Sebastian Kiefer

Der freie Vers und sein Geheimnis.
Hans-Jost Freys gültig gebliebener Essay «Verszerfall»




neue deutsche literatur, 2/2000

«Prosagedicht (franz. poème en prose), lyrische Behandlung eines Stoffes in kunstvoller Prosa […] entwickelt als Folge der romantischen Auffassung von der Vermischung und Überlagerung der Gattung. Im Gefolge Bertrands wiederum entwickelte Baudelaire seine Versuche in einer poetischen, musikalischen, lyrischen Prosa ohne Rhythmus oder Reim.» Den Eintrag in Wilperts «Sachwörterbuch der Literatur» darf man wohl als Spiegel einer noch immer verbreiteten Auffassung lesen. Prosagedicht, das ist eine der lyrischen Musikalität angenäherte, dabei ungebundene Rede. Ein Grundirrtum, so las man in der preisgekrönten Antwort auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1979) nach dem freien Vers. Verfasser war der Züricher Literaturtheoretiker Hans-Jost Frey. Jetzt ist sie, ergänzt durch jüngste Arbeiten Freys zu Problemen der Metrik und Rhythmik, wieder greifbar: «Vier Veränderungen über Rhythmus», Urs Engeler Editor, Basel 2000.

Das tat not, denn Freys langer Essay «Verszerfall» kann getrost ein Klassiker genannt werden, ein kleiner Klassiker jedenfalls; kaum sonstwo wurde liebgewonnenes Gattungsdenken in solcher kristallklarer Terminologie, fußnotenfrei und in brillanter aphoristischer Zuspitzung umgestürzt wie in dieser Arbeit. Das Prosagedicht, lehrt Frey, eifert nicht der Lyrik nach, sondern im Gegenteil: Die Prosa des Prosagedichts stellt den Vers, Grundlage der hohen Gattungen im überlieferten Kanon, in Frage und beansprucht dabei zugleich dessen ästhetische Höhe. Das Prosagedicht betreibt die Wachablösung des Verses, nicht dessen Imitation in der ungebundenen Rede. Und Frey zeigt schlagend, daß gerade das für die gängige Auffassung oft herangezogene Prosagedicht Baudelaires «Les Veuves», an dessen Schluß ein Alexandriner steht, gegen den ersten Augenschein kein Zeuge der Vorstellung vom Vers als heimlichem Maßstab für die Höhe der Prosa ist: Nur ein einziger Vers nämlich steht hier und als ein solch vereinzelter ist er gar nicht in vollem Sinne ein «Vers» – nur die Wiederholung macht den Vers zum gültigen Versmaß. In Vereinzelung erinnert er nur an Einstiges – der isoliert für sich stehende Alexandriner ist kein Blick nach oben, zum noch immer dort thronenden Maß der poetischen Rede, sondern einer in das Gewesene: Er ist eine Ruine, die vom Verlust spricht und zugleich den Reiz des Unvollständigen, Relikthaften, Verwaisten hat. Daher das Auftauchen des Verses im Prosagedicht «Witwen».
Baudelaire sucht die Wachablösung, doch erliegt er eben auch dem Reiz der Ruine – er bleibt ambivalent: Er spricht in Prosa, das heißt in der Verfallsform des Verses vom Verlorenen und Überlebten, doch er spricht andernorts, etwa im Gedicht «l’amour du mensonge», auch in kunstvoll gebundener Rede von der Hinfälligkeit der gebundenen Rede.

Auch Mallarmé ist, so lehrt uns dieser vorzügliche Essay, keineswegs, wie die berühmte programmatische kleine Arbeit «crise du vers» nahe legen könnte, ein Künder der ungebundenen Rede. Der Vers, das heißt in Frankreich in letzter Linie stets: der Alexandriner, ist unwiederbringlich verfallen, gewiß, doch das Endstadium «vers libre» ist, wenn man das «libre» nur als Abwesenheit eines metrischen Schemas versteht, gar keine Literatur im engeren Sinne mehr. Hauptimpuls zur Durchbrechung des Verses ist nämlich nach Mallarmé (und Frey stimmt ihm im Großen und Ganzen zu) die Suche nach persönlichem Ausdruck, und es konnte, wie man weiß, für Mallarmé (wie auch etwa für Flaubert) nichts Kunstfeindlicheres geben als subjektiven Ausdruck. Der «vers libre» ist nur dann keine bloße, also geringwertige Prosa, wenn sie in sich die Erinnerung an den Vers bewahrt in Form von rhythmischer Allusion: «Der freie Vers als Anspielung ist die rhythmische Thematisierung des Verses durch die Abweichung von ihm.»

