Herbert Wiesner

Die Pohesie der Ereignisse





Er gehörte zum Kern des rumänischen Surrealismus: Gellu Naum. Er übersetzte Gedichte von Kafka und Diderot, schrieb wunderbare Kinderbücher. Mit dem rund 850 Seiten starken Gedichtband Pohesie. Sämtliche Gedichte erweist sich Naum endgültig als ganz Großer der Weltlyrik. Es ist der gelebte Surrealismus.

Klein und zart könnte er auch gewesen sein. Ich aber habe Gellu Naum als einen großen, schlanken Herrn mit vollem Haar und tiefer Stimme in Erinnerung. So tauchte er in den 90er Jahren in Berlin auf, nie ohne seine liebenswürdige Frau Lygia, oft an seiner Seite der erst in Berlin als Freund erkannte Mittler Oskar Pastior. In Münster haben beide Dichter 1999 den Preis für Europäische Poesie erhalten.

Gellu Naum, geboren am 1. August 1915 in Bukarest, dort gestorben am 29. September 2001, war damals schon eine verehrungswürdige Figur der rumänischen Literaturgeschichte und des internationalen Surrealismus. Als Freund des großen Malers Victor Brauner, als Weggefährte von Ghérasim Luca, von Paul Pãum, Dolfi Trost und Virgil Teodorescu gehört Naum zum Kern des spät entstandenen rumänischen Surrealismus. Ghérasim Luca ist übrigens in der Übersetzung von Mirko Bonné und Theresia Prammer ebenfalls bei Urs Engeler erschienen.

Die französische Bewegung um André Breton hat er 1938/39 in deren Endphase durch Victor Brauner kennen gelernt. Naum wollte schreiben, wie Victor Brauner malte. Also erkor er den Surrealismus zu seiner Lebensform. Surrealismus «machen», wollte er nicht, aber ihn leben und neu erfinden. Vielleicht erschien er ihm als das Okular, durch das seine Zeit und seine Welt nur mehr kenntlich waren.

Erst in Paris, dann in Bukarest war Gellu Naum bis 1947 (freilich mit den politisch bedingten Unterbrechungen) noch an Gemeinschaftspublikationen und an Ausstellungen beteiligt. Ende 1947 wurde dem ein jähes Ende gesetzt. André Breton, der 1935 Ilja Ehrenburg öffentlich geohrfeigt und sich später von Louis Aragon und Paul Eluard, dem prosowjetischen Flügel des Surrealismus, getrennt hatte, war nun in den Augen der neuen kommunistischen Machthaber und der sowjetischen Kommissare der falsche Freund. Bis 1968 dauerte das Berufsverbot des Dichters.

Naum hat diese zwanzig Jahre für ein riesiges Übersetzungswerk genutzt. Beckett und Kafka, René Char und Jacques Prévert, aber auch Denis Diderot oder die schönen Schmöker der Dumas (père und fils) hat er übersetzt, und wunderbare Kinderbücher hat er auch noch geschrieben. Und er hat wahrscheinlich nicht einmal darunter gelitten, dass er keine eigenen Gedichte veröffentlichen durfte.

Wollte er denn überhaupt der große Dichter sein, der er zweifellos gewesen ist? Selbstbewusste Poeten trifft man allemal in Rumänien, doch Gellu Naum gab vor, nichts als «Pohesie» zu schreiben. Er konnte auch lachen über die Poesie und ihr eine Nase drehen. Dann wandte er sich um und schrieb «Pohesie».

Paul Celan, der 1947 aus Bukarest nach Wien und dann weiter nach Paris geflohen war, hat als erster ein Gedicht Naums ins Deutsche gebracht, dafür allerdings eine fehlerhafte französische Vorlage aus den «Cahiers du Sud» von 1946 benutzt. Oskar Pastior (1927-2006) hat, als er 1968 Rumänien verließ, Naums gerade erschienenen Gedichtband «Athanor» mit nach Deutschland gebracht.

Der Band und das darin enthaltene Gedicht «Anfang und Mittelpunkt» markiert und antizipiert 32 Jahre nach dem ersten Gedichtbuch und 32 Jahre vor dem letzten zu Lebzeiten erschienenen so etwas wie die Mitte des Lebens, das in einem Tagtraum auf den Punkt gebracht wird: «und Platon mein obskurer Gaul / fanatisierte die Grammatik».

