unter einem blauen Himmel
in Weizenfeldern, Körnerlockerung
Samenbewegung. Ich sprach die Sprache
ich warf meine Körner in die Luft
und die Wagen, in einem letzten Moment
drehten und kamen nicht ans furchtbare Ziel.
Konstellierten oder destellierten
destillierten, verschiedene Tropfen.
Und sie wurden still,
leise Bedeutung, stiller.
Ich stand an der Einmündung,
an Bundstraße und Reichstraße,
sechzig Jahre nach dem Ereignis
einhundertachtzig Jahre nach dem Marsch
und die Stelle wurde still
und ich isoliert
leise.
Europameister der Stille.
Förmlich ineinander;
und ich isoliert
und sehr froh erzeugt
daß ich es noch spürte
spürte spürte.

Häuser, Wagen, Wege,
jedes Haus ein Wort
jede Tür ein Wort
jedes Fenster,
die neuen Blumen, draußen,
dienten einem Fahrer als Worte
daß er sagte Wiesen, Landschaft.
Ich, den Sprechern der Wagen dienend
hieß: wer geht dort
wer ist das
was will der
wo will der hin
schau!
Meine Hose: so schau, seine Hose,
mein Hemd: schau sein Hemd.
Du bist jetzt erkannt
auf frischer Tat ertappt,
und frischer rollte Wagen um Wagen.
Es muß einen geben der nichts sagt,
wir haben dich gefunden,
es muß einen geben der stumm ist,
wir haben dich gefunden
zuerst nur gefragt: wer geht dort
wer ist das
was will der
zuerst nur gerufen: seine Hose
sein Hemd,
aber dann doch gewußt:
da geht der Bienenkönig
und der Himmel war königsblau
und die Bäche schon meerblau
und die Landschaft leuchtend
die Scheunen heller glänzend
die Neonflächen erlöschend, blinkend
das Flugzeug plötzlich leise
die Häuser geduckt unter Brombeer
nur noch die Schönheit
da geht der Dorfkönig.
Die Straßen, so schnell waren sie ein Kranz
die ersten Abendscheinwerfer schnell Heiligenscheine
die lange Gewalt hat ihren Lohn.
Millionen Worte haben diesen Wagen gebaut
jetzt du bleib stehen;
jetzt du bleib stehen.
Wenn du sprichst, sprich über die Schulter,
hinter dir, die Stadt, die einsame,
hinter der Stadt, die einsame, die Landschaft,
nimm den großen einsamen Lohn,
aber wenn du sprichst, sprich über die Schulter.
(Aber dann doch gewußt.)
Und spritz in dich Insulin.
Und dann besser noch: kein Insulin.
Den Blumenhimmel besprechen wir
die feste blaue Kugel
das metallische Blau,
noch ziehen wir hier hindurch
und weiter dorthin
aus der Isolation förmlich ineinander.
Und es muß die Unschuldigen geben,
die reden vieles,
es muß die stumm sind geben,
die haben Schulden und die sind schwer.
Wir sind leicht
ihr seid schwer.
Und an einer mit Verboten geregelten Kreuzungsstelle
begegnen wir einander.
Und wecken die Stille.
Und ihr trinkt das Benzin.
Unsere Wagen brauchen Benzin.
Kein Bunker für uns, kein Grabstein.
Wir gehen die Stille wecken
und schenken sie euch.
Hier, unser leises Geschenk,
wir waren nicht leise, verzeiht.
Ich stand unter einem blauen Himmel.
Klärte ich eine Schuldfrage?
Und da hatte ich jenes neue Wort
des verzeihlichen Sprechens.
Da zahlte ich meine Schuld zurück,
ohne Worte, nur Zahlen.
Ich sprach verzeihlich: ich zahlte,
zählte, erzählte.
Die Erzählung vom Benzin.

Nicht deutlich genug? Was wünschen Sie, verehrte Zuhörer? Muß man Sie besonders loben? Wie tief würde sich mancher Dichter vor Ihnen verneigen? Wieviele Sprachen sprechen Sie denn? Wieviele Preislieder müssen gesungen werden, daß Ihr Sinn ein bißchen zu gehen beginnt? Verlieben Sie sich denn nie? Haben Sie gar nichts Jakobinisches mitgebracht und gar keines jener Worte aus den Sprachen der Landstreicher? Lassen Sie mich zum Schluß, aus diesen Gedanken über das Kontinuum, zwei kleinere Schlüsse ziehen. - Verlag und Buch erschaffen für manches in der Literatur einen unzureichenden Ort. Für das bibliophil bis räumlich und visuell entwickelte Werk des Bodo Hell, das ich mir hier als Beispiel denke, gehört noch über das, was ein Verlag tun kann oder könnte, hinaus, eine weitere, räumliche, zeitliche Dimension erschaffen, ein Ort für Sprache vor allem unter allen ihren Bedingungen des Stillen oder Ziellosen, besser noch für das Wimperförmige der Sprache. - Und dann: in Österreich, jetzt fällt also einmal der Landesname, wird zu wenig übersetzt. Und mit Übersetzung ist gemeint: seine Sprache verlieren, zugunsten von - Kontinuum. Ungeschickt werden, defizitär, mit sich uneins über die Übersetzbarkeit, ungeduldig, zornig, den Tag fast verderben, fluchen, quasi aufhören mit Deutsch, weil es den fremden Sprachen so gar nicht zugehören will, einem Kontinuum gar nicht zugehören will. Übersetz bis zum Kontinuum, sagte ich mir eines Morgens und rannte sogleich aus dem Bett zum Tisch zum Schreiben.


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