Florian Höllerer
Laudatio auf Peter Wawerzinek zur Ehrengabe der Schillerstiftung von 1859




"Bis später, Dein Peter". So endete Peter Wawerzinek seinen Beitrag in der Berliner Volksbühne vorletzten Oktober zum Tod und zur Erinnerung des jahrzehntelangen Weggefährten Bert Papenfuß. "Bis später, Dein Peter" war der Nachhall eines schwindelerregend-paargereimten Lang-Poems, eines zärtlich-rauschhaften Rufs, Nach-Rufs.
Den Erinnerungsabend in der Volksbühne noch im Kopf war ich neugierig, als ich kurz darauf von dem bei Urs Engeler und Christian Filips erscheinenden Roughbooks-Band erfuhr: "Letzte Buchung", der tatsächlich erste Lyrikband von Peter Wawerzinek. Wie bei Roughbooks so üblich beginnt das Buch bereits auf dem Cover. Nicht mit einem Gedicht, sondern offensichtlich einem Begleitschreiben zum Titel des Bandes:

"Der Titel "Letzte Buchung" ist eine Anspielung auf meinen Lebensgang, der sich dem Ende zuwendet. Finde witzig, das erste mal Gedichte wegzuschicken, und sie werden die ersten letzten sein. Wenn daraus ein Buch würde, wäre dies die einzige letzte Buchung und das dann der Spott dazu:"

Gedichte aus fünf Jahrzehnten, von denen die ältesten bereits in der Prenzlauer-Berg-Szene der 80er entstanden sind.
Die versammelten Texte scheinen allerdings keinem chronologischen Prinzip zu folgen - vielmehr geben sie sich gegenseitig Schwung, spiegeln sich, setzen einander in Bewegung. Auf die Art und Weise, wie man lesend in diesem Band unterwegs ist, passt ein früherer Satz Wawerzineks:

"Es ist wie mit der Suche nach Krebsen im Fluss. Man muss jeden einzelnen Satz wie einen Stein anheben, will man seinen Sinn ergreifen. Wer ungeübt ist, dem huschen verborgene Bemerkungen flink davon."

Und wenn schon dieser Satz fällt, dann auch die Sätze davor. Sie sind der Beginn der Eröffnungsrede zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2015, nachdem fünf Jahre zuvor eine Passage des Romans "Rabenliebe" den Preis erhielt. Der Beginn der Rede ist wie ein Kondensat des poetischen Verfahrens, der Schreibkunst Peter Wawerzineks:

"Die Buchstaben beißen. Die Worte wehren sich. Schöne Sätze tragen nun einmal Dornen. Jeder Text ist zuerst eine Lehmwand, die Risse bekommt, während man noch an ihm schreibt. In diese Risse hinein senkt sich Staub und Same. Der Text bricht auf und entwickelt sein Eigenleben. Kräfte walten und entfalten sich. Schornsteinbauer wissen, wovon ich rede."

