Sibylle Cramer

Wie eine Spinne den Faden spinnt
Eine große Gestalt der klassischen Moderne Amerikas:
Mit «Kein Schwan so schön» findet Marianne Moore im Garten der Phantasie wirkliche Kröten


(Süddeutsche Zeitung, 9./10. Februar 2002)

Als Marianne Moore 1972 im Alter von 87 Jahren starb, verlor das Intellektuellenmilieu New Yorks sein Wahrzeichen. Eine fremdartige Erscheinung, die in altertümlichen Wendungen redete, jahrein jahraus platte, eingedellte Hüte und Kleider aus zweiter Hand trug, so wird sie von ihrer Freundin Elizabeth Bishop beschrieben. Bei einer Lesung mit William Carlos Williams lernte sie die «anderweltliche», baseballbegeisterte und durchtrieben komische Tochter gottesfürchtiger Presbyteria-ner kennen, die in Kirkwood/Missouri geboren war und ihr Leben in der Gesellschaft ihrer frommen, feierlichen Mutter in der kleinen Wohnung zunächst in Brooklyn, später in Manhattan verbrachte. Hans Magnus Enzensberger hat sie seinerzeit in sein Museum der modernen Poesie aufgenommen. Sein Fingerzeig blieb folgenlos.
Nun entdecken wir Gedichte, deren epigrammatischer Geist an Emily Dickinson erinnert. Aber sie gehen wie die «Old Glory» durch alle Schicksale und Wetter dieser Welt, bevor sie unter voller Takehage anmutig davonfliegen. «Wie ein Bollwerk» heißt das allegorische Seestück, das den Begriff Paradox ins Bild übersetzt. Es ist nicht das stärkste der Gedichte, die Jürgen Brôcan in den Auswahlband aufgenommen hat, verrät aber auf den ersten Blick ihre Methode. Sie verlässt sich auf die metaphorische Energie der Dinge und das Ausdruckspotential ihres sprachlichen Rohmaterials. Die Worte öffnen ihren Laut- und Farbfächer und zeigen ihre Schätze her, die Farbigkeit dunkler Akkorde. Aus knallenden Assonanzen, stimmlosen Konsonanten und einsilbig gestauchten Wortquadern entsteht vernehmbar und sichtbar eine Festung, die in der Schlusszeile im wehenden Lüftchen von Hauchlauten davonschwebt. Die Sprache entfaltet bis an die Grenze zu reiner Materialität ihre Eigenenergie, ohne ihren semantischen Dienst zu kündigen und den Schritt in die konkrete Kunst wirklich zu vollziehen.
Marianne Moore schreibt Verse, die Beiträge sind zu jenem aus alter Zeit heraufkommenden Gespräch über Kunst, von dem in einem ihrer Gedichte die Rede ist. Die essayistischen Spaziergänge des Intellekts erörtern Begriffe wie Wahrheit, Anmut, Stil und das Vermächtnis von Poesie und Wissen, Forschung, Experiment, Rationalität. Offenkundig unterstellt sie ihr Schreiben dem moralischen Diktat, neigt zu frommen Sentenzen und beleiht unbefangen die Bildsprache der Erbauungsschrift, wenn sie von der «heilung der sünden», dem «löwen des herrn», «gesegnete(n) taten» und der «krone der liebe» spricht. Doch selbst wenn sie den Stern Davids anruft und an das Judas-Verbrechen gemahnt, entstehen Sprachspiele, deren «gewissenhafte inkonsequenz» und sprunghaft freie Form der Fortbewegung die Ungebundenheit der das Leben Erlernenden verraten.

