Norbert Wehr Einführung zu Friedrich Hölderlin, Robert Kelly und Schuldt an der Weltausstellung Expo 2000 «Denn, wie wenn hoch von der herrlichgestimmten, der Orgel im heiligen Saal, / reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren, / das Vorspiel, weckend, des Morgens beginnt / Und weitumher, von Halle zu Halle, / der erfrischende nun, der melodische Strom rinnt ...» Liebe Gäste, Sie haben es gerade schon gehört, so beginnt die 3. Strophe von Friedrich Hölderlins später, im Jahre 1801 entstandener Hymne Am Quell der Donau. Die beiden Anfangs-Strophen dieser Hymne sind verschollen, bekannt sind lediglich Entwürfe. Am Quell der Donau, die nach Pindars Vorbild eine triadische Struktur hat, liegt, wie anderen späten Hymnen, Germanien etwa oder Der Ister, die Vorstellung einer «Kulturwanderung» zugrunde, d.h. die Vorstellung, die Kulturgeschichte der Menschheit gleiche einer Wanderung vom Orient zum Okzident, einer Wanderung, die ausging vom Osten, von «Asia» über Griechenland und Rom führte und schließlich über die Alpen kam. Diese Hymne wurde für Schuldt, einen exzentrischen Nachfahr der Dadaisten, zur Folie für ein ungewöhnliches Experiment - für eine zeitgenössische «Kulturwanderung», könnte man sagen, eine Wanderung, eine Übersetzung, ebenfalls von Ost nach West, von der alten in die neue Welt, vom frühen neunzehnten ins späte zwanzigste Jahrhundert. Schuldt, ein zwischen Hamburg und New York, zwischen dem Deutschen und dem Englischen pendelnder Dichter und Übersetzer, ein linguistischer Abenteurer im Dazwischen der Sprachen, ist der Autor eines schmalen, nichtsdestotrotz brisanten Werks. Sei es in seinem Band mit Akronymdichtungen, sei es in Fabeln, die im Geiste eines chinesischen Wörterbuchs entstanden - Schuldt ist an der Materialität der Sprachen, an den phonetischen und morphologischen Qualitäten der Wörter interessiert. Als Übersetzer interessiert er sich vor allem für ein Deutsch, das er aus fremden Sprachen zurückspiegeln kann. Sein Band Gestaltschmerz, etwa, versammelt Texte, die ausschließlich mit Wörtern operieren, die im Laufe der Zeit aus dem Deutschen ins Englische ausgewandert sind, dort Gestalt und Sinn verwandelt oder eingebüßt haben, und von ihm wieder ins Deutsche zurückgeholt worden sind. Das Ergebnis dieser Rückführungs-Aktion ist eine stammelnde, eine ganz und gar unheimliche, weil unheimische Sprache. Schuldts bevorzugtes literarisches Verfahren ist erklärtermaßen die schöpferische Verfremdung vorgefundener Texte. Ein solches Verfahren - in dem eine bestimmte Spielregel unvorhergesehene Überraschungen generiert - hat er auch auf Hölderlins Hymne Am Quell der Donau angewandt. Er hat dafür mit dem amerikanischen Dichter und Essayisten Robert Kelly zusammengearbeitet, richtigerweise: es war eigentlich Kelly, der ihn dazu angeregt hat. Robert Kelly, ganz anders als Schuldt, ist der Autor eines nahezu unüberschaubaren Werks. Er ist, wenn man ihn unzulässigerweise kurz charakterisieren soll, ein hakenschlagender, ein mit allen literarischen Wassern gewaschener Autor, soll heißen: er ist traditionsbewußt, gleichermaßen experimentierfreudig, und er schreibt, als geistiger Nachfahr der französischen Surrealisten, auf der Spur von Apollinaire und Breton weiter. «Lyrik», das ist seine Überzeugung, «Lyrik ist ein Akt der Offenbarung.» Kelly, das muß man nun zum Verständnis seiner Kollaboration mit Schuldt unbedingt wissen, Kelly spricht kein Deutsch, allenfalls versteht er es rudimentär. Und Kelly hält, das sollte man außerdem wissen, Sprachen grundsätzlich für unübersetzbar. In einem Essay, Wer spricht?, hat er das am Beispiel einer Alltagssituation - er selbst als Tourist in Karlsruhe, der eine Frau mit Hund nach dem Weg zu fragen versucht - auf wunderbar komische Weise demonstriert. Wenn also, wie er in diesem Essay behauptet, eine solche Situation, sogar eine Alltags-Situation, nicht wirklich übersetzbar ist, wie - darf man weiterfragen - wie dann eigentlich ein Gedicht von Friedrich Hölderlin? «Seit ich 15 Jahre alt bin», hat Kelly in einem Gespräch geäußert, «habe ich immer viel Hölderlin gelesen, auf deutsch natürlich, denn er war damals noch unübersetzt ... Mein ganzes Leben lang - Kelly weiter - wollte ich Hölderlin übersetzen, bis mir der Gedanke kam, ich könnte es genau so machen, wie Louis Zukofsky mit Catull: Ich würde das Gedicht ins Englische überhören...» Robert Kelly hat also sein Lieblingsgedicht, Hölderlins Am Quell der Donau, immer wieder gehört, das heißt: er hat es mit seinem Sprachverständnis, seinem amerikanisch-englischen Sprachverständnis gehört, und er hat naturgemäß etwas völlig anderes gehört. Dieses «Andere» hat er schließlich klanggenau ins Englische transkribiert. Und nun kommt Schuldt wieder ins Spiel. Denn das, was bei dieser Kellisierung entstanden ist - ein klanggenauer, aber sinnvergessener englischer Hölderlin - hat er, semantisch überkorrekt, ja pedantisch wortsinngetreu, ins Deutsche zurückübersetzt. Dieses sinngetreue Deutsch überschrieb er lautsprachlich wieder ins Englische, um es in einer vierten, letzten Verwandlung wortgetreu ins Deutsche zurückzuholen - eine übersetzerische «Achterbahnfahrt». Dunkel, obskur und undurchdringlich - so ließe sich dieser Hölderlin-Bastard beschreiben, darin nicht unähnlich seinem Ausgangstext. Schuldt selbst hat sein Experiment als «Abbruch-Unternehmen», als eine Hölderlin-Übersetzung im «Rückwärtsgang» charakterisiert. Es sei, schrieb er, eine «allmähliche Vergröberung, eine Brutalisierung Hölderlins, der Abstieg seines Textes in die Niederungen, wo dieser sich selbst als eine heisere, böse, verschlissene Dichtung gegenübersteht.» |