Michael Donhauser

Letzte Gedichte




(zu Arthur Rimbauds Späten Versen)

Aus dem Ungarischen übersetzen, das hiesse jetzt, die blühenden Obstbäume zu übersetzen, aus den Gärten, während sonst die Bäume noch kahl sind, die Weiden ausgenommen - auch der Wind wäre zu übersetzen, wie er über das hier schon höhere Gras streicht, dann das Händlerleben am Bahnhof, der stark durchlichtete Kastanienbaum in Blüte, am Perron oder Bahnsteig zu den Gleisen 4 und 5 des Délipályaudvar: eine Opernsängerin beklagte sich mir gegenüber, dass das Wort 'Psyche' ins Ungarische aufgenommen worden sei, was ein so unungarisches ungarisches Wort wie 'psychebe' ergebe, wobei das Ungarische ein schönes Wort für die Seele hätte, nämlich 'lélek', und ich habe mich gefragt, wann und wozu das Wort 'Psyche' ins Deutsche aufgenommen wurde, wo es im Deutschen doch für 'lélek' das Wort 'Seele' gibt; vielleicht ist es so, dass 'Seele' nur noch schlecht deckte, was durch das Wort 'Psyche' dann fruchtbar wurde - denn 'decken', das heisst auch 'befruchten', im Natursprung, wie es auf den Landwirtschaftsmessen, auf den Viehmärkten heisst: dass also das Wort 'Seele' zu müde geworden wäre für jenen Sprung, der deckt, und das über Jahrhunderte ausgeruhte Wort 'Psyche' nun diese Aufgabe übernommen hätte.
Hiesse also das 'übersetzen', durch Aneignung von Worten fruchtbar zu benennen, und, handumkehrt, die eigenen Worte in fremden Sprachen fruchtbar werden zu lassen? Doch es ging im 19. Jahrhundert wohl darum, die Seele ihres doppelten Es zu berauben, dieses Echos im Namen, wo See und selig ineinanderklingen - dieses 'ee' durch das knappere 'y' von Psyche zu ersetzen; Ähnliches geschieht im Reim, geschieht durch den Reim, so wenn es heisst:

O, ihr Verlassenheiten
Der so armen Seele
Der das Bild nur bleibt
Von den Marienfesten.

