Matthias Messmer
«Schatten zu... es ist gezählt auf deinem Haupte»

Rainer René Mueller ist mit 76 Jahren wahrscheinlich der älteste jüdische Dichter in Deutschland. Eine breitere Anerkennung war ihm nicht vergönnt - zum Nachteil von Generationen.

Ich bin gewöhnt an dieses «hier wenig Platz haben». Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer. Mehr nicht. Früher, als ich noch in Frankreich in einem kleinen lothringischen Dorf ein Haus bewohnte, besaß ich eine Bibliothek mit sechstausend Büchern und vielen Kunstwerken. Aus gesundheitlichen Gründen musste ich vor einigen Jahren dieses liebgewonnene Zuhause - es war ein altes Schulhaus - aufgeben und lebe jetzt wieder in Heidelberg, wohin ich 1956 als Siebenjähriger aus einer kleinen Stadt in Unterfranken mit den Eltern gezogen war.
Das Leben im Rollstuhl, auf den ich seit meinem Schlaganfall vor drei Jahren und zwei vorherigen Infarkten ein für alle Mal angewiesen bin, ist schwer für mich. Ich habe ja auch noch eine unheilbare Lungenerkrankung und kann meine Wohnung alleine nicht verlassen. Ich kann ohne Begleitung weder zur Bank in der Nachbarschaft gehen, noch zur Post, weder Bus oder Zug fahren. Ich kann nicht einmal meinen Abfall zur Mülltonne tragen.
Das macht mich so mürbe. Mit einer Nachbarin habe ich eine Art Hilfevereinbarung: Zwei oder drei Mal die Woche hänge ich eine Nesseltasche an den Griff meiner Wohnungstür, darin befinden sich Einkaufszettel und Geld. Dann bringt diese hilfsbereite Frau mir Kleinigkeiten, die ich aufgeschrieben habe, Milch und Butter oder Brot, Obst, Kaffee.
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht freiwillig gehen will. Kein Tag, an dem ich nicht überlege, wie ich aufhören könnte, einigermaßen geregelt und sinnvoll. Auf der anderen Seite gibt es manchmal solche kleinen Stufen, bei denen ich denke, die kannst du noch gehen. Beispielsweise habe ich noch ein Vorhaben angefangen, und jetzt beendet, das dem Künstler Matthias Maaß gewidmet ist. Mit diesem, der bis zu seinem Tod 2019 hier in der Stadt als Sonderling behandelt und unterschätzt worden war, hat mich eine vier Jahrzehnte lange Freundschaft verbunden. Im Februar wird ein Buch mit dem Titel «Les Très Belles Heures» vorgestellt, mit Arbeiten von ihm und Gedichten von mir. Diese Veranstaltung würde ich gerne noch erleben.
Vor einem Jahr, am Neujahrstag, feierte ich mit einigen Freunden in einem Heidelberger Hotel meinen 75. Geburtstag. Das war eingeschränkt, aber doch sehr schön. Ich hoffe halt, dass ich körperlich einigermaßen beieinanderbleibe. Mein Kopf arbeitet ja noch gut. Schließlich habe ich mit dem Wallstein Verlag, in dem vor drei Jahren dank meiner Freunde Leonard Keidel und Chiara Caradonna meine gesammelten Gedichte aus über 50 Jahren erschienen sind, noch einen Gedichtband verabredet. «Contro Canto», Gegengesang, soll er heißen, mit dem Untertitel «Spätwerk». Das mache ich ganz absichtlich, weil ich mich nicht verstecken will. Mir ist bewusst, dass es innerhalb des deutschen Literaturbetriebs eine Reihe von Personen gibt, die sich aufgrund meiner jüdischen Identität scheuen, mit mir zu tun zu haben. Das wundert mich nicht und doch sehr.
Die meisten meiner Gedichte sind von einer gewissen abständigen Trauer. Ja, so ist es. Das hat mit meiner wirklichen Biografie zu tun, denn die ist, gelinde gesagt, äußerst ungewöhnlich. Schauen Sie sich mal dieses Foto an: Es zeigt meinen Stiefvater, wie er als SS-Mann und Mitglied einer Einsatzgruppe irgendwo in der Ukraine einen Juden mit seiner Pistole durch Genickschuss tötet. Vorne das Massengrab, dahinter, neben ihm stehend, eine Gruppe gaffender Wehrmachtsoldaten. Mein Adoptivvater, stellen Sie sich das mal vor! Was glauben Sie, was das mit mir gemacht hat, als ich den Mann auf diesem Bild von 1941 wiedererkannt habe?
