Editorial vom 17. Januar 2001

Jedes Gedicht ist seine eigene Linkpage: www.lyrikline.org



Noch ist nicht klar, was das Internet ist: ein riesiges Archiv für die bunten Werbesendungen, die jeder bei sich zu Hause normalerweise ungelesen entsorgt, eine maßlose Schüler-, Vereins- und sonstige Gemeinschaftszeitung, eine Realenzyklopädie oder ein Pornoparadies. Und wenn es um Literatur im Internet geht, ist nicht nur unklar, ob es da wirklich um Literatur geht, sondern auch, ob sie in der Form überhaupt von den Leserinnen und Lesern abgeholt wird. Die meisten lesen wohl doch lieber Bücher als Bildschirme - vor allem dann, wenn Literatur Spannung bedeuten soll und Welt jenseits von Zeit und Raum, also Virtualität im eigentlichen Sinne.
Eine Ausnahme könnte da allerdings das Gedicht darstellen. Es hat, wenn es denn Qualität hat, einige, die zu Internetstrukturen kompatibel sind: Texte im Internet müssen schnell zu lesen sein und sofort wirken - nicht umsonst sind Verführung, Werbung und Propaganda zu klassischen Anwendungsbereichen der Poesietechniken geworden. Außerdem sind Gedichte Konzentrate, die in sich, in ihrer Struktur genauso wie in der Weise, in der Poesie denkt, immer schon ein Grundelement des Hypertexts angelegt hatten: jedes Gedicht ist seine eigene Linkpage und darüber hinaus vielfach mit der poetischen Tradition vernetzt. Gedichte sind aber auch uralte Multimedia-Ereignisse: kein Gedicht, das nicht klingt, zu dem man nicht tanzen könnte, das nicht als Bild gesehen wird und synästhetische Reize im Kopf seiner Leserinnen und Leser auslöst. Das Gedicht ist von allen Gattungen der klassischen Literatur dasjenige, was am ehesten als Transmitter einer vor- und einer elektronischen Zeit funktioniert.
Neben den Stärken, die es fürs Internet empfehlen, hat es aber auch Schwächen, die es für dessen Schwächen anfällig werden lassen: genauso, wie jeder ungefragt und ohne Scheu seinen enttäuschten oder erfüllten Liebesgefühlen Ausdruck geben zu können meint, gibt es auch im Internet als Öffentlichkeit nichts und niemanden, der einem eben jene verbietet. Und da Gedichte als ökonomische Anti-Materie gelten, mit der sich kaum ein Verlag mehr belasten will - ganz egal, ob die fraglichen Gedichte gut oder schlecht sind -, bietet sich der tatsächlich freie Markt des World Wide Web als ideale Heimstatt für allerlei ungereimten wie gereimten Unsinn an.
Wie man die Stärken von Gedichten und Internet nutzen und ihre jeweiligen Schwächen vermeiden kann, zeigt seit bereits über einem Jahr ein Projekt der literaturWERKstatt: unter www.lyrikline.org hat sie eine Site eingerichtet, in der, verteilt auf fünf verschiedene Editionen, Autorinnen und Autoren nicht allein zu lesen, sondern auch zu hören sind. In der Edition Gegenwartslyrik zum Beispiel lesen Gerhard Falkner, Adolf Endler, Elke Erb, Lutz Seiler, Friederike Mayröcker, Peter Rühmkorf, h.c. artmann, Ursula Krechel, Thomas Kling und Durs Grünbein jeweils 10 ihrer Gedichte vor - erste Wahl also, aber noch nicht die Plattform, die dem Kenner Entdeckungen verspricht. Das kulturpolitische Ziel des Projektteams ist es denn auch, "über den multimedialen Erlebnischarakter, den das Internet bietet, (Text, Bild, Ton), den Verbreitungs- und Bekanntheitsgrad sowie die Rezeptions- und Verkaufsmöglichkeiten von deutschsprachiger Lyrik weltweit zu mehren". Dazu gehört auch, die kleinsten unter den Lesern mit der Edition Lyrik für Kinder zu bedienen und die Stimmen der lyrischen Überlieferung im 20. Jahrhundert in der Edition Das hörbare Erbe zu versammeln. Zu jedem Autor gibt es zudem ein Foto, biographische Angaben sowie eine komplette Bibliographie aller Buchveröffentlichungen.
Das ist natürlich noch nach mancher Seite hin ausbaubar, wofür die lyrikline in ihrem ersten Jahr einen soliden Boden gelegt hat - wie es weitergehen könnte, zeigt seit Neuestem die vielsprachige Navigation an, und wenn die Pläne der Leute aus der literaturWERKstatt aufgehen, erklingt bald schon ihre Wunsch-Zukunftsmusik und -dichtung aus dem PC-Lautsprecher: "Ein weiteres Ziel ist es, durch die Gründung der deutschsprachigen Lyrikplattform zugleich weitere Plattformen anderer Sprachräume zu initiieren. So entsteht sukzessive ein internationaler Verbund von Lyrikplattformen, der nicht nur den unmittelbaren Zugang zur Lyrik aller Sprachen gewährleistet, sondern einen ästhetischen Durchbruch in der jahrhundertealten Frage nach der Übersetzbarkeit resp. Unübersetzbarkeit von Lyrik bedeutet. Denn der Internetnutzer kann dann das fremdsprachige Gedicht als unbeschädigtes, originales Kunstwerk hören und wie in einer zweisprachigen Ausgabe die Übersetzung lesen und mit dem Original vergleichen; ja, er kann sogar zwischen verschiedenen Übersetzungen entscheiden. Ein solcher Autorenaustausch von Plattform zu Plattform und die dafür notwendigen Übersetzungen erneuert den internationalen poetischen Dialog."