Schleier des Spiegels

Sie vertraut die Statik des Gedichts dem gewichtlosesten und semantisch schwächsten Element der Zeile an: der Silbe. So sorgt sie für die permanente Verspätung des Sinnbildungsvorgangs. Der Eigenenergie der Wörter wird Raum gelassen. Die Gedichtsprache vor allem der frühen und mittleren Arbeiten ersetzt die metrische Formung der Wörter durch eine syllabische Ordnung des Verses. Der Geschlossenheit von Sinnbauten, der unvermeidlichen Reduktion komplexer Wirklichkeit im logischen Muster und grammatischen System, der Wahrheit von Tatsachen setzt sie ein offenes Netzwerk entgegen, das die Argumentation an einen Lesevorgang bindet. Er gilt dem ausgelegten sinnlichen Material, das ähnlich wie im Gleichnis das Verstehen in Anschauung verwandelt, ohne freilich jenem untergeordnet zu werden. So wird die begriffliche Feststellung, die das Gerüst ihrer Gedichte ist, um feinste Differenzierung ergänzt. Ähnlich geht heute die unter Lyrikkennern hochangesehene Brigitte Oleschinski vor.
Sie selbst spricht von der «harten würde jener spiegelfechterei, die die umstände ('opportunity') übertrifft». Das betreffende Gedicht, «Jene verschiedene Skalpelle», erörtert ihre Methode. Marianne Moore kreuzt den moralischen Traktat mit dem schwerelosesten aller Gegenstände, dem Schleier. Die syllabische Symmetrie bei strophischer Bindung des Gedichts, stufenförmig eingezogenem Zeilen-anfang, feinsten Echowirkungen vor allem des Binnenreims und der Assonanzen und einer Vorliebe für Gänsefüßchen, mit denen sie ihre Form der Vielstimmigkeit durchsetzt, all das sind Kennzeichen ihres Gedichts. Sie ist unter den modernen Klassikern Amerikas die große Spinnkünstlerin. Das Gedicht, das Jürgen Brôcan an die Spitze seiner Auswahl setzt, erinnert beiläufig, möglicherweise unwissentlich, an Ovids Arachne, die im Wettstreit mit Pallas Athene einen Schleier spann, so vollendet schön, schöner als die göttliche Schöpfung. Das zahlten die Götter ihr heim. Sie verwan-delten die anmutige Künstlerin in eine
hässliche Spinne.
Ein Glücksfall der Vermittlung und Übertragung fremdsprachiger Poesie, den Eindruck vermittelt die zweisprachige Auswahl auf den ersten Blick. Der Übersetzer Jürgen Brôcan stellt die programmatischen Gedichte an den Anfang, die grundlegende Begriffe bestimmen, Schönheit, Wahrheit, Dichtung, Kritik und Kunstkennerschaft. An der Spitze ein Selbstporträt der Poesie Marianne Moores: «Der Turmarbeiter». Die Übersetzung lässt Zeile für Zeile feine Lösungen des prinzipiellen Gleichgewichts-problems erkennen, das sie zu lösen hat. Wo die deutsche Syntax mit ihren nachgestellten Verb-konstruktionen es erfordert, baut Brôcan die Verszeilen so um, dass die Balance des Strophenbaus erhalten bleibt. Die Änderung des Gedichttitels schmiegt sich der poetischen Demokratie der Worte genau an, genauer als der prägnantere Eigenname des Originals «Steeple-Jack». Schade nur, dass das Schlusswort Hoffnung vorgezogen wurde, das als Schlussakkord eine Abbreviatur des ganzen Gedichts ist. Die dreizehn Sechszeiler entdecken und zeigen dem Leser eine Idylle. Eine Stadtansicht, die alles vermissen lässt, was Städtebilder sonst so gebrauchsfähig macht. Sie erlauben eine rasche Identifizierung und Orientierung und befriedigen prompt das Bedürfnis nach dargestelltem Sinn, denn sie reduzieren die Stadtwirklichkeit zum engen Modell ihrer selbst. So werden trügerische Nachbarschaften gestiftet und die Illusion vermittelt, die gezeigte Welt sei bis in den letzten Winkel erkennbar, durchschaubar, begehbar.
Dagegen setzt Marianne Moore unverbundene Einzelheiten, die sie nach Art des Idyllikers inventarisiert, rund um den Leuchtturm die Tierwelt und die Pflanzen, die das Zentrum des Gedichts in duftige Blumenbeete verwandelt, und rund um den Kirchturm die menschliche Lebenswelt. Die Türme sind die Eckpfeiler eines in die Luft gemalten Aquarells aus respondierenden Klängen, komplementären Farben, dialogisierenden Blicken, korrespondierenden Bewegungen. Der Bildinnenraum füllt sich mit dem Lineament der Meereswellen und Fischernetze, der Grafik des Vogelflugs, der Rasur von Windwirbeln und Luftströmen, den Echoräumen wiederkehrender Farben, Laute und Motive, die einen geschlossenen Resonanzraum erschaffen. Zuletzt spinnt der Blick der Malerin auf ihr Sujet seine Fäden um das verstreute Personal, Steeple-Jack, den Turmarbeiter, der den Stern auf dem Kirchturm vergoldet, die kontemplative, in die Hügel gelehnte Figur des Studenten Ambrose und den Helden des «ausländischen» Romans, den er liest. So wirft die Autorin einen atmosphärisch dichten Schleier über den ins Zeitlose geweiteten Prospekt. Im Kommentar kennzeichnet sie ihr Hoffnungsbild als Artefakt, indem sie es neben Dürers Landschaftsbilder und am Ende des Gedichts in Gegensatz zur Tatsachenwelt setzt. Das Bild ist eine Idylle, nicht aber das Gedicht, das sie zeigt und reflektiert.