Den Lyrikband kennzeichnet das gut, auch wenn es zuvorderst die Prosa ist, die der Satz meint - und die Peter Wawerzineks Werk konstituiert: eine ausschweifende Buchproduktion in den Neunziger Jahren, mehrere Erzähl-Bände im Transit-Verlag von Gudrun Fröba und Rainer Nitsche, zuvor der fulminante bei Erich Maas erschienene Roman "Nix" (männliche Form von Nixe - der Nix). Und mit "Rabenliebe" findet Peter Wawerzinek dann seine neue Form: autobiographische Prosa. Autofiktion ist heute in aller Munde, bei Peter Wawerzinek offenbart sie sich als ein eigendynamisches Ineinander von Leben und Schornsteinbau.
Der Roman "Rabenliebe. Eine Erschütterung" basiert auf Stoff aus dem Leben Peter Wawerzineks: Zustände in Kinderheimen an der Ostsee, Zustände bei Adoptiveltern - und nie wegzudenken: die Mutter, als Leerstelle. Denn zur Biographie Peter Wawerzineks gehört, dass seine Mutter, als sie von Rostock aus, gemeinsam mit dem Vater der Kinder, in den Westen geht, ihren dreijährigen Sohn und seine zweijährige Schwester allein in der verschlossenen Wohnung ihrem Schicksal überlässt.
"Rabenliebe" findet seine Fortsetzung in den ebenfalls autobiographisch angelegten und ebenfalls in Wolfgang Hörners Galiani-Verlag erschienenen Romanen "Schluckspecht", über eine Alkoholsucht, die bis in die Jugend an der Ostsee zurückreicht, sowie dann "Liebestölpel", über ebenfalls von der Jugend her nachgezeichnete Liebesversuche. Wobei der wahre Stoff, aus dem "Rabenliebe", aus dem "Schluckspecht" und aus dem "Liebestölpel" gemacht sind, eben die Lehmwand des Textes ist, seine Risse, seine waltenden Kräfte, sein Eigenleben. Zurzeit, liest man, arbeitet Peter Wawerzinek in Magdeburg an einem Buch, das einen Aufenthalt in der Villa Massimo berührt und gleichzeitig den Umgang mit einer Krebserkrankung: "Rom sehen und nicht sterben".
Peter Wawerzinek ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch... Hörspielautor, Sänger, Performancekünstler - Regisseur: Gemeinsam mit Steffen Sebastian macht er 2019 den Dokumentarfilm "Lievalleen" (platt für "mutterseelenallein"), in dem nicht nur er selbst, sondern auch ausführlich seine Schwester Auskunft geben über ihr Lebensschicksal und gesellschaftliche Zustände der Zeit. Die Geschwister wurden als Kleinkinder von den Behörden getrennt und wuchsen auf, ohne von der Existenz des anderen zu erfahren. Die Schwester war direkt im Säuglingsheim als nicht entwicklungsfähig eingestuft worden und wurde bis als 18jährige in die Psychiatrie weggesperrt.
Zurück zum Gedichtband: Der Schlusstext lautet "Unterlassene Themen" - und Teil der Aufzählung in diesem Gedicht sind auch Dinge wie

- Das Stottern offensichtlich deprimierter Teilhaber an Dreierbeziehungen
- Die intimlose Artikulation der Trunksucht
- Den Stimmensalat minderjähriger Zombies

Unterlassen sind Themen aus dem Leben des Peter Wawerzinek, bzw. der autobiographischen Romane dennoch auch im Gedichtband nicht.
Davon zeugen Gedichte wie "Pubertät" oder "Die Gaben der Raben" - oder "Zusatz". Letzteres lautet:

Mein Lehrer schlug mir ins Gesicht,
als ich ihm den Hang zum Faulsein
gestand. Hab Nachholestunden in
Kneipen abgesessen. Verfiel dem
charmanten Gerstensaft in den rauchigen
Horten. Hab Prosa aufgeschnappt. Mund
Geruch, Kopfschmerz, Stuss erlitten.
Das sind die Unglückspfennige, / die ich gerne zahlte.
Oder die Schlussstrophe des Gedichts "Herkunft":
Der Vater von wortkarger Art. Eine Büste mir.
Die Mutter ein Kleiderbügel. Ich formulierte
mich als Halbmond. Ich nahm Fühlen als Kreppsohle
wahr. Ich schlief wenig. Durchlief die wohnliche Wüste.
Bis an den Rand der Erschöpfung. Drehte ich meine Kreise.
Oder ich saß am Tisch. Benutzte Silberbesteck,
von dem ein böser Geschmack auf der Zunge blieb.

Ende der Siebziger Jahre kommt Peter Wawerzinek nach Berlin. Vor Prenzlauer Berg/Raumerstraße kommt allerdings Rummelsburg: die Fenster des Wohnheims auf die Rampen des Betriebsbahnhofs, von denen rund um die Uhr Schweine in die benachbarten Schlachthallen getrieben werden - im Roman "Liebestölpel" als Vorhölle beschrieben: "Lokomotiven sehe ich aus blutigen Fleischstücken geformt. Als fleischbeladene Fleischwaggons rattern sie vor meiner Wohnung hin und her."
"Das Lyrische an mir ist Edi Endler" - Mit diesem Gedichttitel macht Peter Wawerzinek die Verankerung seiner Lyrik in der Ästhetik der Prenzlauer-Berg-Literatur explizit. Adolf Endler ist einer der zentralen Protagonisten der Szene (so wie Bert Papenfuß), in die Peter Wawerzinek eintaucht. Bildballungen, die das Buch zur Lesebühne machen, wären solch ein Berührungspunkt der Formsprachen.
Für das Gefühl existentieller Verlassenheit findet die Schlussstrophe des Gedichts "Das Lyrische an mir ist Edi Endler" folgendes Bild:

Das leise Klöppeln in
den Rohren. Und spät in der Nacht Stöhnen.
Vom Himmel eine monotone Gereiztheit:
Wir wollen dich hier nicht haben.

