Andrea Zanzotto

AUGUSTA




Und an ihr Ende kommt auch die Geschichte von Augusta, und der Totengräber wirft die letzten Schaufeln Erde auf den Sarg, während die wenigen Dorffrauen, die sie begleitet haben, sich freuen auf das Glas Wein im nahen Gasthaus. Augusta war alt, doch immer noch nützlich, und alle sahen sie wohlwollend bei sich zuhause arbeiten, bei diesen Bergen von Wäsche, die zu nähen und zu flicken war, während die Stunden vergingen und sie schwieg oder mit leiser Stimme Litaneien aufsagte. Und wenn sie zur Essenszeit, sehr scheu, verzehrte, was man ihr vorsetzte, hatten auch die Ärmsten angesichts dieser Haltung das Gefühl eigener Größe und Macht. Sie besaß nichts, Augusta, sie wollte nichts: wenn sie von jemandem Geschenke erhielt, schenkte sie sie an die Kinder anderer weiter. Sie hatte entfernte Verwandte in der Stadt, die sich immer in finanziellen Nöten befanden, und diese stellten ihre größte Sorge dar: ihretwegen wagte sie, abgesehen vom Essen, auch etwas Geld zu verlangen in Abgeltung ihres Arbeitstages, der zehn Stunden dauerte. Sie hob den Kopf, starrte in ihrer Kurzsichtigkeit vor sich hin, zuckte mit den Augenlidern und ließ fast verschämt die Summe fallen, die lächerlich gering war, und fast immer gab man ihr mehr, froh über die äusserst günstige Gelegenheit, großzügig zu erscheinen. Sie wehrte ab, fügte sich aber dann und nahm das Geld aus Liebe zu jenen Verwandten. Seitdem sie so alt geworden war, arbeitete sie weniger gut, denn ihre einstmals geschickten Hände waren unsicher geworden und ihr Augenlicht nahm immer mehr ab. Und es war ein peinlicher Auftritt, sie auf ihre Fehler aufmerksam machen zu müssen, denn sie litt allzusehr darunter; sie stotterte, errötete und erstarrte dann eine Weile, den Kopf geneigt und die Augen geschlossen.
Während des Krieges, als alle geflohen waren, war sie allein zurückgeblieben als Hüterin des Hauses ihrer Gastgeber, und es war ein Deutscher gekommen, der hatte sie mit dem Gewehrlauf bedroht und ihr drei Minuten Zeit gegeben, ihre Sachen zu packen. Zähneklappernd war sie in der Küche hin- und hergerannt wie ein aufgescheuchtes Huhn und hatte schließlich nur einen Schirm mitgenommen. Und in der Zwischenzeit legte der Deutsche sorgfältig Feuer ans Haus, in der düsteren Sonne des August. Später hatten sie Augusta, aus Mitleid, ein paar Kleidungsstücke und ein bisschen Hausrat geschenkt, aber nach jenem Schicksalsschlag war es ihr nicht gelungen, eine angemessene Unterkunft zu finden. Sie hatte einen Winter lang in einem Dachboden geschlafen und war einmal ohnmächtig aufgefunden worden; dort oben gefror das Wasser in der Schüssel und im Krug, und die Balken waren so niedrig, dass sie, obgleich sehr klein, daran stieß. Sie fürchtete die Dunkelheit, und vielleicht war das ihre eigentliche Angst: der sie quälende Schatten ihrer letzten Jahre. Als Verdunkelung herrschte, musste sie mit einer kleinen blinden Lampe umhergehen und einmal, als ihr diese erlosch, hatte sie, völlig verstört, nicht gewagt, sich zu bewegen, bis sie einen Passanten erblickt und ihn um Hilfe gebeten hatte. Es war ein regenschwangerer Abend, jene Person war nähergekommen, hatte Augusta mit Blicken gemessen, ihr Alter gesehen und sie stehen gelassen, mit einer ordinären Bemerkung. Und sie, ganz auf sich alleine gestellt, hatte sich Mut gemacht und sich an die Finsternis geklammert, bis sie zu Hause angelangt war, schon nach der Stunde des Ausgehverbots, ganz verschwitzt und durchnässt, und um ein Haar wäre sie in den Fluss gestürtzt. Sie erinnerte oft an diesen Vorfall als einen der unheilvollsten ihres Lebens: in jener Finsternis war ihr eine Wirklichkeit begegnet, die sie bis dahin hatte außer Acht lassen können, eine Welt vollkommener Nacht und schändlicher Wörter, unmenschlicher noch als das Feuer der Deutschen.