Töchter der Zeit

Der Ansicht einer gezähmten Natur im Dunstkreis der menschlichen Zivilisation stellt das komplementäre Gedicht «In den Tagen der Regenbogenfarbe» eine adamitische Vorschöpfung entgegen, in der Adam allein, die Welt unfarbig, ohne Himmelsrichtungen und ungeschieden ist. Dem unstrukturierten Gebilde wird ein Gedankengang über Komplexität und die großen Wahrheiten eingepflanzt, der sich mit dem demiurgischen Anspruch autonomer Kunst auseinander setzt. Das Gedicht schließt mit dem konträren Bekenntnis zur Dichtung als Beitrag zu Forschung, Erkenntnis und Aufklärung, deren Wahrheit und Schönheit Töchter der Zeit sind. Offenbar ist es die Differenz von Kunst und Technik, die Einheit analytischer und synthetisierender Vorgänge im poetischen Akt, das Rätsel einer rational verfassten Kunst mitten im gegenläufigen bildnerischen Prozess, das die Autorin beunruhigt hat. Sie nähert sich dem Problem quasi experimentell. Die «lebende Fabel» vom Pangolin, einer Unterart der Schuppentiere, verrät ihre Liebe zu naturkundlichen Studien und verdankt der zoologischen Systematik, der Morphologie, Anatomie, Genetik, Ökologie und Verhaltensforschung ihre Methode der Beobachtung. Der Blick seziert den Tierkörper, kartografiert seine Lebenswelt, studiert sein Verhalten und findet sich wie von ungefähr im Atelier Leonardo da Vincis wieder, vor den schmiedeeisernen Weinreben in der Westminster Abbey, der Hutkrempe von Gargallos Matadorenkopf und bei Scarlattis «inkonsequenten Sonaten». So entsteht einer jener «imaginäre(n) gärten mit wirklichen kröten», als welche sie anderswo die Kunst bezeichnet. Ein Werkstattbild der Natur, die im Schaffensprozess der Evolution ihre Modelle vollendeter Grazie, Genauigkeit und Anmut hervorbringt.
Jürgen Brôcan komponiert den Auswahlband wie ein Gedicht der Autorin: zu einem längeren Gedankengang über die Kunst. Freilich blättert sie, wenn sie nachdenkt, in Tigerbüchern, wandert durch Operationssäle, die King’s Chapel, den Bostoner Volksgarten, zu Dulcinea von Toboso, dem albernen Schwan unter den Weiden Oxfords, durch die Steinflure französischer Schlösser und ins Konzerthaus zu Gieseking. So dehnt sie mit jedem Vers die Areale ihrer imaginären Gärten, in denen das Leben so ursprünglich ist und zugleich zu gedacht.



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