Nora Eckert
Die schonungslose Selbstentblößung des James Baldwin

Nirgendwo begegnen wir dem schwulen Schriftsteller und politischen Autor in seinem umfangreichen Werk so nah und so unvermittelt wie in den Gedichten - nämlich als Mensch.


James Baldwin - ein Dichter? Kennen wir ihn nicht als großen Roman-Schriftsteller und auch als einen, der mit politischen Essays wortgewaltig den Rassismus in seinem Land, den USA, anprangerte? Sicher, aber wenn wir ihn selbst als den zornigen wie liebenden, den begehrenden wie verletzlichen Menschen unmittelbar erleben wollen, dann sollten wir zu seinen Gedichten greifen. Denn erstens gibt es sie, und zweitens begegnen wir nirgendwo dem Schriftsteller und politischen Autor in seinem umfangreichen Werk so nah und so unvermittelt wie in den Gedichten, nämlich als Mensch. Und das in einem geradezu schonungslos radikalen Sinne.

So gesehen, war es eine wirklich gute Entscheidung des ambitionierten Schweizer Verlags Urs Engeler, den 100. Geburtstag des schwulen Autors zu nutzen, um ihn nun als Dichter ins Bewusstsein der Leser*innen zu rücken. Baldwin und seine Gedichte haben es verdient. Er selbst hatte 1983 eine Auswahl unter dem Titel "Jimmy's Blues" herausgebracht, die aber schon bald wieder vom Buchmarkt verschwand. Sie wollten, wie uns der Übersetzer und Herausgeber Christian Filips erklärt, aus verschiedenen Gründen nicht so recht in die damalige Zeit passen.

Wut über die "pinken und alabasternen Pragmatiker"

Der Gedichtband "Jimmy's Blues" ist im September 2024 im Verlag Urs Engeler erschienen Vierzig Jahre später kommen wir hoffentlich zu einer anderen Bewertung und Sicht - sowohl auf die Zeit als auch den Wert der Gedichte als eine schonungslose Selbstentblößung des Autors und das in einer poetischen Sprache, die in ihrem Sound sowohl die Lässigkeit wie das Eindringliche des Blues zum Vorbild hat.

Was die Zeit angeht, so war die Black Community in den 1980er Jahren dabei, sich nach den Jahren der Black-Power-Bewegung politisch neu zu positionieren, weshalb der Aktivist Baldwin nun als "Stimme aus der Vergangenheit" galt, wie Filips meint, und vor allem Befremden erntete. Andererseits passte der explizit schwule Sex, dem die Gedichte immer wieder die Tür öffnen, genauso wenig zu der sich von Tag zu Tag deutlicher abzeichnenden Katastrophe namens Aids.

In dem Langgedicht "Staggerlee" macht sich Baldwin Luft über die weiße Herrschaft und spricht in seiner Wut über die "pinken und alabasternen Pragmatiker", die die Erde blasphemisch in die Scheiße geritten haben. Über den ehemaligen kalifornischen Gouverneur und späteren US-Präsidenten Ronald Reagan heißt es:

vielgelobtes, siegreiches Männer-Kind einer Schmacht-Republik
von der Windel übers Footballfeld bis hin zu Warner Brothers Klangbühnen
sei du unser grinsendster, phallisch-bubigster Big Boy aller Zeiten!

Was er wohl über Donald Trump gesagt hätte?

"Den Verdammten gehört nichts"

Und über die Schwarze Hausangestellte meint die weiße Lady des Hauses, sie gehöre schon fast zur Familie - die Gemeinte dreht sich um, heißt es im Gedicht, "schaut mich an, / bleckt die Zähne und verdreht die Augen / hinter dem Rücken der Lady und / macht einfach weiter, was sie macht."

Der Übersetzer Filips verwendet für das N-Wort des Originals den Begriff "Verdammte", und zwar in Anlehnung an Frantz Fanon, den Schwarzen französischen Schriftsteller und Politiker ("Die Verdammten dieser Erde" von 1961). An einer Stelle schreibt Baldwin:

Den Verdammten gehört nichts,
keine Flagge, selbst unsere Namen
sind von der Stange
und daran änderst auch du nichts,
indem du dich X nennst.

Womit Baldwin auf Malcolm X anspielt, dem Bürgerrechtler und Wortführer der "Nation of Islam". Gleichwohl besteht er darauf, dass Liebe die einzige Antwort sei, und dass Gottes Genie darin bestehe, dass das Warum nicht das Wie sei. Womit Baldwin wohl nichts anderes meint, als dass unsere Schicksale immer auch in unserer Hand lägen - vielleicht "muss man der eigenen Angst / einfach vertrauen lernen", egal ob es hier um das Klammern oder dort um das Lassen geht.

"Inventur / im 52. Jahr" liest sich wie Zwischenbilanz des Lebens, die Baldwin als eine "Reise zum Palast der Weisheit" beschreibt, die nichts anderes als eine Aufzählung von Irrtümern, Versäumnissen und Missverständnissen bedeutet. An einer Stelle weist er den grünen Stein als Andenken der Mutter zurück mit der Begründung, die Welt sei voll von grünen Steinen, um am Ende zu erkennen, nie wieder einen solchen gesehen zu haben. Doch der Palast komme nie näher, weil es wahrscheinlich nie ein Ankommen gebe: "Gewiss ist, / dass ich nicht weiß, wo es lang geht."

Poetische Brücken in die Gegenwart

Baldwin bevorzugte für sich die Bezeichnung Poet und verband sie mit der Vorstellung von Energie - "a creation of experience". Seine Liebe zur Schwarzen Musik, s eine Verehrung für Sängerinnen wie Bessie Smith, Billie Holiday, Lena Horne oder Nina Simone hat in ihm im wahrsten Sinne eine sprachliche Kraft freigesetzt, die seine Gedichte zu Proben einer lyrischen Singstimme werden ließen, randvoll angefüllt mit Emotionen und zugleich mit einem wachen Blick für all die widersprüchlichen Wirklichkeiten des Lebens.

Dass es von Baldwin mittlerweile poetische Brücken in unsere Gegenwart gibt, macht der Band ebenfalls deutlich, denn dort kommt ein James Baldwin Collective durch ein paar eigene Übersetzungen und noch ein wenig mehr zu Wort, die ihre Verbundenheit mit Baldwin zum Ausdruck bringen. Der Künstler*innen-Gruppe gehören Lubi Barre, Jonis Hartmann und Logan February an. Logan publizierte erst kürzlich im Engeler Verlag einen eigenen Gedichtband.

Festzuhalten bleibt: Queere Dichtung und Literatur findet damals wie heute zu einer beeindruckend kraftvollen Stimme. Feiern wir sie, indem wir sie lesen!


Veröffentlicht in queer.de

(Zu: James Baldwin, Jimmy's Blues)