Wo nicht mehr per rhythmischer Anspielung die Anbindung der Prosa an den Vers und also an die (hohe) Kunst gewahrt bleibt, muß die Kunst, um Kunst zu bleiben, neue Ufer betreten: Mallarmés epochaler «Coup de dés» ist der Entwurf eines Textes jenseits von Prosa und Vers, Wortkonstellationen ohne narrative und metrische Bindung, die vollkommen objektiv und daher rein in ihrem Kunstcharakter sind.

Diese Verhältnisse muß kennen, wer Bedeutung und Eigenart des «freien Verses» in der deutschen Literatur, also des metrisch ungebundenen Verses von gleich hohem Kunstanspruch verstehen will. Allzu rasch (s. Wilpert) sieht man ihn in einem Abhängigkeitsverhältnis von französischen Vorbildern. Daß die freien Rhythmen im Gefolge der Klopstockschen Hexameter-Übertragungen in die deutsche Lyrik kamen, ist wohl kaum umstritten; warum sich der freie Rhythmus hier jedoch nicht nur als Zerfallsform oder Negation des Verses wie in Frankreich verstand, sondern als eigenständige Art des Verses etablieren konnte, ist weit schwieriger zu erklären. Frey bietet keine Generalantwort, sondern Teillösungen: Erstens entsteht der freie Rhythmus nicht gegen das Metrum, sondern aus ihm heraus, da der hexametrische Rhythmus dem natürlichen Fluß der deutschen Sprache so nahe liegt, daß sich – etwa in Luthers Bibelübersetzung -Hexameter wie von selbst einstellen können. Zweitens wird im Deutschen der freie Vers nicht als Bedrohung des Verses als solchen empfunden, weil der deutsche Vers akzentuiert, während der französische silbenzählend, damit rhythmisch schwächer ausgeprägt und also weit stärker auch auf den Reim angewiesen ist. Der deutsche freie Vers hat sich literaturhistorisch durchgesetzt, weil er nicht nur die Negation des Verses ist, «sondern ihm gleichzeitig die Möglichkeit einer Rede entgegensetzt, die sich selber das Gesetz ihres Ablaufs» gibt. Goethe hat solchen Vers, der nicht gesetzlos ist, sondern sich im jeweiligen Augenblick ein jeweils besonderes Gesetz von innerer Notwendigkeit gibt, früh erfaßt und reflektiert, wie Frey am Beispiel des Gedichtes «Nicht mehr auf Seidenblatt / Schreib' ich symmetrische Reime» aus dem Divan-Nachlass zeigen kann.

Der Aufstand gegen das äußerliche, unverrückbare Metrum geschieht im Namen des subjektiven Ausdrucks, doch nicht nur. Es geschieht auch im Namen des Details. Ein durchgehaltener metrischer Rahmen erzeugt Überschaubarkeit, Gesamtarchitektur, langen Atem, dem sich das Einzelne, Marginale, Detaillierte unterordnen muß. Wird das Versmaß über Bord geworfen im Namen des Besonderen und Jeweiligen, kann das Detail sich freier entfalten. Doch jetzt droht, wie Nietzsche gegen Wagners «musikalische Prosa» einwarf, ein bloßes Hangeln von Augenblick zu Augenblick, ein Versinken im Jetzt, über dem der Zug des Ganzen verloren wird. Auch Nietzsche allerdings, eine bemerkenswerte Parallele zu Baudelaire und Mallarmé, bleibt letzten Endes ambivalent im Verhältnis zum Vers – die Formel von der «erzwungenen Besonnenheit», des vernünftigerweise im Namen der Ordnung zu restaurierenden Versmaßes, deutet es an.