Verstehen Sie, ich habe sehr belastende Phasen in meinem Leben gehabt. Niemand hat mich verstanden. Niemand in der Familie hat mich je gelobt, kein einziges freundliches Wort. Keine Anerkennung. Nichts. Meine Mutter hat mich nie umarmt, auch nicht berührt. Ich habe oft an mir gezweifelt, mich gefragt, wozu ich überhaupt auf der Welt bin. Das ist die Tragödie in meinem Leben!
Selbstverständlich hat meine Biografie mit meinem Schreiben zu tun. Was glauben Sie, ging mir durch den Kopf, als mein Stiefvater, er hatte mich 1951/52 adoptiert, zu mir sagte, es wäre besser gewesen, man hätte mich mit Kohle ausstopfen, in einen Waschtrog legen und anzünden sollen? All die Brutalität, die Beschimpfungen und Herabwürdigungen, denen ich immer wieder ausgesetzt war. Er hat seinen ganzen Sadismus an mir, dem kleinen jüdischen Jungen, ausgelassen. Was glauben Sie, warum ich das so lange, bis zum Abitur und darüber hinaus ausgehalten habe. Ich habe mir doch keinen Rat mehr gewusst als Kind. Ich wusste doch nicht, was da los war.
Meine Mutter hatte mir nie gesagt, dass ich jüdisch bin. Sie hat auch nie über meinen leiblichen Vater gesprochen, das habe ich alles erst viel später rausgefunden. Dass er Kommunist war, aus Berlin kam, und deshalb Deutschland verlassen wollte und später in Venezuela als anerkannter Fotograf eine neue Familie gegründet hatte. Ach, es ist so schmerzhaft.
Zum Glück hatte ich meine Großmutter mütterlicherseits: Rosa Riedel, eine geborene Eliescher. Sie stammte ursprünglich aus Czernowitz und war die einzige Person, der ich absolut vertrauen konnte. Ihr eigenes Jüdischsein, ihre Gebirtigkeit, hatte sie gegen außen versteckt und nicht mal ihren Kindern davon erzählt. Mir gegenüber erwähnte sie es erst, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war. Davor, in der Volksschule, hatte ich zum ersten Mal gehört, dass die Juden vergast gehörten.
Meine Großmutter kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts über Wien nach Mähren. Im Gefolge der Benes-Dekrete wurde sie 1946 aus der Tschechoslowakei vertrieben und gelangte mit einem Transport in einem Viehwaggon in die Nähe von Potsdam. Meine Mutter hingegen fand eine Bleibe in Karlstadt am Main und hatte dort als gelernte Fotografin eine Anstellung in einem Fotoladen bei meinem leiblichen Vater gefunden. Dort wurde ich 1949 geboren, als uneheliches Kind wohlgemerkt, weil meine Mutter nicht mehr an die Rückkehr ihres Mannes aus Russland glaubte. Ob sie wusste, dass er, den sie noch sehr jung in der Tschechoslowakei geheiratet hatte, an so vielen Einsätzen der SS teilgenommen hatte? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich kann nicht mehr.
Dieses Alleingelassensein, das Unverständnis und die Rätselhaftigkeit meiner Situation innerhalb der Familie waren ausschlaggebend für meine Beschäftigung mit dem Schreiben. Mit ungefähr zwölf habe ich begonnen, einen Roman zu entwerfen. Gleichzeitig habe ich mein erstes Testament verfasst und festgelegt, was auf dem Grabstein zu stehen hat. Ich denke, wenn meine Großmutter nicht so eine kluge Frau gewesen wäre, hätte ich mein Leben damals schon beendet. Ihr verdanke ich, dass ich in dieser Familie nicht verreckt bin.