Aber Formen solch gedrängt-intensiver Bildlichkeit prägen genauso die Romane - überhaupt das Schreiben Peter Wawerzineks.
Zitieren möchte ich eine Passage aus dem Briefwechsel mit Karsten Krampitz, weil diese mit dem Bild des feindlichen Himmels korrespondiert. Peter Wawerzinek schreibt nach Berlin, über den Regen in Klagenfurt:

"Will sagen. Klagenfurt wird zum Buckel, auf den man mit seinem Regenschirm eindreschen möchte, bis die klatschenden Hiebe die eng beisammen lagernden schafblöden Regenwolken mit Peitschenwucht auseinander treiben. Man möchte Hund werden vor Ungemach, den Himmel anbellen, bissig nach der Wolkenzudecke schnappen. Regenwolken wie Landsmannschaften, die sich ballen, Tropfen wie Hetzreden vom Himmel hoch über Klagenfurt auf uns hernieden."

Vom Klagenfurter Himmel nochmal zurück zu:

Das leise Klöppeln in
den Rohren. Und spät in der Nacht Stöhnen.
Vom Himmel eine monotone Gereiztheit:
Wir wollen dich hier nicht haben.

In "Letzte Buchung" wiederholen sich einige Strophen, tauchen im Band unter und wieder auf, bilden eine Struktur jenseits von Chronologie oder anderen Ordnungsprinzipien. Die zitierten Verse gehören dazu, drei der Gedichte enthalten sie leitmotivisch. Der Autor und Publizist André Dahlmeyer nennt deshalb, in einer kleinen Besprechung von "Letzte Buchung", den Band "ein Konzeptalbum".
Aber zum Gefühl des Eingeschlossenseins im Untergrund klöppelnder Rohre, zu dieser monotonen Gereiztheit, die vom Himmel drückt, gibt es im Band auch eine Gegenbewegung, ein Gegenkonzept: den Aufstieg zum Himmel - im Heißluftballon. Ein Sehnsuchts-Bild der Entrückung... (passend auch in diesen Räumlichkeiten, Goethe war ja ein Fesselballon-Faszinierter). Das Gedicht trägt den schönen Titel:

Ich mach auf jung

Ich verfolge die Entwicklung im Flur meines Hauses.
Sieben, acht Kacheln sind in den kalten Monaten
Aus der Flurhauswand gebrochen worden.
Helle quadratische Löcher.
Auf eine dieser Kacheln
Stellt die Studentin über mir
Wohnhaft heiße Getränke ab.
Vom Duft der Nelken zugedeckt
Im schlimmsten Schmerz will ich
Linderung vom berufsbedingten
Alleinseinsanspruch.

Ach könnt ich als Flugballon
Zum Himmel aufsteigen.

Darauf folgt das Gedicht "Ein Nichts sein", für das einem etwas die Konzentration fehlt, weil noch ganz im Sog des Ballonaufstiegs...
Dann blättert man um zum Gedicht "Tosendes Meer", das mit den ersten Versen eine Ostsee-Szenerie entwirft:

Rauschende Wälder
Endlos Steine am Ufer gereiht
Darüber der blaue Himmel gestellt.

Und weiter im Blick auf die rechte Buchseite - fühlt man sich etwas ertappt: dabei ertappt, mit seinen Gedanken immer noch abgedriftet zu sein. Durch das folgende Gedicht, mit dem ich hier schließe:

Ach könnt ich als Flugballon
Zum Himmel aufsteigen. Der Wunsch
wiederholt sich - gewollt
oder nicht? Weiß nicht
zu sagen.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Peter Wawerzinek, zur Ehrengabe der Schillerstiftung von 1859!


Rede gehalten am 29. November 2024 zur Verleihung der Ehrengabe der Deutsche Schillerstiftung von 1859 an Peter Wawerzinek