Ernest Wichners Nachwort erhellt hier die private Mythologie des Surrealisten und unfreiwilligen Kavalleristen vom September 1941 durch ein reales Zitat: «Stell dir doch mal vor, wie das ist, du kommst aus dem Pariser Künstlermilieu zurück nach Bukarest, wirst notdürftig militärisch ausgebildet, na klar, Akademiker, Unteroffizier und so, und dann sitzt du in voller Montur auf dem Rücken eines armen Pferdes und reitest in die Ukraine hinein. Im Kopf hast du noch Bretons Aufruf ,Weder euer Krieg noch euer Frieden‘; vor dir ist der sogenannte Feind und hinter dir sind die Verbündeten: erst die Ungarn, dann die Deutschen, und alle schießen sie wie wild, du bist von lauter Wahnsinnigen umgeben.» Platon? Vielleicht bedurfte es eines philosophischen Pferdes, damit dieser Reiter von der traurigen Gestalt in der Mitte seines poetischen Daseins die Unangemessenheit einer grammatischen Gangart erkennen konnte, in die ihn jener mörderische Krieg der falschen Verbündeten und der falschen Gegner einzubinden drohte. Naum war ein bekennender, doch parteiferner Revolutionär aller verderbten Normen von Politik, Sexualität und Kunst. Deshalb hatte er auch die, für die er in den Kampf ziehen musste, zu fürchten; offenbar wusste Naum von einer Akte, die man gegen ihn verwenden konnte. Vielleicht aber war jener obskure Gaul auch nur der falsche Dialogpartner für einen Dichter, der auf dem Weg war, seine Grammatik der Auflehnung von unmittelbaren Zwecken und Utilitarismen zu befreien.

Die frühen Gedichte funkeln noch, jedenfalls in Pastiors Übersetzung, mit den frechen, kessen Grotesken in der Art der deutschen Expressionisten Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein. Naums Zeilen «junge Herren schnuppern vornehm-elegant an unseren Frauen / die Fabriken knirschen mit den Zähnen» weckt die Erinnerung an Verse aus «Weltende» des Jakob van Hoddis: «Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut …». Der ältere Gellu Naum bricht Sprache nicht auf. Lieber ergibt er sich dem ruhigen Fluss seiner parataktischen Sätze, wird auch zum lyrischen Erzähler, der die Bilder der Natur liebt und ihnen in tiefem Vertrauen folgt. Doch eine Zeile wie «Es wehte kühl Dunkelheit kam auf und unser müdes Denken ertrank in seinen Buhnen» steht nicht im Widerspruch zum Handwerk des Diamantschleifers, von dem Oskar Pastior spricht. Naum gibt sich der Natur nur «in einer großen Denkanstrengung» hin, und selbst in der geringsten «Unordnung des Auges» droht eine Gefahr für «die menschliche Kontur» (1994).

«Athanor», das Buch aus der Mitte des Lebens, und nahezu alle früheren und späteren Gedichte Gellu Naums hat Oskar Pastior Naum lesend übersetzt, und Ernest Wichner, der Herausgeber der Pastior-Ausgabe des Hanser Verlags, ist nun auch der Herausgeber und gelegentliche Mitübersetzer der Gellu Naum-Werkausgabe geworden, deren erster Band am Tag von Oskar Pastiors Tod auf die Frankfurter Buchmesse gelangte. Dieses lyrische Lebenswerk ist zugleich Pastiors größtes Übersetzungswerk, und der Übersetzer hat ihm nichts Oulipotisches übergestülpt, sondern sich in Naum hineingelesen.

Der in nur 500 Exemplaren erschienene Band umfasst 31 Textgruppierungen beziehungsweise Bücher aus der Zeit von 1936 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Das sind rund 850 Seiten «Pohesie» auf Deutsch (Zweisprachigkeit hätte hier keinen Sinn ergeben). Der umfangreichste Gedichtband des Jahres erschließt ein lyrisches Œuvre des gelebten Surrealismus, ein Werk, das verunglimpft, zensuriert und verboten wurde und sich als eine riesige Insubordination in seiner völligen Eigenständigkeit behauptet hat. Der «Pohät» oder «Pohet» hätte es nicht ertragen, dass sich auch nur ein Satzteil dem anderen unterordnet.

«und wir noch nicht Vertriebene vom Ort der Asche an dem wir Anspruch / hätten wenigstens zu lauschen wie die Erde ins Nichts taumelt und / auseinandergeklammert uns in der enigmatischen Substanz der Liebe / zu wiegen … phonetisch denkend ist an diesem Ablauf nicht schwer zu begreifen daß / so vieles passiert und wir halten die Ohren uns zu um nicht mehr zu / hören doch die Ereignisse brausen von innen nach außen» (1990)

«Ohne Punkt und Komma», wie Oskar Pastior das genannt hat, schiebt sich in der Parataxe der Bilder, der widerspenstigen Gedanken und ironischen Entlarvungen ein Ausdruck von Welt voran, der uns selbst dann noch erreicht, wenn wir uns die Ohren zuhalten vor dem Schrecklichen, denn «die Ereignisse brausen von innen nach außen».

(Die Welt, 29. Dezember 2006)


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