Jochen Hörisch Die Fachsprache der Dichtung: Ulf Stolterfohts Gedichte Nach einem wunderbar naiven Wort aus Michel Foucaults früher Studie über Raymond Roussel besteht das Grundproblem der Sprache darin, daß es stets mehr Sprache als Sein gibt. Mit unzählbar vielen unterschiedlichen Wendungen in unterschiedlichsten Sprachen läßt sich ein und derselbe schlichte Sachverhalt schildern. Zugleich aber gilt die Umkehrung des tiefsinnig-naiven Satzes: es gibt unübersehbar mehr Sein als Sprache. Worte wie «Blatt» oder «Bank» bringen uns in Verlegenheit, weil wir dem Kontext ihrer Verwendung entnehmen müssen, was sie meinen. Es gibt - in diesem Fall - zuwenig Zeichen für zuviel Dinge. Gäbe es aber genug Zeichen für alle Dinge (etwa je einen spezifischen Namen für jedes einzelne Baum- oder Papierblatt), so könnte kein Speicher sie fassen. «Glasharte ahnung / setzt sich fest: jedwedes ding muß einen // namen tragen.» So heißt es in dem ersten Gedichtband, den der in Berlin lebende Schriftsteller Ulf Stolterfoht (Jahrgang 1963) vorlegt. Eine harte Wortfügung. Sind Ahnungen doch Formen weichen Abtastens der Grenze zwischen Nichtwissen und Wissen und nicht etwa von glasharter Haltbarkeit und Transparenz. Stolterfoht gelingen viele solcher klugparadoxen Fügungen. Das verdanken seine Zeilen dem glasklaren Problembewußtsein, dem sie beredten und dichten Ausdruck verleihen. Sie wissen, daß es zwischen Sprache und Sein keine verläßlichen Algorithmen gibt. Nicht einmal einzelne überschaubare Problembereiche können sich gegen das Problem abschotten, daß es zugleich zuviel und zuwenig Sprache gibt. Dabei ist eben dies das Versprechen von Fachsprachen. Sie versprechen Überschaubarkeit, definitorische Klarheit und paradoxiefreie Funktionalität und nehmen dafür billigend den üblichen Spott über ihre ästhetischen Scheusslichkeiten in Kauf. Doch sie versprechen sich, wenn sie eben dies versprechen. Ein Dichter, «der seine wörter knetet als würden sie namen ent- / halten», ist nun nach Stolterfohts weiser Pointe nicht etwa derjenige, der Fachsprachen überwindet. Auch Dichter stiften nichts Haltbares. Sie enthalten sich vielmehr des Versprechens, es gebe etwas, woran man sich semantisch halten könne. Dichterische Sprache hat vielmehr dann statt, wenn sie zu erkennen oder eben «glasklar zu ahnen» gibt, daß sie die Sprech- und Schreibweise ist, die weiß, daß Wörter nie und nimmer ein so intimes Verhältnis zu dem von ihnen Bezeichneten gewinnen können, wie Namen es versprechen. Dichtung kann das Problem des unerläßlichen Verhältnisses zwischen Sein und Sprache auch nicht ansatzweise lösen. Sie kann es aber anders bewerten, als es etwa Fachsprachen tun — nämlich nicht als Bedrohung von Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten, sondern vielmehr als ihre Möglichkeitsbedingung. «Nach dorthin freunde! Wo der sinn entsteht»: Stolterfoht ist ein semantischer Töpfegucker. Sein Blick schweift in die Küchen des Geistes, in denen Sinn zubereitet wird. Er interessiert sich für die (beispielsweise religiösen, monetären, ästhetischen, kulturellen und theoretischen) Rezepturen, die buchstäblich Sinn «machen». In welche Töpfe er auch guckt - er gewahrt verzehrenden Dampf. Sinn entsteht demnach nicht auf festem Fundament, sondern in dem Masse, wie Zeichen und bezeichnete Sachverhalte gleiten und ihren Nutzen entgleiten. Solches Gleiten von Zeichen setzt der Band souverän in Szene. Seine «Versuche mit mutiertem Metrum» nehmen sich beherzt und witzig des vorhandenen Zeichenbestandes und zumal des Standes an Sprachreflexion an. Konkret heißt das: Stolterfoht (seltsamer Name) zitiert im großen Maßstab: Goethe und Wittgenstein, ein Lapidarium und Gottfried-Benn-Zeilen, Büchners «Lenz»-Erzählung und Herder-Essays und viele andere Texte mehr (die Hölderlins stehen genau in der Mitte des Bandes: «Fachsprache V»). Und er mutiert das Zitierte - metrisch, anagrammatisch, pointensicher, manchmal auch bis hart an die Grenze, die die kluge Allusion vom überinstrumentierten Manierismus scheidet. So wird suggestiv deutlich, «daß nichtungsdichtung möglich sei». Stolterfohts Zeilen rezyklieren und nichten Dichtung unausgesetzt. Und siehe da: so frisch kann Dichtung sein, die mit ihren Beständen rechnet und weiß, daß sie spätzeitlich ist. Deutlich stehen Stolterfohts Texte in der Tradition des frühromantischen Postulats einer Poesie der Poesie. Friedrich Schlegel, der diese Formel prägte, zielte damit auf ein Verständnis von Poesie, der transparent ist, daß und wie sie konstruiert ist - die ihrer eigenen und damit der Verfahrensregeln von Diskursen überhaupt inne ist. Somit erreicht Stolterfohts semantologische Reflexionslyrik das Jenseits einer Repräsentationslogik. «Nichts stehe mehr für anderes! Was marktkonform sofort // gedichtverknappung zeitigt.» Zwei Einwände: so knapp sind Stolterfohts Gedichte nicht. Bei aller metrischen Konzentration kommt es doch zu Redundanzen. Zweitens - eine Frage eher als ein Einwand: Kann es Lyrik geben, die gewissermaßen zu viel weiß? Stolterfohts Zeilen sind kondensierte Essays von Graden. Doktoranden werden Freude daran haben oder Flüche darauf ausstoßen, daß hier ein Band vorliegt, dessen letztes Wort einem kurzen Selbstkommentar entstammt und lautet: «Kein Wort von mir.» Wie auch sollten Worte, wenn sie denn Worte sind, von diesem oder jenem sein? Worte und zumal die, die der Fachsprache der Poesie angehören, sind nichtindividuell. Ein beachtliches, weil kluges, tiefsinnig-witziges und formvollendetes Lyrik-Début auf der Höhe der spätzeitlichen Möglichkeiten. (Neue Zürcher Zeitung, Mittwoch, 10. März 1999, Nr. 57, Besprechung zu: fachsprachen I-IX) |