Elke Erb

Teilräume, Zeiträume, Würfel






Fritz Erik Hoevels holt in seinem Buch Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (Ahriman-Verlag, Freiburg, 1996) unter dem literarischen Gestöber der von ihm untersuchten Texte den Ödipus-Komplex als ihr Grundmuster hervor, so, daß seine Wirksamkeit erkennbar wird. Er beschäftigt sich nur mit Autoren, aber das Muster gilt ja auch für die zwischen Tochter und Vater waltende Erotik. – Mutwillig lasse ich mich von ihm in die Vergangenheit schikken. Älter als drei kann ich in dem aufzusuchenden Gebilde mit Papa nicht werden, weil er 1941 Soldat wurde.
Ich bin also zwei oder drei, er steht und arbeitet draußen: baut den Kaninchenstall, hebt den Graben für die Jaucheleitung in den Garten aus … – Ablenkung: An das Grabenausheben kann ich mich nicht erinnern. – Aber ich wußte die Jauchegrube unter dem Mist. Jauche und Mist kamen aus dem Haus, direkt aus dem Stall (dem Hühner-, dem Ziegenstall). Von dem Bau der Jaucheleitung wird er im Urlaub gesprochen haben. Aspekt: Wird der Krieg einmal aussein, oder war das Sinnreiche sinnlos …? Geschuftet für nichts. Definition des Friedens: Fern wie die goldene Krone. Und der Kopf unter ihr. Ferner noch die – ja logischerweise mitgedachte – auf dem eigenen Kopf. Hokuspokus: weg.

Die Erinnerung will, daß er steht. Ich stehe und blicke auf ihn: erkunde, entscheide, erkunde… Die Idee, eine Wolke aus Eros halte uns beide in sich, – ist hübsch. Sie tilgt – im Nachhinein – die Entbehrung, die Langeweile beim Zusehn, die werweißwohin abgelagerte. Von Mama ist, in dem erinnerten Gebilde, im Standbild draußen nur übrig: Sie steht drinnen am Herd.

Drinnen steht sie am Herd, wir sitzen, erwarten das Essen. Herd, Essen und sie sind eins wie ein Ei. Wir warten. Ein Zeittakt. Der sich wiederholt. Den der Mangel bestimmt. Wir sind abhängig von diesem Takt wie der erste Satz dieses Absatzes vom letzten des vorigen. Wenn die Erwartung gestillt ist, ist der Takt beendet.
Wir sind drei: Meine beiden Schwestern sind zwei und drei Jahre jünger als ich. Das ist also später. Die spätereZeit, die in die frühere hineinstößt im Kopf, reicht mit den sich wiederholenden Küchentakten bis in mein zwölftes Jahr. In ihr ist der Vater abwesend.
– Für ihn ist diese Zeit dreiteilig: Krieg, Kriegsgefangenschaft in England, Beginn seiner Arbeit in Ostdeutschland. Dies ist seine Zukunft (welche im Jahr 44 noch einen Zeitraum mit Haft und Kriegsgericht enthält).

