Charitas Jenny-Ebeling

Zwischen den Spalten: Poetologische Essays



Eine solche Idee muß man erst einmal haben! Verwirklichung ist der zweite, nicht unbedingt einfachere Schritt. Urs Engeler, dem Herausgeber der Poetik-Zeitschrift «Zwischen den Zeilen», ist beides gelungen. In weinrotem Umschlag präsentiert sich ein editorisches Glanzstück, das seinesgleichen sucht.
Das Besondere springt sofort ins Auge; gedruckt wurde in vier Spalten pro Doppelseite. Die ersten drei Kolonnen sind (der Reihe nach) den Essays und Kommentaren von Durs Grünbein (geb. 1962), Brigitte Oleschinski (geb. 1955) und Peter Waterhouse (geb. 1956) reserviert, die vierte dem Editor und Conférencier Engeler, dessen Glossen (eigentliche Zitate) sich aus dem Textkorpus der anderen drei generieren. Immer dort, wo sich im Haupttext Unterstreichungen finden, beginnt in einer der Spalten daneben, auf gleicher Höhe, ein Kommentar. Die Glossen rechts außen sind anspielungsreich montierte Gedankensplitter und deuten, je nach Textherkunft, voraus oder zurück. Auch die Haiku-artigen, immer zuoberst placierten Dreizeiler von Waterhouse sind weniger Kommentar als Bildassoziation (wie auch sein «Essay» das Dichterisch-Anschauliche dem Abstrakt-Theoretischen vorzieht). Zur strengen Polyphonie tritt so eine spielerische Variante.
Das Ganze liest sich in der Art einer Partitur, nur nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten. Und doch: wie soll man in der Praxis eigentlich lesen? Linear, immer brav einer einzigen Spalte folgend (melodisch also) - oder abschweifend, nach rechts und links (harmonisch bzw. kontrapunktisch)? Sich dieser Frage überhaupt zu stellen bedeutet schon, auf dem rechten Weg zu sein. Denn hier, wie übrigens auch in seiner Zeitschrift, geht es Engeler darum, den monologischen Text aufzubrechen und auf ein Dazwischen zu öffnen. Im übrigen ist das Verfahren gar nicht so neu. Kommentierte Bibelausgaben aus dem Mittelalter können ganz ähnlich aussehen. In jüngerer Zeit haben Autoren wie Arno Schmidt («Zettels Traum», 1970) oder Oskar Pastior («Jalousien aufgemacht», 1987) vom mehrspaltigen Druck Gebrauch gemacht.
Was zunächst wie «eine zusammengeflickte Sache» (Waterhouse) aussieht und «im Passgang zwischen Denken und Andenken» (Grünbein) entwickelt zu sein scheint, ist letztlich ein Zeichen dafür, daß Dichtung - zumindest ansatzweise - «keine hermetische Angelegenheit, sondern eine gesellschaftliche» (Oleschinski) sein kann oder will. Zwar sind die poetologischen Beiträge von Grünbein («Mein babylonisches Hirn»), Oleschinski («Baustellen, Wespen, Abendgeruch») und Waterhouse («Gedichte und Teillösungen») unabhängig voneinander entstanden, wurden aber anschließend (im Rahmen von «Leukerbad-Literatur») ausführlich miteinander diskutiert.
Zwischen den philosophisch geprägten Gedankengängen Grünbeins, den soziolinguistisch gerichteten Überlegungen Oleschinskis und dem von Waterhouse geleisteten poetischen Anschauungsunterricht («Theorie» ist «Anschauung», wie Oleschinski zu Recht bemerkt) ist ein oszillierendes Gewebe entstanden, ein «Geflecht» mit überraschenden Querverbindungen. So etwa spielen die Körper- und Dinghaftigkeit des Gedichts, die Frage nach dem «lyrischen Ich», die dichterische Reizanfälligkeit bzw. Reizabwehr, die Analogie zwischen Gehen und Schreiben bei allen eine wesentliche Rolle. Die dem Buch zu wünschende ideale Leserschaft wird sich, im Sinne des im Titel «Korrektur» suggerierten Mitspracherechts, in einer fünften Spalte Gedanken über das Gelesene machen wollen.

(Neue Zürrcher Zeitung, Dienstag 7. November 1995, Nr. 259, Besprechung zu: Die Schweizer Korrektur)