Benedikt Ledebur

Zu Rainer Nägeles «Echos : Über-setzen»


Sinnlos, doch lieb in liebem Tone sprichst du ...
(Antigone, in der Übersetzung Hölderlins)

Charakteristisch für die in diesem Buch versammelten Essays, wie vielleicht für Essays überhaupt, ist das Aufheben des Unterschieds von Literatur und Sekundärliteratur, von Text und Interpretation, von Lesen und Schreiben. Daß es in solchen Essays um mehrere Texte, Autoren und Zeiträume geht, daß das Sprechen zwischen Texten seine Bildlichkeit auf die verarbeiteten Texte abstimmt und daß Zitate in einem konstruktiven Sinn gebraucht werden, der zu neuen Aussagen führt und das eigene Schreiben im Auge behält, kann als Folge dieses Aufhebens wie als dessen Voraussetzung aufgefasst werden.
In seinem mit Vorwort: Lesen zwischen Texten betitelten ersten Essay, ein Integral über die drei folgenden Essays (Echolalie; Im Namen der Götter: Hölderlin, Baudelaire, Nietzsche; Das Übersetzen des Eros: Sophokles/Hölderlin, Baudelaire/Benjamin), wählt Rainer Nägele für sein konstruktives Verarbeiten ein Bild, das seine Essays mit jenem Text in Verbindung bringt, der für sie und für viele andere zeitgenössische Essays über das Übersetzen grundlegend ist, an dem sie sich messen: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers (ursprünglich Vorwort zu seinen Baudelaire-Übersetzungen), für Nägele eine Art Matrix seiner eigenen Essays. «…denn, um auf die Echos zwischen den Texten zu hören, muß man die Integrität der einzelnen Texte aufbrechen und die Splitter und Scherben zu neuen Konstellationen zusammenfügen. Diese Art des Lesens nähert sich … jener Art des Übersetzens, die Benjamin evoziert: Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenene Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstücke eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.» Die anderen für Nägele relevanten Autoren sind schon in den Essaytiteln genannt, hinzu kommen noch Kafka, Freud, und weniger präsent z.B. Derrida.
Weder Namen, noch Begriff und Bedeutung, sondern Laut und Zeichen sind richtungsweisend und zeugungsfähig. Was die «Zwischentexte» Nägeles bei der Fülle von Bezügen und Zitaten davor bewahrt, als reiner Kitt zu fungieren, ist weniger eine kalkulierende Kraft, die fremde und eigene Formulierungen zu einem begründeten Gedankengebäude zusammenfügt – und dazu sowohl des logischen Kitts als auch einer feststehenden Begrifflichkeit bedarf –, sondern, wie es schon mit Echos anklingt, das genaue Horchen auf die Tonalität der Texte, auf die Neben- und Zwischentöne, das zu so feinen Differenzierungen klanglicher Homonyme führt wie der zwischen den französischen naître – geboren werden, zur Welt kommen und n’être – Nichtsein. In seinen schwebenden Kommentaren fehlt es Nägele aber nicht am Sensorium für Begrifflichkeit und Begriffsgeschichte. Wenn naître mit werden wiedergegeben wird, weist er nicht nur auf die buchstäbliche Entsprechung erdn/ntre hin, sondern ist auf diese Korrespondenz im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Konotationen zu sprechen gekommen, auf denen Hölderlins und Benjamins Gebrauch von Werden beruht. Die Macht lautlicher und begrifflicher Interferenz, die beim Übersetzen dem Unbewußten oder Verborgenen zum Ausdruck verhilft, wird im Vorwort mit einem Witz demonstriert, der im Namen seinen Anfang nimmt: «Es gibt auch ganz andere Strukturen des ÐZwischenð, jene etwa, die sich im jüdischen Witz von Katzmann in Paris auftut, wenn der Kaufmann seinen allzu jüdisch klingenden Namen in einen guten französischen Namen verwandeln will, nur um sich in der perfekten französischen Übersetzung des Namens als chat l’homme jüdischer als je wiederzufinden. Im Übergang von einer Sprache zur andern, vom deutschen Katzmann zum französischen chat l’homme springt plötzlich das Hebräische im Schalom als dritte Sprache hervor. Daniel Sibony evoziert die Struktur dieses Raums zwischen den Sprachen als die Leere, in der das Andere als das Unbewusste haust: Ðdas Andere, das Unbewußte ist hier in dieser Höhlung, in dieser Leere, um die mehrere Sprachen kreisen.