Editorial vom 30. November 2000

Ein Buch vor Gericht



«Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag war es Fridolin Häschen, ich hatte Angst, nicht vor der Liebe, vor den Worten hatte ich Angst, vor zuviel Zeichen für zuwenig Welt.» Etwa so steht es in einem der circa dreihundert Abschnitte, mit denen Birgit Kempker in ihrem Buch "Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag", erschienen 1998 im Literaturverlag Droschl, einmal mehr unter eindrücklichen Beweis stellt, mehr als nur eine flüchtige Affäre mit der Sprache und ihren Verwicklungen mit und in der Welt zu unterhalten. Das hat ihr eine Klage eingebracht, deren Gutheissung wiederum die Vernichtung ihres Werkes. «Zuv iel Zeichen für zu wenig Welt», vor Gericht hat man auf derlei Beweismittel nicht eingehen wollen: wo käme man hin, wenn das, was zur Anklage steht, auch zu seiner Verteidigung angehört würde. Auch deshalb hat es dieser Prozeß verdient, Gegenstand einer eingehenden Lektüre zu werden, weshalb Norbert Wehr in der Nummer 55 der Zeitschrift Schreibheft unter dem Titel "Unordnung im Reich der Gesetze - Ein Buch vor Gericht" aus den Prozeßakten die Verteidigung des Anwalts Dr. Joachim Kersten und ein philologisches Gutachten von Thomas Schestag sowie das darob unbekümmerte Urteil im Namen des Volkes öffentlich macht. Eine Lehre aus der Affäre zieht Thomas Wirtz in seiner Glosse für die FAZ vom 23. November 2000: «Wichtig an diesem Prozeß ist, daß er die Ausdifferenzierung der Gesellschaft wie kaum ein anderes Beispiel beweist - und unterläuft. Daß ein Buch ein Ding sei, das man irgendwo vorlesen könne und das doch immer dasselbe bleibe, können seitdem nur unbelehrbare Materialisten glauben. Ein Text ist, so hat das Gericht vorgeführt, was der Leser daraus macht, ein Nichts, das sich sein Verstehen erst am richtigen Ort suchen muß. Wer einen Kaufvertrag unterschreibt und anschließend dem Händler ins Gesicht lacht, alles sei null und nichtig und der Schriftzug nur ein Ornament, gewinnt keinen Freund. Mag der Händler auch am Feierabend leidenschaftlicher Dekonstruktivist sein - auf Verträgen duldet er keinen Spaß. Das Kleingedruckte ist eine Sphäre der Macht, hier steht der Name für die Person, und der Dekonstruktivist darf nach dem Haftantritt darüber nachdenken, was ein Aufschub ist. Umgekehrt darf sich aber die Literatur verbitten, daß ihre Möglichkeiten unter Strafe gestellt werden. Birgit Kempker experimentiert auf das kunstvollste mit den Irrläufen zwischen Gesetzbuch und Reimzwang. Dafür hat sie einen Leser verdient, der systemerfahren, also mit Literatur vertraut ist. Die Richter haben ihr Vertragsweltbild unzulässig ausgedehnt. Dafür sind sie hart bestraft: In Klagenfurt las Kempker einen Text, der ihren Prozeß wieder zur Literatur machte und damit das poetisch letzte Wort behielt. Aber ach: Auch dort erklärten sich die Juroren für befangen und schoben ihr Urteil auf die lange Gerichtsbank. Von ihren Kollegen hätten sie lernen können, wie man dem Buch mit Ordnungsgeldern droht.»