Michael Braun

Romantische Nachtwandlerin
Einblicke in eine pulverisierte Welt: Jayne-Ann Igels lyrische Prosa «Traumwache»


Michael Braun, Frankfurter Rundschau, 4. Juli 2006

Der literarische Urstoff dieser Dichterin ist der Traum, eine Materie, die keine Begrenzungen kennt, eine Materie auch, mit der die Poeten seit Novalis’ Hymnen an die Nacht an «den Schlaf der Welt rühren» wollen. Die Topographien, durch die sich das träumende Subjekt dieser lyrischen Prosa bewegt, sind instabil, fluid, haben keine festen Konturen, erscheinen als offenes, mäanderndes Gewebe.

Zu der Spezies der romantischen Nachtwandler gehörte 1989 auch ein gewisser Bernd Igel aus Leipzig, der in der Collection S. Fischer unter dem rätselvoll-schönen Titel Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte seinen ersten Gedichtband vorlegte. Die Bewegungsrichtung der Gedichte verlief seltsam zirkulär: Der verästelte Weg dieser traumschweren Texte führte durch düstere Häuser, Wohnstätten, Kellerverliese - und nicht wenige Leser fühlten sich an die tellurischen Expeditionen Wolfgang Hilbigs erinnert. Wie eng die nächtlichen Gänge und Fahrten durch Erinnerungs- und Traum-Häuser mit Motiven des Körpers verknüpft sind, erhellte dann auch 1991 der Folgeband fahrwasser, der den schwierigen Weg einer geschlechtlichen Verwandlung von Bernd zu Jayne-Ann Igel nachzeichnete.

Dann hörte man eine Weile nichts mehr von der Dichterin Jayne-Ann Igel. Sechzehn Jahre nach dem Lyrik-Debüt sind nun in rascher Folge zwei poetische Prosabücher erschienen, die auf berührende Weise an die nächtlichen Illuminations-Phantasien der frühen Gedichte anknüpfen. Sowohl in der Erzählung Unerlaubte Entfernung (2004) als auch in den wunderbaren Vexierbildern des neuen Bandes Traumwache geht es um die Entfaltung einer inneren Topographie, um die Kartographierung von Traumbewegungen und um das «gären von bildern in allen teilen des körpers».

In den Verschachtelungen des Ich

In Unerlaubte Entfernung will ein traumverlorener junger Mann, der von seiner Mitwelt als ewiger Spätling und «sozial retardierter» Zurückgebliebener behandelt wird, endlich einen Zugang finden zum gesellschaftlichen Leben der späten DDR. Immer stärker gerät der junge Mann, der hier «b.» genannt wird, in eine anthropofugale Drift, in eine immer größer werdende Entfernung gegenüber allen Regelsystemen dieser Gesellschaft, bis er sich schließlich eingestehen muss, dass er «sich aus der Mitwisserschaft bzw. -haft der Menschen zu lösen» beginnt. Am Ende steht die «unerlaubte Entfernung» von der Truppe, die misslingende Desertion.

Bereits vor der Arbeit an dieser Erzählung hatte Jayne-Ann Igel mit den ersten Notizen zu den phantasmagorischen Protokollen des Bandes Traumwache begonnen. Hier ist das somnambule Ich, das zwischen wechselnden Identitäten changiert, unterwegs als «wiedergänger zwischen ortrand und ruhland», eine Nachtwandlerin, die in den «Verschachtelungen des Ich» nach Offenbarungen sucht: «…– wo sind sie, all die traumhäuser, wachräume, so sie nicht schon abgerissen sind?» Als «verteiler von träumen und reflektionen» durchquert das Ich die düsteren Quartiere, Straßen und Wege in Leipzig, in Kleinstädten der Oberlausitz und im «chemiedreieck» zwischen Bitterfeld, Leuna und Halle. Es sind verschiedene Ich-Instanzen und Zeit-Schichten, die hier ineinander fließen, ein personifizierbares, autobiographisches Subjekt wird bewusst aufgelöst.

Die Traumwache gewährt so nicht nur verstörende Einblicke in die Kellerverliese der Kindheit, sondern auch in eine pulverisierte Welt, deren «irdener Rücken zu Staub zerrieben ist». In der offenen, mäandernden Struktur der Traumwache wird uns buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Jayne-Ann Igel zeigt eindrucksvoll, dass ein modernes poetisches Bewusstsein keinesfalls einem «relevanten Realismus» gehorchen muss, um unser Bewusstsein herauszufordern.

Eine hellwache Traumwandlerin genügt. Wenn dereinst die Forderung Walter Benjamins aus seinem Surrealismus-Aufsatz eingelöst und die Geschichte des Traums geschrieben wird, wird man sich auch der lyrischen Prosa Jayne-Ann Igels erinnern müssen.



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