Aber in der letzten Zeit war sie zufrieden, denn es war ihr geglückt, ein sauberes Kämmerchen für sich zu finden, und für diese Wohltat dankte sie bei jeder Gelegenheit dem Schicksal und den Menschen. Am Grund, ihrer Tage, hinter dem Halbschatten der Straßen, sah sie jenes blendende Weiß des Kalks, die Petroleumlampe, das Tischchen und das Gebetbuch; aber auch diese Leuchte war niederträchtig gewesen, und einmal, als sie sich darüber beugte, hatte sie ihr das Haar versengt. Darum wünschte sie sich, ohne es sich einzugestehen, elektrisches Licht im Zimmer. Schlecht war vielleicht auch die Lage, mit dem verschmutzten Fluss in der Nähe, mit gewissen Leuten, die zuviel brüllten, mit riesigen Wasserlachen auf der Straße nach jedem Regen. Aber Augusta hätte sich geschämt, in sich Zweifel zu entdecken am wohlgesonnenen Wesen der Welt, auch nach den letzten bitteren Erfahrungen; sie verstand es, das Leben fast als eine Pflicht zu durchqueren, der man sich nicht entziehen konnte, und zugleich wie abwesend. Sie hatte auch nie wirklich das Gift der Einsamkeit gekostet, auch wenn der Verlust gewisser Gegenstände im Brand (die Andenken an ihre Mutter, das Buch, das sie als Auszeichnung in der Schule bekommen hatte, der Sessel, der wie ein Lehnstuhl war) in ihrem Herzen eine Leere aufgetan hatte, die sie manchmal beklommen machte.
Und vielleicht weil ihre Welt so ganz bevölkert war von ihren zuversichtlichen Vorstellungen, hatte sie nie das Bedürfnis verspürt zu heiraten. Wenig wusste man um diesen Bereich ihres Lebens. In den letzten Jahren hatte sich ein fliegender Händler für sie interessiert, im selben Alter, welcher im Gebirge wohnte. Er hatte sie gesehen in einem der Häuser, in denen sie verkehrte, erfahren, dass sie sehr arbeitsam war, und an den Gewinn gedacht, den sie ihm erwirtschaften würde, und an die Möglichkeit des Ruhestandes für sich selbst. Aber er hatte seine Pläne nie umgesetzt, die im übrigen Augusta nahezu sündhaft erschienen waren, er hatte seine Wege wieder aufgenommen die Strassen der Gegend entlang, war Opfer eines merkwürdigen Unfalls geworden und für eine Abendzeitung interviewt.
Was die Jugendjahre Augustas betrifft, wusste man noch weniger. Manche erinnerten sich an einen Mann, auch er ein fliegender Händler, eher geschwätzig und selbstsicher, der Augusta allerhand Versprechungen gemacht hatte und sich danach nicht mehr blicken ließ. Von ihm stand nur fest, dass er am Ufer des fernen Flusses Cormor wohnte, und darüberhinaus, dass er ausschließlich gelbe Schuhe trug. Keiner wusste, welchen Widerhall diese Episoden im Gemüt Augustas zurückgelassen hatten: vielleicht tauchten die beiden Bewerber, begraben unter den Miriaden von Stichen, die Augusta nach und nach blind und taub gemacht hatten, zuweilen hinter ihrem Rücken auf, leicht lächerliche Gespenster mit aufgeschlagenen und rot markierten Abendzeitungen oder sicheren Auftretens und mit gelbem Glanz der Schuhe.
Ach, sie hatten aber schlecht daran getan, diese vornehmen Herrn, Augusta fallen zu lassen und sich fallen zu lassen von Augusta. Sie hätten sie sehen sollen, zur gewissen Stunde an Sonntagnachmittagen, die Kirchenstrasse hinaufgehen, Richtung Andacht! Sie schritt langsam voran, zierlich, ein wenig gebückt, ihre weißen Haare schön aufgesteckt, in ihrem langen, glitzernden schwarzen Mantel, die Augen nur spaltbreit offen im großen und heißen Licht. Sie ging jene Straße hinauf und in ihrer Unsicherheit und Demut war sie fern fern den Dingen der Welt; göttlich unbeholfen in Gang und Haltung (auch sie ein wenig Albatros auf dem Schiffsdeck), ließ sie, hier in der Welt der Blödheit und hahnreiischen Sicherheit, die Passanten hinter sich, ihnen dabei größten Respekt erweisend, den Kavalier Wanst von Wanst, gallengelb von seinen kostspieligen Essen, die in ihren Schleiern und Düften wie in einer Falle gefangene Herrin, den Kerl mit den stinkenden, im Nacken klebenden Locken, Mund, Magen und Darm verstopft von Sportzeitungen, und die Betschwester, die in der Höhlung ihres winzigen Kopfes ihre bösartigen Unterstellungen ausheckte.
Schlecht habt ihr daran getan, oh fliegende Händler, schlechter noch ihr, oh Kavaliere und Betschwestern etcetera, der großen Stunde Augustas nicht mehr Beachtung zu schenken. Aber sie hat ihren langen, glitzernden schwarzen Mantel bis zu den Füßen zugeknöpft und geht, fast blind, blinzelnd, mit zuckenden Augenlidern; ja, sie wird euch beizeiten grüßen, euch die Ehre erweisen und euch vielleicht auch die Hemden nähen.
Im übrigen denkt nicht daran, niemand mehr denkt daran, dort oben im Gebirge inmitten der Geschäftigkeit des fliegenden Handels, niemand denkt mehr daran, an den kimmerischen Ufern des Cormor.

[1952]

Aus: Auf der Hochebene und andere Orte von Andrea Zanzotto


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