Samuel Moser

Hände meine Augen
Michael Donhauser sieht das Sehen




In der Antike galt der Dichter als Seher. Er sah, was das Auge nicht zu sehen vermochte. Die christliche Vorstellung, das Wort sei das Wort Gottes, machte das Ohr zum privilegierten Sinnesorgan des Dichters. Seit der Aufklärung, dem Zeitalter des Lichtes, ist wieder das Auge ins Zentrum gerückt. Davon geblieben ist heute die Vorstellung des unbeteiligt beobachtenden Dichters. Aber sie ist falsch. Das wichtigste Organ des Dichters ist seine Hand. Er sieht mit den Händen, nicht mit den Augen: « …und so sah ich sie wieder, die Beeren und den Schnee und die Wiesen, das Vieh, wie es kauend lag in der Sonne, ruhig im Licht der letzten Strahlen, dass alles Dauer war und blieb, ich sass und sah, und es waren Hände meine Augen und war das Sehen ein Streifen, die Worte, sie waren nahezu unversehrt – », schreibt Michael Donhauser in seinem Band «Vom Sehen».

Der Band versammelt Prosatexte aus den letzten zwölf Jahren seines Schaffens, stellt einen Querschnitt durch sein Werk dar. Es sind weder Essays noch wissenschaftliche Abhandlungen, sondern Texte, die das Sehen «sehen». Texte, in denen das Sehen selber am Werk ist. Die Hände des Dichters sind die Worte. Donhauser, ein ebenso starker Lyriker wie Prosaist, hat nie anders «gesehen» als durch die Schrift. Durch die «Hand»schrift, in der sich innere Bilder gemäss ihrem Rhythmus in äussere übersetzen: in Sprachbilder und Satzlandschaften zunächst, die sich dann in den gesehenen Landschaften fortsetzen. So liest er auch Texte: In Stifters «Nachsommer» zum Beispiel (in «Kritik des reinen Verlusts») sieht er die «Staffelung» der Sätze als Bedingung der Möglichkeit, Landschaft wahrzunehmen: Landschaft «als» gestaffeltes Land. Umgekehrt wird das «als» der Erscheinung im Text zum «also» des Erzählens: «also lebte das Dorf an seinem Rand». Das Räumliche kehrt wieder als Zeitliches und das Visuelle als Akustisches.

Wenn Donhauser sich schreibend in einer Landschaft zu bewegen beginnt (oder: wenn er eine Landschaft oder eine Landschaft ihn zu bewegen beginnt wie erwachender Wind), wird es weit, weite Welt. Landschaft ist nicht Natur, sondern Kosmos: Ordnung und Schönheit. Es gibt kaputte Landschaften bei Donhauser, aber keine hässlichen. Weil sein Schreiben ein Sehen und kein Beobachten ist, ist es auch kein Werten. Auffallend die Adjektivlosigkeit seiner Beschreibungen. Die Dinge werden nicht qualifiziert, sondern aktualisiert. Sie handeln. Sie zeigen sich im Tun der Worte. Darin liegt das buchstäblich Spektakuläre der Prosa Michael Donhausers. Bild und Klang tauschen sich miteinander aus wie «Laut» und «Laub» im folgenden Satz: «Ich dachte in Lauten, ich vernahm, was ich dachte, in Lauten, ich belauschte mich und hörte das Laub und hörte es rascheln.» Das Sehen Donhausers ist so spannend, weil es nicht immer schon weiss, bevor es sieht. Seine Worte äugen herum, sind aufmerksam, aber auf nichts gerichtet, absichtslos. Die ruhige Grundstimmung seiner Texte, diese provokativ «nahezu unversehrten» Worte (also Augen), hat nichts mit irgendeinem Positivismus zu tun. Donhauser nimmt die Welt nicht, wie sie ist: weil es Welt nicht «gibt». Sie muss vom Dichter erst erfunden – oder wiedergefunden – werden. Dichten ist «Renovation», heisst es über Stifter.

Darob erschrickt Donhauser selber am meisten, und es will ihm fast nicht über die Lippen: «Und einmal, an einem Sonntag, wie wir heimwärts fuhren, die Geliebte und ich, war es, dass ich sah, fast sagte, dass es gut so sei, wie es war, das Land, so getrennt vom Wasser, dem Meer.» – «Gut so, wie es war» heisst: Er sah, dass es war. Das sah Gott nicht anders. Damit ist nur der Akt der Wahrnehmung beschrieben. Des gegenseitigen Wahrnehmens im Fall eines «zweiten» Gottes wie des Dichters Donhauser. Sehen ist ihm ein «Grüssen», ein Gegenübertreten, Blickwechsel und Echo: «ich sah, wie die Elster mich sah, sah mich ein paar Schritte im Schnee stehen», heisst es in einem Text über Monets Bild «Die Elster». Donhauser nennt diesen Moment der flüchtigen Dauer im Zusammenhang mit den grasbewachsenen Fugen eines Sandsteinmäuerchens einmal «Innigkeit» oder «insgeheime Heimat». Es ist ein Augenblick der Vollkommenheit. Was Donhauser aber ins Sakrale erhebt, bleibt immer das Nahe und Vergängliche: «alles war hier». Es gibt keine andere Welt in Donhausers Texten als die Welt «hier», als den Text selber.

(Neue Zürcher Zeitung, 26. Mai 2005, Besprechung zu: Vom Sehen)



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