Da reimt das kurze E von Festen auf das lange von Seele, kürzt das E von Festen das E von Seele rückwirkend durch den Reim, wird die Seele so ein wenig Psyche, aus der Tiefe des Sees gehoben an die Oberfläche des Gedichts.
Aus dem Ungarischen übersetzen hiesse auch, das Deutsche in jene Weite der Fläche, Ebene, Puszta zu bringen, dem Deutschen eine Zeit zu geben, die weniger in die Tiefe reicht, einer Vergangenheit als eines Waldes, die eher einer unendlichen Versammlung gleicht, von Szenen, im Jetzt, in der Ödnis einer Allgegenwart mit Wegen in Geraden, Landwirtschaftsstrassen, in Kurven, wo kein Hang den Weg zu einer Kurve einlädt oder zwingt, wo die Kurve vielleicht einst um eine Baumgruppe führte, wo sie nun liegt, betörend ungewollt in jener Ebene, dieser anderen Zeit, zeitloseren Zeit - so oder als Kopfsteinplatz mit Mulden und Moos, breit bis hin zu einem Gleis, die Pflastersteine stellenweise versandet, gegeneinander versetzt: als einen Verladeplatz also mit einer Rampe in die Ödnis, so wiedergeben, wohin das Deutsche zu übersetzen wäre, würde aus dem Ungarischen übersetzt; in so ein Räumliches ohne sichtbare Nähe zu einem Ort, wo der Zug doch stehenbleibt, etwas unerfindlich, aus einer Unerfindlichkeit, die der Ungewolltheit gleicht, womit die Kurve im Licht einer Morgensonne lag.
CEGLED ist ein Gleisknoten, ein Y von Gleisen, die sich hier teilen, die hier zusammenkommen, wie SARGANS, ein Teilungsort, Vereinigungsort von Richtungen: Sprachen - wer übersetzt, vereinigt, teilt; es ist diese doppelte Bewegung des aus zwei Richtungen Kommens und in eine Richtung Gehens, des aus einer Richtung Kommens und in zwei Richtungen Gehens, etwas Y-förmiges, das beim Übersetzen trägt: dass die Sprache, aus der übersetzt wird, immer eine geteilte ist, eine fremde, eine eigene, dass die Sprache, in die übersetzt wird, immer zwei Sprachen in sich vereint, die eigene und die fremde - und umgekehrt. Am Bahnhofsplatz, dem gleisseitigen von CEGLED, breitet ein Ahorn sein Geäst weit über das Kopfsteinpflaster, ich habe ihn als Ahorn an seinen kaum entfalteten Blättern erkannt, dann eine Magnolie und Blumenbeete, Stiefmütterchen, Tulpen, und Bänke, das Bleichblau der Sitzflächen und Lehnen aufgeschraubt an je zwei Zementgussockeln: dieses Anfängliche, diese ersten Bemühungen eines örtlichen Verschönerungsvereins, jetzt, als ginge es darum, die kalkulierte Freude an den Farben der Blumen wiederzugewinnen und den ersten Überdruss auch, das Ungenügen an der Schönheit eines Beetes, wo weitum die Ödnis vorwiegt - dann der Pappelreihenwald, die Agipfahnenreihe, die Staffel der Plakatwände, die Hinterhausgärten, ein Bongert am anderen, wie es in meiner Muttermundart heisst, dieses Obstbaumparadies mit der für die Wärme und den Regen aufgeharkten Erde.
'Harke' gehört zu der weitverästelten indogermanischen Sippe der lautmalenden Wurzel '*[s]ker-', die besonders heisere Töne, scharrende, kratzende und rasselnde Geräusche nachahmt: die Amsel, die Harke, das Scharren, hörbar als aufgebrochene und umverteilte und zerkleinerte Erde, Erdbrocken - es ist so eine Arbeit, eine in Jahresabständen wiederholte Wendung, Wandlung, Abwandlung, Anverwandlung gewesen, der letzten Gedichte, als ginge es darum, noch einmal letzte Gedichte zu schreiben, nah der Grenze zum Nichtmehr noch zu verbinden, 'onde' und 'flore', die Welle, das Gras, die Seele und 'âme' oder 'âne', Esel und 'lélek', doch wer spielt den Tod? Das Leben spielt den Tod, heisst Erika, ist so nah, ist der Wind im Gras, das so bewegt lebendig vergänglich ist, palavert: letzte Gedichte sind fast palavernd, verdrehen die 'Parabel' in ein 'Palaver', noch einmal, in ein Gerede am Ende der Rede, verhandeln noch, wo das Wort nicht mehr handelt, nicht mehr von, nicht mehr mit; sie palavern vor sich hin - dahin wollte ich die Gedichte zuletzt bringen, in so ein Lohen wie von Gras, in die Ungewolltheit eines solchen Wollens.
Das war manchmal möglich und manchmal waren die Gedichte Erzählungen, handelte eines von der Vergeblichkeit als einem Haushalt, einem jungen, wo alles liegenbleibt, ist das Gedicht so ein vergeblicher Haushalt gewesen, eine Ansammlung von Hausrat, Gerede, einer Fee und Tanten und Geistern - ein Versäumnis waltet in diesem Gedicht, bis das Gedicht das Versäumte nachholt, am Ende, sie anruft, die Gespenster in Weiss, und bittet, um eine Verklärung, um ein verklärtes, ein ungarisches Blau, Blau des Fensters für jene, die liegen, verliegen vielleicht, liegengeblieben wie die Arbeit, die Bahnschwellen dort, zu Haufen gestapelt; es ist eine Bitte um Dauer, dieses letzte Gedicht, sind Gebete, die letzten Gedichte, versäumte, nachgeholte, die Übersetzung ist ähnlich ein Versäumnis, holt ähnlich etwas Versäumtes nach, sich sozusagen, doch ohne Freiheit, es gibt keine übersetzerische Freiheit, gibt die Notwendigkeit, das Versäumte nachzuholen, die Bitte, am Ende, an diesem Ende, das Arthur Rimbaud mit diesen Gedichten seiner Dichtung setzt.
- 'lélek', 'Seele', es ist immer ein Versäumnis in der Seele, etwas Unübersetztes, das viel Saumseligkeit braucht, ein saumseliges Arbeiten, um zur Übersetzung zu gelangen; nichts ist unübersetzbar, oder es ist nur das Nichts unübersetzbar, das Fehlen von allem, was nachzuholen wäre, jeder Bitte, worin sich das Wort erfüllte: das Wogen als Weite, die Weite als Wogen jetzt, einer Kastanienkrone, der Blätterfülle, Blütenkerzen, auf die ich vom Balkon meines Bruders sah - Arthur Rimbaud war Naturlyriker, er rief die Natur an als die Gewalt, die ihn vom Übersetzen befreien sollte, so bat er; er wollte Gras werden, nicht länger Gras übersetzen in Worte wie Arme, voll und warm und weich, seine Gedichte sind ultimativ oder träumen, von einem Abend, einer Ruhe, einem Glas, getrunken in irgendeiner Stadt; das ist sein Inbegriff des Zuendekommens, sein Traum, den er übersetzt, und kaum ein Stück später fällt er seiner Übersetzung, meiner, ins Wort: - Doch Träumen ist ohne Würde. Und nach einer Pause: Denn es ist reiner Verlust! 'pure perte' - das ist ein anderer Verlust als Jener, der beim Übersetzungsgeschäft beklagt wird, ist ein reiner, ein entwürdigender Verlust, denn Würde wäre, nicht zu übersetzen, und so ist arm, wer so träumt; der Verlust ist das Übersetzen, und ihn gilt es zu übersetzen, in eine Reinheit, einen Verlust ohnegleichen.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor