Peter Waterhouse

Die Entdeckungen




«daz ich da meine daz ist wortelos!» M. E.

Die anderswo her kommenden Formen - aber die Dinge sind in unserem Sehen wie in einem Denkbild; Buch, Tür, Fenster, Automobil sind alle in einem Denkbild. Es ist eine Türe zu sehen. Aber gibt es das: die sichtbaren Türen? Gibt es die sichtbaren Dinge? Wenn ich etwas sehe: sehe ich dann etwas? Ist ein Ahornblatt sehen ein Ahornblatt sehen? Sehe ich oder denke ich? Und ist vielleicht das Sehen das Gegenteil des Denkens? Wie komme ich von einem Denkbild weg und zu einem Bild hinüber? Das Bild zeigt kein Bild? Entdecke ich das Bild erst im Nichtbild?
Kann man es sich wörtlich so erklären: die Entdeckung einer Türe geschieht genau in ihrer Entdeckung; im Entdecken, Enthüllen, Entfernen des Türbilds, in der Aufdeckung und Abdeckung des Zugedeckten; das zugedeckte Denken entdecken. Also eine Art von Entdenken? Eine Ent-Architektur; nicht Bauen, sondern Abbau? Das Wegnehmen der Dächer und des Gedachten?
Enthüllen, aber da liegt nicht das Enthüllte, Klare, Aufgeklärte darunter - sondern da liegt das Vorklare, das Vordenkliche, das Vorsprachliche. Da sehe ich auf einmal den Maler zur Arbeit hingebeugt und mit beiden Armen arbeitend, das Bild entsteht zweiarmig, glaube ich, und wie gerne würden viele der Schriftsteller und Dichter mit ihren beiden Armen und beiden Händen arbeiten. Und was tut der vorgebeugte, zweiarmige Bohatsch da? Zeichnet er Vorbuchstaben? Er nimmt mit beiden Händen das Blatt auf und neigt es leicht und läßt die Tusche selbst zeichnen und schreiben: auf der entdeckten Fläche. Der Maler Bohatsch zweiarmig gebeugt über die Entdeckung. Bohatschs Alphabet. Alphabohatsch. Die Entdeckung der Alphagebiete.
Der Augenblick, wenn sich die Bedeutung formt, in einer Zone der Zeit zwischen dem kindlichen Lallen und Lauten und dem bedeutenden Wort wird in der Poesie des italienischen Dichters Andrea Zanzotto als Bedeutungsexplosion aufgefaßt, sprachgeschichtlich ist die Explosion «ex-plaudere», «plaudere», Beifall klatschen, aus Freude, Zustimmung, Feier, Lob einer enormen Plausibilitdt. So sehe ich Erwin Bohatsch über eine Zone enormer, erhöhter «Plausibilität» gebeugt, entdeckter Plausibilität. Hier her gehört die Geschichte vom Heuschreck und den Dolomiten. Der italienische Dichter in seiner frühen Kindheit, zuhause in einem Dorf des Veneto, entdeckt im kleinen hüpfenden Heuschreck auf der Wiese - im «saltabecco» - die ferne, jenseitige Sprungbewegung und Saltofähigkeit und Exaltationen der großen Körper der Alpen. Im kleinen «saltabecco», im kleinen Heuschreck die Extasen der Alpen. Dabei verbindet sich in einem Gedicht der Zic-zic-zic-Laut der Zikade mit dem Wort für hoch/«alto» und entwickelt das Wort: «salti», ein Wort das Höhe anzeigt und worin das zic oder sic oder si der Zikaden mitsirrt. Dieser Sprung, von der Zikade zu den Alpen, ist aber nicht wirklich als denkerisch zu beschreiben, sondern entsteht erst im Bereich erhöhter Plausibilität oder Freiheit von Willkür. Das Kind sieht Alpha-Alpen. Das Kind ist im Alphatraum. Das Kind entdeckt das Alphabet.
Das zum ersten Mal Gesehene kehrt wieder. Ich stelle mir den Vorgang so vor, habe nie beobachtet oder zugeschaut: Erwin Bohatsch nimmt das Blatt in beide Hände, auf dem Blatt ist ein Tusche-Teich oder ein See, und er neigt und schwenkt zwischen seinen Händen das Blatt, aus dem Tusche-Gewässer rinnt ein dunkler Bach hervor und fließt so dahin und der Maler sieht Farbe und Form fließen und werden. Er sieht ein Alpha-Bächlein werden. So kommen ja auch die Bächlein der Landschaften, die vielen in den Voralpen: in den Bächen fließen die Anfänge herab. Die Bäche träufeln die Anfänge in uns und in die Welt. Die Bäche sind die anderswo her kommenden Formen, nämlich von den Anfängen her. In Bohatschs Bildern kommt alles von den Anfängen her. Sie lassen sich ansehen als ein Frühwerk.
Gibt es Regionen außerhalb der Deutung? Beginnt außerhalb der Deutung das Erkennen und endet dort das Verstehen? Ist Erkennen das Gegenteil von Verstehen?. Da scheint es plötzlich, daß ich in Jerusalem bin, einer der aller ältesten Städte, und daß das Erkennen eine Art in Jerusalem zu sein ist. Ist Jerusalem anderswo, ist es wie außerhalb der Welt?
Erinnert dich das Bild an etwas, habe ich den Neunjährigen gefragt. - Nein. An nichts. Wahrscheinlich kein gutes Bild. Vielleicht erinnert es mich an etwas Untergehendes. Das U im Untergehen noch aufgehalten und festgehalten. - Was meinst du mit U? - Mit U meine ich U-Boot.
Hinweise darauf, daß anderswo her eine starke Plausibilität kommt, eine Plausibilität fast außerhalb der Welt. Der große, ein wenig vorneüber geneigte Erwin Bohatsch, vorneüber geneigte oder hinaus geneigte Bohatsch, oft irgendwie auf den Zehen und Ballen balancierend oder ein wenig schwebend und zumeist verschwiegen wie Tati, der auch vorneüber geneigt war und wippend gegangen ist. Erwin Bohatsch über das Anderswo der Bilder geneigt.

Jänner 2001


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