Ursula Krechel Flächendeckendes Gedicht Erdleben, wie Caspar David Friedrich die Landschaft nannte wie die Landschaft zwischen Mauwurfshügeln verflog fußfällig gezogene Horizonte, Bittsteller des Wetters eine Gardine, die milchig bewegt den Wald verhängt stürzender Wind, Kiefernwälder, die das Meer verdecken moorige Ebene, hochrädriger Wagen steckengeblieben auf versandeter Straße, wer kommt, klopfendes Herz wer kommt klopfenden Herzens, so war er angewiesen auf eigenes Naturstudium, angeborene Schwermut geboren in Greifswald himmelwärts gerichtete Windräderständer kein Wesen machen von, geboren als Sohn eines Seifensieders, Hoffnungen westwärts was fast das Gleiche ist, zerbeulte Papierkörbe Dosen, zerbrochene Flaschen, eine gemalte Schreckensspur wie «alles im Eimer», doch ohne Titel Komplementärfarbe zu lichtem Preiselbeergesträuch. Saubere Sepiazeichnungen, angeborene Schwermut gesteigert durch den Tod des Bruders kleinformatiges Bild, dunkle Rückenansicht Bruder, der beim Schlittschuhlaufen ihn rettete und selbst ertrank. Abgewandter Schmerz einer vordergründigen Figur, die sich hineingedrängt (von wem geduldet?) wissentlich. «Sein Leben war ein langes Unglück», sagt Schorn im Nekrolog und schweigt. Stahlblauer Himmel, Häuserzeilen wie Reißverschlußzacken Putbus, Putbus, wer hätte je, je länger, je lieber, jemineh endlich im Grafen Putbus einen Gönner gefunden auf dem Kutschbock die lange Allee entlang, meine Verehrung Ihr Diener selbstredend, verloren im Nebel, aufs Höchste erniedrigt. Erdleben in die Senkrechte gewuchtet, schwindlig der Kopf die Füße obenauf, plattdeutsch geflüstert: Spreizsenkfüße schmerzend, doch meilenweit von jedem Gedicht entfernt: Sandalenträger brechen auf zu einer Reise in den Norden die am eisgrauen Erdrand endet, abkippt, die Reisenden vermißt Brandung des Textes, ein Erstarren in der Schwärze der Schrift. «In Italien, wie oft behauptet wurde, bin ich nie gewesen.» Die Heimkehr fiele danach so schwer. (Sehnsucht wegzubleiben.) Wie nannte der Maler den Horizont? Streifenleben, Strichleben das Himmelsleben bleibt den befriedeten Theologen. Füße im Wasser, das gefrorener Nebel ist, der Blick in die Weite könnte ausrutschen, Glättegefahr des Himmels Patzer mit dem Pinsel, Paletot und Schuhwerk Gleichgewichtsstörungen, hoch oben und nach Westen verwirrt. Ersetzung der Dresdner Malerei durch die Düsseldorfer Schule effektvolle Hagelgewitter, Sonnenuntergang mit weißem Hengst. Der glückliche Maler macht in der Ausstellung einen Handstand trifft einen weniger glücklichen Maler mit dem Schuh an der Stirn. Schwindel. VerzeihnSe. Der Himmel rutscht in die Hosentasche ein großer Schlüssel sperrt den Hosenstall. Reise in den Norden: an das vorläufige Ende der Welt. Seebären von einst, die jetzt an Stöcken gehen brummelige Leute mit flachen Mützen und blonden Träumen im Rumtopf Kandiszuckerkalkül, Pflaumen wie Sprengköpfe Schlaganfall, Verdienstausfall, Schlagabtausch mit dem Wind kariert denkende Kabeljaugrätenkauer, Gischt im Kosakenbart. Wir kleinen Leute und die GROSSEN doch auf dem Bild nur Menschenkroppzeug, das nicht wagt was? Also wir kleinen Leute, plattgemachte Flachländer im Nebel stochernd, Ausblicke ins Erdleben einer anonymen Frau: «Fischköppe, die sich in die schillernden Schwänze beißen.» Sprachlose Felsen wie aufgestellte Nüstern, Hilfe von fern zu spät das Vordringen der gemeinen Douglasfichte in den Laubwald Heftigkeit, Halsstarrigkeit, Wegrand wie eine Hasenscharte Freund, Freundchen, Haselnußrutenwerk. (aus: Ursula Krechel: Gedichte, in: ZdZ Heft 5) |