ð Baudelaires Verse in Le cygne rufen diese Leere im Namen Ovid (O vide!) an. Der jüdische Witz unterstreicht aber noch eine andere Dimension: die Offenbarung, die Lesbarkeit der dritten Sprache, der Wahrheitseffekt, der zwischen den Sprachen hervorblitzt, resoniert in einem spezifischen historischen Kontext von Erfahrung und Leiden.» Umfassendere Untersuchungen, aus denen dieses Beispiel stammen könnte und die beweisen, wie nahe sich bei unterschiedlichen Effekten die Techniken des Witzes und der Poesie als Techniken des Ausdrucks stehen, lassen sich in Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten nachlesen. Besteht der Witz des Witzes oft darin, Widersprüchliches unvermutet aufeinanderstoßen und damit Tabuisiertes aufstoßen zu lassen, so macht sich eine andere Technik des Ausdrucks, die Dialektik, das Widersprüchliche für die Dynamik der Argumentation zunutze. Mit dem dialektischen Bild, auf das sich Nägeles Interesse an Benjamin konzentriert, rückt die Dialektik allerdings in die Nähe des hervorblitzen lassenden Witzes, und Benjamin in die Nähe von Freud: «Das plötzliche des Sprungs stellt in Benjamins späterem Werk im Blitzhaften des dialektischen Bildes sich dar. Das Aufblitzen des dialektischen Bildes verdankt sich nicht einer mystischen Intuition, sondern ist das Resultat – freilich als solches niemals berechenbar – eines strengen Durcharbeitens durch die Phänomene der historischen Welt und deren strategischen Unterbrechungen.» Auch Hölderlins Poetik lässt sich nach Nägele unter dem Aspekt des dialektischen Augenblicks begreifen, sei es seine Poetik des Übersetzens, die «die Darstellung des Grunds in seinem Gegenteil» sucht, wenn er etwa den kriegerischen Eros der Antigone des Sophokles mit Friedensgeist übersetzt, sei es seine Auffassung der Tragödie als höchste Form der Darstellung in Gegensätzen. «Im 18. Jahrhundert und noch bei Hölderlin sind Blick und Blitz oft austauschbar: der Augenblick blendender Offenbarung – un éclair … puis la nuit. Hölderlins Anmerkungen deuten die Tragödie selbst als einen solchen Augenblick: Der kühnste Moment eines Taglaufs oder Kunstwerks ist, wo der Geist der Zeit und Natur, das Himmlische, was den Menschen ergreift, und der Gegenstand, für welchen er sich interessirt, am wildesten gegeneinander stehen …» Von der psychoanalytisch wohl am stärksten besetzten Tragödie, dem Ödipus, findet für Freud in der Moderne als Zeichen des säkulären Fortschreitens der Verdrängung eine Verschiebung zu Hamlet statt; Nägele zieht die Parallele zu Nietzsche, für den Hamlet die Analogie zum dionysischen Menschen darstellt, und liest beides im Kontext einer allgemeineren «Verschiebung von der antiken apollinischen Phänomenalität der Götterbilder zur Möglichkeit einer modernen Wiederkehr in der dionysisch-christlichen Form von Göttermenschen.» Im Essay Im Namen der Götter … thematisiert er Hölderlins Leiden am aus dieser Verschiebung folgenden Entleertsein der Götternamen anhand der subtilen Analyse eines frühen Hölderlingedichts, das die scheinheiligen Dichter anklagt: …ihr glaubt nicht an Helios, /Noch an den Donnerer und Meergott; /Todt ist die Erde, wer mag ihr danken? – Er bringt dieses Gedicht mit Hölderlins Übersetzung des sophokleischen Ödipus in Verbindung, in der Hölderlin an einer bestimmten Stelle Helios nicht nur, wie es der Urtext nahelegt, als ranghöchsten Gott, sondern als (zeitlichen) Vorläufer der Götter bezeichnet. Daß Helios gleichzeitig ein Naturphänomen, die Sonne, bezeichnet, rundet sich Nägele zusammen mit der Tatsache, daß dieser der einzige Götternamen ist, der im frühen Gedicht Hölderlins auftaucht, zum mythologischen Kreislauf, der Namen und Bedeutungen auf die im Gedicht formelhaft als Mutter angerufene Natur zurückverweist, der sie sich letztlich verdanken. Den Göttern sieht Nägele in der Interpretation eines anderen Verses dieses Gedichts nur noch als Ornament einen Platz zugewiesen: «Getrost, ihr Götter! zieret ihr doch das Lied, / Wenn schon aus euren Namen die Seele schwand. Das Pronomen ihr, das in der ersten Strophe sich auf die scheinheiligen Dichter bezog, steht hier für die Götter, aber die Götter sind zu bloßer Zierde, zu rhetorischen Ornamenten, Namen ohne Seele geworden. Das ihr der Anrede findet sein Echo im zieret ihr.» Es ist erstaunlich, wie nahe hier Nägele einer durch ihn selbst vorbereiteten Interpretation kommt, ohne sie zu nennen. Die Verschiebung von den Göttern zu den Göttermenschen im Sinn und das Pronomenecho im Ohr kann man sich gar nicht dagegen wehren, Götter auf die scheinheiligen Dichter zu beziehen, die das Lied auch dann noch zu beseelen hoffen, wenn der Träger ihres Namens schon lange das Zeitliche gesegnet hat.


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