Philippe Lacoue-Labarthe

Hölderlin und die Griechen




Da Hölderlin zu schreiben einsetzt, geht ein Gespenst um in Europa: das Gespenst der imitatio.
Das Jahrhundert jedenfalls, geboren im Zeichen des Streits der Alten und Modernen, kann durchaus mit der Französischen Revolution zuende gehn: der Stil dieser Revolution, ihr Gestus und ihr Ethos, ist neoklassisch. Nachahmung Spartas oder Roms.
Und im denkenden Deutschland dieser Zeit, was auch besagt, in diesem Deutschland, das denkt, weil es in der Geschichte «an der Zeit» ist oder «an der Zeit» sich glaubt, herrscht in Wirklichkeit, trotz allem - nämlich, lückenhaft und durcheinander, trotz der Hamburgischen Dramaturgie, des «Sturm und Drang», Diderots Einfluß und Herders Philosophie der Geschichte, trotz Moritzens Kosmopolitismus und Ästhetik -, und vor allem trotz (vielleicht auch wegen) der durch Kant ausgelösten Krise - Riß oder schize, die niemand und nichts zu vernähn imstande ist -, herrscht also, in Wirklichkeit, immer noch Winckelmann. Und dieser Satz Winckelmanns, der die allgemeine Agonistik resümiert, in der eine ganze Kultur sich erschöpft und die Geburt einer Nation, wahrscheinlich, ausbleibt: «Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten».
Gewaltiger historischer Doppel-Zwang [double bind]; infolgedessen drohendes Anzeichen einer Psychose.
Auf jeden Fall sind die Griechen nirgendwo sonst in solchem Ausmaß zur Obsession geworden. Die Aufklärung im denkenden Deutschland der neunziger Jahre ist aufgrund dieses Schattens, den die Griechen über eine gesellschaftlich abgeschnittene, starre und verschlossene Welt werfen, eher ein Abendrot. Die Moderne zögert.
Was auch heißt: Deutschland zögert.



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