Der «freie Vers» ist Zerfallsprodukt und doch nur ein erster Schritt auf dem Weg des Zweifels am Sinn objektiver metrischer Ordnungen. Beim zweiten Schritt wird nicht mehr bloß am Sinn vorgegebener metrischer Schemata gerüttelt, sondern am Sinn der Rhythmisierbarkeit überhaupt: Nicht ein jeweiliges Maß wird als verbindliche Norm abgelehnt, sondern die per Rhythmisierung geschaffene Teilung der Rede in Versabschnitte. Es entsteht auf der zweiten Stufe des Zerfalls demnach in Zeilen gebrochene Prosa. Ein Topos der Lyrikkritik: Das ist keine Poesie, sondern nur optisch manipulierte Prosa. Falsch, sagt Frey. Die bloß noch im Schriftbild sichtbare Prätention, Vers zu sein, ist keine tilgbare Äußerlichkeit: «In der gesprochenen Prosa verliert sich der geschriebene Vers, denn seine Schriftlichkeit ist gerade das Unaussprechbare an ihm. Ihn unterscheidet von der Prosa, daß er sich als Vers ausgibt, ohne es zu sein. [… ] Man glaubt ihn entlarvt zu haben, wenn man ihm nachweist, daß er nur Prosa ist, und verfehlt doch gerade dadurch seine Positivität, die darin liegt, daß er vorgetäuschter Vers ist.» Es ist keine irreführenderweise als Vers ausgegebene Prosa, sondern der «schriftliche Vers», also der, der nur im Schriftbild als solcher zu erkennen ist. Seine Legitimität liegt in der Vorgängigkeit, mit der das Schriftbild unsere Lektüre, noch bevor wir zu lesen begonnen haben, bestimmt: «Noch bevor wir das schriftliche Gedicht lesend in die Wort für Wort ablaufende prosaische Rede übersetzen, die es als gesprochenes wird, hat es sich dem Überblick über das Schriftbild bereits als Erinnerung a n die Versrede gezeigt, die es nicht mehr ist.» Mit diesem originellen Gedanken ist das Kernstück des bedeutenden Essays abgeschlossen. Eine ausgedehnte Betrachtung der «Engführung» versucht noch zu zeigen, dass Celan um diese Dimension des Gedichtes wußte und sie reflektierend mit hineinnahm ins Gedicht. Das ist, ein seltener Fall bei Frey, jedoch mehr ein Zurechtlesen denn ein Lesen, angefangen mit den berühmten Zeilen «Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – gehl!», die keineswegs wörtlich zu verstehen seien, also als Aufeinanderfolge von Lesen, Schauen, Gehen, sondern, da symmetrisch konstruiert, dreierlei gleichberechtigtes Tun meinen sollen. Die «Spur» der Eingangszeilen soll so ’eigentlich’ die Schriftlichkeit des Verses meinen, und zwar genau jene Schriftlichkeit, die das Gedichtende dann visualisiert. Noch gedichtfremder ist Freys zweites Celan-Beispiel, kaum weniger berühmt: Die Einklammerung bedeutet hier ganz gewiß nicht ein Herausnehmen aus der Mündlichkeit als Verweis auf das bloß schriftliche Sein der Verse, sondern eine Negation des lauten, öffentlichen Sprechens, die Aufforderung zum bloß innerlichen Lesen.

«Verszerfall» nennt sich Freys glänzender Essay, und so darf er schuldig bleiben, was es heißt, daß «freie» Verse sich «selber das Gesetz ihres Ablaufs» geben – diese Formel für die kopernikanische Wende der Dichtungsgeschichte. Der «gebundene» unterscheidet sich vom «freien» Vers nicht primär durch die An- oder Abwesenheit eines Metrums, sondern durch die Herkunft und Verallgemeinerbarkeit der rhythmischen Notwendigkeit. Es gilt jedoch: Das Modell «Verszerfall» ist nur für Frankreich gültig und erinnert uns an eine Leerstelle im literaturhistorischen Bewußtsein: Klopstock. Ihm war der freie Vers kein Produkt von «Krise» und Verfall, sondern des Neuanfangs, der Reim kein Bürge für Ordnung, sondern «plumpes Wörtergepolter» . Die Emanzipation vom metrischen Schema ergab sich bruchlos aus der Suche nach einer der deutschen Sprache eigentümlichen, musikalisch suggestiven Deklamation. Fundament war eine Theorie der «Wortbewegung»: Sie will beschreiben, wie der «Zeitausdruck», also das Verfügen über die Längen und Kürzen, Beschleunigungen und Verzögerungen, Hand in Hand geht mit dem «Tonverhalt», dem Steigen und Sinken der Stimme, bei der Erzeugung von sinnlichem Ausdruck. Dieser kühne, seiner Dunkelheiten wegen bald vergessene Entwurf zur Beschreibung der Wechselwirkungen von Semantik und Klangrhythmik ist bis heute theoretisch nicht eingeholt. (Vgl. Katrin Kohl: «F. G. Klopstock», Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2000).

Was bei Klopstock noch im Dienst einer erhabenen Verkündigung stand, wurde bei Mallarmé zum Selbstzweck des Gedichtes. Es gehorcht einem «totalen Rhythmus […], welcher das verschwiegene Gedicht, aus Weiße, wäre.» Jene «Weiße», die dann im «Coup de dés», der Vision eines Textes jenseits der Alternative Prosa/Vers, im Zentrum steht. Aber was ist das, der «totale Rhythmus», die Interferenz von Klang und Dauern, der aus alltäglichen Worten dichterische macht? So ereilt uns zuletzt die gründlichste Lehre, die man sich denken kann: Wir sind Anfänger in Sachen Poetologie.


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