In Belangweite des erinnerten, des Mama, Essen und Herd als Einheit umschließenden Zeittakts in der Küche schwebt eine Einheit, ein Umschlossensein anderer Art: Mama war verschlossen in sich. Ich erinnere mich nicht an Liebkosungen. Der Mangel war mir nicht bewußt. Es war kein Warten bei ihm. Ich hielt ihn für das Gegebene. Sie war der erste Mensch in meinem Leben, der sich vorenthielt. Vorzuenthalten wußte? (Wie mir später von anderen dämmerte, gar gewiesen wurde: sie wissen sich zurückzuhalten? – Vorzuenthalten schlechthin.)
Nein, sie wußte nicht. Nicht, daß sie das tat, daß etwas anderes möglich sei. So aber war das gesamte auszehrende, mich zurückstoßende Nicht eingeräumt in mich und blieb zeitlebens. Eine vor ihren späteren Klagen über mangelnden Kontakt zu uns hilflose, unheilbare Distanz.
Aus dem Nicht, dem als das Gegebene angenommenen Nicht wurde das Mögliche, das Doch. Das unstrittig war wie das Nicht. Das Nicht aber blieb. Und unheilbar, wie eins gleich eins ist. Das Doch geht aus von ihm, also nicht zurück. Die Formeln enthalten und beschreiben, was Zeit ist: Etwas nicht Umkehrbares.
Draußen zählt nicht als Zukunft für mich, wie sie drinnen am Herd steht. Findet der Austausch der Tochter gegen die Mutter, wie er gedacht ist, statt außerhalb der Zeit? Steht sie nicht am Herd? Werde ich forträumen, die mich ernährt?
Das Wort Zukunft holt mir ins Gedächtnis, wie wir später einmal, drei kleine Mädchen, ich die Älteste, neun oder zehn Jahre alt, das in Tücher gebundene Heu hineingetragen haben (der Vater war in der Ostzone, – ich schrieb ihm davon). Ich sehe die Mama, ein Teil Schulter und Rücken. Es ist nicht Zukunft im Blickfeld, obwohl das Hineintragen hieß: Wir, ich auch schon. Schon, weil wir klein waren. Auch eben auch: Vorweg-Übernahme.
Leichtsinnig – wachsen gleich wirtschaften. Übernahme nicht anstelle der Person, sondern in deren Bereich. Auch die Mutter war ichlos in Betrieb, trug ihn aus. Das alte Lied. Aus der Einordnungslegende, in der sich die Gesamt-Gesellschaft hielt, ausgespannt, – ausgetreten: Städterin – auf dem Land, Atheistin unter Katholiken. Selbst die «kleinste Zelle», die Ehe, außer Funktion, der Staat hatte den Partner geraubt.
Aufgewachsen zudem, da ihr Vater Zollinspektor war, ohnehin nicht einmal im produktiven Part, in dem ohnehin nicht an dem die Gesellschaft bestimmenden Kräftepotential teilhabenden Mittelstand/Kleinbürgertum, nicht Großbourgeoisie, nicht Proletariat.
Teilnahme im korrektiven Part: Kommunist sein. Ort im korrektiven Part: Kommunist sein. Verschobene Teilnahme, verschobener Ort. Eine Fremde im kleinstbäuerlichen katholischen dünnbesiedelten kargen Abseits, – die Mutter.
Der Vater hatte noch den Einstieg seines Vaters in das Wirtschaften gleichsam wiederholt (sein Vater war als verwaister armer Bauernjunge zum Erbauer und Besitzer einiger Häuser aufgestiegen; das Großelternhaus-Grundstück in Essen grenzte an das der Villa Hügel von Krupp), – gleichsam wiederholt: da er auf seinen drei Morgen Land, abgekauft – von seinem und seines Bruders Erbe – den die Dorfstraße bildenden drei Bauernwirtschaften, sein Haus errichtete und soviel Obstbäume und Sträucher anpflanzte, als gedächte er, mit den Ernten Handel zu treiben.
– Nein, das ist nicht gerecht:
Es wird viel angepflanzt, um schon von der jungen Pflanzung genug zu ernten für sich. Nein, es war ja trotzdem zu viel.
Deutlich ist: Auch er war Errichter und Begründer. Die Ähnlichkeit mit der Existenzgründung seines Vaters war allerdings erzwungen und nicht vollgültig wie das Original. Sie hieß: «Überwintern», nämlich: die Nazizeit überdauern, in welcher er nicht als Wissenschaftler (Ethnologe) arbeiten konnte.
Er errichtete und baute an, er wurde nicht Träger der Funktion in der sich wiederholenden Maloche des Wirtschaftens. Ehe er in die Wiederholungen hätte geraten können, wurde er «eingezogen».
Die in (den «überwinternden») Betrieb genommene Mutter hatte den Betrieb nicht konzipiert und verharrte in der Abwesenheit seines Gründers. Was in diesem Zustand war Verstand? Ihrer beider kommunistische Meinung: ins Abseits getrieben und überholt von der praktisch und geistig destruktiven Reduktion des die übrige Gesellschaft bestimmenden Betriebs.

Ich bin zwei oder drei, der in erwachsener Größe Aufgerichtete ist am Werk, er errichtet. Also schaue ich ernsthaft und gründlich, nämlich perspektivisch auf ihn. – Soll er mein Mann sein? Er ist doch viel größer. Ich bin noch nicht groß. Ich werde groß sein. Die Mutter ist groß. Die Mutter zählt nicht. Sie ist in der Küche. Sie ist nicht da. Ich bin da und er ist da. Keine Eifersucht, da die Mutter nicht zählt. Die Mutter zählt für sich. Sie gibt zu essen. Er gibt nicht zu essen. Soll die Mutter verschwinden? Kein Gedanke daran. Sie wäre mir entrissen. Kein Gedanke an sie. Er ist der Mann.

Sympathie, unbehindert, unwillkürlich. Wie handle ich sie aus hier?
Unwillkürlich, wie im Frühjahr die Blüten austreiben. Also anfänglich. Wie man sagt. Sagt man so, markiert man den Zug eines Kreislaufs mit einer Kerbe. Fängt etwas an? Wie blicke ich die Szene hinein, die Begehren und Eifersucht heißt? Hätte ich die Dramatik aufbringen müssen? Habe ich sie heimlich aufgebracht, vielmehr: schon im Ansatz verdrängt? Habe ich ein Verbot verdrängt?

Aus: die crux


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