Charitas Jenny-Ebeling Poesie und Poetik - ein Dialog über Peter Waterhouse (Aus: neue deutsche literatur, 2/99) «Im Genesis-Gelände. Versuch über einige Gedichte von Paul Celan und Andrea Zanzotto»: Man merkt es diesem "Versuch" von Peter Waterhouse an - der hier schreibt, lebt mit dem, worüber er schreibt, in nahezu symbiotischem Austausch. Mit einer Arbeit über Celan hat der in Wien lebende Schriftsteller Peter Waterhouse promoviert, und mit Zanzotto ist er seit langem als Übersetzer verbunden. So schreibt er im Grunde nicht über ihre Gedichte, vielmehr aus ihnen heraus. Gelesenes und Geschriebenes rücken so nahe zusammen, daß kaum noch zwischen Fremdem und Eigenem unterschieden werden kann. Hier geschieht genau jene produktive Verschränkung von lesendem Schreiben und schreibendem Lesen, der sich bei Frey das "Fest der Sprachentfaltung" verdankt. Waterhouse spricht von einem "genetischen Lesen", das er an Celans Arbeitsweise diagnostiziert und gleichzeitig zur eigenen macht. Die von Celan aufgestellten "Wortlisten" (vier Seiten sind aus der sog. «Tübinger Ausgabe» abgedruckt) bezeichnet er als das «Genesis-Gelände» dieser Dichtung: "Die Wortlisten zeigen die Suche, das Tasten, das Hören dieser Geburt; jedes Wort fast wie ein Tastvorgang - Geschiebelehm wie Prüfung, ob sich eine Gestalt zusammenschiebt im fruchtbaren Stoff des Lehms." Wie ein Wünschelrutengänger bewegt sich Waterhouse in diesem Gelände und kann sich dabei der Fülle des Ertasteten kaum erwehren. "Gehen die Hände, gehen sie über die Landschaft und die Hänge, berühren sie die Hänge? Ist Sprache Berührung?" Die Verwandlung von Hänge in Hände, wie sie im Gedicht «Matière de Bretagne» geschieht, ist eine klangliche Berührung, eine "ineinanderklingende Anwesenheit" und als solche Erinnerung bzw. Wiederholung in veränderter Gestalt. Das ist der Stoff, aus dem Gedichte erwachsen, an dem Gedichte erwachen. "Genesis-Ereignisse": als Leser spürt ihnen Waterhouse nach und bringt sie - wiederholend - abermals zum Klingen. "Ist also Lesen eine Form des Reimens?" Oder, in umgekehrter Richtung gefragt: "Sind Gedichte aus einem Wort geschrieben?" Daß nicht nur ein einzelnes Gedicht, sondern eine ganze Gedichtfolge so gelesen werden kann, als sei sie einer einzigen Silbe entsprungen, zeigt die Lektüre von Celans Zyklus «Die Niemandsrose. Dem Andenken Ossip Mandelstamms»: allein schon im Titel findet sich die dreimalige Wiederholung der Silbe -mand- (hier zur Verdeutlichung kursiv gesetzt). Von ihr sagt Waterhouse, daß sie "als eine der fundamentalen Silben des Buchs" bezeichnet werden könne; "sie ist eine Ereignissilbe und Begegnungssilbe - ja, sie erwirkt sogar, daß der Tote wieder lebt und da ist, wacht, wächst, fern und nah ist zugleich." Im Zyklus kehrt sie wieder in allen mit Niemand- und Mandel- gebildeten Komposita einschließlich der für dieses Erinnerungsbuch so wesentlichen West-Ost-Verbindung Normandie-Njemen; auch in Abwandlungen wie Land oder Hand, Mond oder Mund ist ihre Spur spürbar. Schließlich ist sie so etwas wie die sprachliche Verkörperung des kreisförmigen, "über die Pole in sich zurückkehrenden" Meridians (in dem die Buchstaben anagrammatisch verstreut vorkommen); ein Verbindungs-Glied also, ein membrum, in dem das englische "to re-member" anklingt, von dem diese Lektüre ihren Ausgang nimmt. Sie setzt sich fort im zweiten Teil des Buchs, der sich mit Gedichten des Trevisaner Dichters Andrea Zanzotto beschäftigt, als dessen (Mit-)Übersetzer Waterhouse schon in dem 1987 erschienenen Auswahlband «Lichtbrechung» (bei Droschl, Wien) hervorgetreten ist. Auf einige Texte jener Publikation nimmt Waterhouse hier Bezug, wobei die Übersetzungen revidiert oder, in einem Fall («Hören aus der Wiese»), sogar neu verfaßt wurden (ohne daß dies im Anhang vermerkt würde). Zur Hauptsache jedoch kommen Gedichte zur Sprache, die hier zum ersten Mal auf deutsch erscheinen. Daß offenbar aus Platzgründen auf das italienische Original verzichtet werden mußte, ist bedauerlich. Statt dessen hätte man ohne Einbuße beim Abdruck der besser bekannten und leicht greifbaren Celan-Texte etwas wählerischer sein können. Auch bei Zanzotto (er wurde 1921, ein Jahr nach Celan geboren) öffnet sich dem "genetischen Lesen" ein nahezu unbegrenztes Betätigungsfeld. Oder müßte man eher von Gräberfeld sprechen, einem Feld für archäologische Grabungen? Jedenfalls gleichen Zanzottos zuweilen fast organisch wuchernde, mit Zeichen übersäte Textgebilde der vielfach geschichteten Landschaft, von der sie (in Hochsprache oder Dialekt) erzählen. Tote gehen in ihr um wie Lebendige: "Figuren der Wiederkehr", deren Leibhaftigkeit sich in insistierenden Wort-Wiederholungen spiegelt. Der historische "Galateo" ist eine solche Figur, auch D'Annunzio und die Sängerin Toti, der Weinbauer Nino oder die Näherin Maria Carpèla. Der ihr gewidmete Zyklus mit dem Titel «Nähen» («Andar a cucire») realisiert im Deutschen eine Zweideutigkeit, die Waterhouse deshalb wichtig ist, weil so die Toten "alle in der Nähe" bleiben, "vernähbar" ins Textgewand; oder in jenen "mantello", der eigentlich "Montelio" heißt und ein Begräbnishügel ist. Die assoziative Lust, mit der Waterhouse im Sprachkörper "endoskopiert" und dabei Wortbeziehungen aufstöbert, deren etymologische Richtigkeit für den Befund unwesentlich ist, mag manchen zu weit gehen. Die Energie aber, die dabei frei wird, ist unerläßlich für ein Lesen, in dem der poetische Text gleichsam wiedergeboren wird. Die Auferstehung des Textes im Text ist ein Vorgang ohne Anfang noch Ende; ein "Federkleid aus Unabschließbarkeit", wie Waterhouse eine Zeile Zanzottos übersetzt, die ihrerseits auf DAnnunzio anspielt. |