«Rainerle, Rainer, gildener Rainerle. Du musst lesen, du musst lesen, dass du wirst ein berühmter Mann». Das waren Großmutters Worte, die für mich wie ein Zauberspruch waren. Wenn ich bei ihr auf Besuch war, bekam ich Bücher von Pasternak und Scholochow, Schopenhauer oder Apuleius zu lesen, aber auch Balthasar Gracian, die Märchen von Wilhelm Hauff, Biografien von Musikern, Komponisten. Was eben als sogenannte Bückware erhältlich war. Und das in Potsdam, das war ja tiefste DDR in den 1950er Jahren.
Ich habe dann später doch auch viel Schönes verwirklichen und erleben dürfen. In Schwäbisch-Hall beispielsweise leitete ich in den 1980er Jahren die Städtische Galerie. Dann war ich ab 1989/90 Gründungsdirektor des Kunstmuseums Heidenheim, wo ich zusammen mit einem Architekten das ehemalige Jugendstil-Schwimmbad für eine Picasso-Sammlung umgebaut hatte. Noch heute würde ich, wenn es mir gesundheitlich möglich wäre, Ausstellungen kuratieren: Ich hatte ja, nebst Theologie, Germanistik, Philosophie und Französisch, auch Kunstgeschichte studiert. Und ich war gut, nicht zuletzt als Gutachter und Dozent. Ich sage das ohne Eitelkeit - ich wusste, was mein Wert war.
Auch im literarischen Journalismus habe ich vieles gemacht: So habe ich zum Beispiel unter einem Pseudonym für Die Zeit geschrieben, für Christ und Welt, später auch für Die Welt. Ich verfasste einen längeren Bericht zu Depardieu, in seiner Rolle als Malade imaginaire, er war damals noch nicht in Verruf gekommen, oder berichtete über die Uraufführung von John Cages Roaratorio: An Irish Circus on Finnegans Wake in Paris im IRCAM. Das waren besondere Geschichten, die ich aber immer getrennt habe von meiner lyrischen Tätigkeit als Dichter.
Für mein nötiges Geld musste ich immer selber, als freier Autor bzw. Kurator sorgen. Ich war nie sozialversichert. Um in der poetischen Kunst unabhängig zu sein, musste ich meinen Lebensunterhalt eben in der bildenden Kunst verdienen. Dafür war ich als Dichter immer unabhängig, und das war für mich besonders wichtig: Ich wollte nie irgendwelche Kompromisse machen, nur um ein Stipendium zu bekommen oder einen Preis zu erhalten. Das ist heutzutage bei der jungen Generation, denke ich, ganz anders.
Zwei Besonderheiten aus meiner jüngeren Vergangenheit möchte ich gerne noch erwähnen: Mein erster und einziger Besuch 2019 in Israel, wo ich mich sicher und ungefährdet fühlte und wo mein Geschriebenes ein so wohlwollendes Echo fand. Wie kostbar, diese «Woher-kommst-du-wohin»-Geschichtlichkeit in Resonanz mit den jungen Menschen der Hebrew University in Jerusalem wahrzunehmen.
Und dann natürlich das Überraschungsgeschenk von Sarah Nemtsov, das mich vor einigen Wochen erreichte. Sie, diese wunderschöne Frau und Komponistin, die in Berlin und Salzburg arbeitet, hat mein Gedicht «Schatten zu» vertont. Ich wusste zunächst nichts davon. Und jetzt wird es in Bälde, im Februar, von der Schola Heidelberg uraufgeführt. Was für eine Freude und Ehre gegen Ende meines Lebens! Wissen Sie, ich bin ja mit Ehrungen nie überschüttet worden.
Was ich mir noch wünschte? Dass ich nicht qualvoll ersticken muss, mit einer Beatmungsröhre im Hals oder so. Dass ich einen jüngeren Menschen an meiner Seite hätte, der mich verständnisvoll begleitet und der anfassbar ist. Oder dass ich wieder eine Katze haben kann. Das ist alles, was ich mir wünsche. Ich habe niemanden, der meine Hand nimmt. Und ich bin ja nicht aus Holz.

Matthias Messmers Text erschien in einer gekürzten Fassung als Porträt der Woche in der Jüdischen Allgemeinen. Als roughbook 034 ist von Rainer René Mueller erschienen: POEMES - POETRA. Ausgewählte Gedichte 1981-2013, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dieter M. Gräf