Sabine Peters

Der Stock als Sprache




Sabine Peters, Deutschlandfunk (Büchermarkt: Buch der Woche), 8. August 2004

Woher kommt die Milch? In den westeuropäischen Groß- Mittel- und Kleinstädten weiß man, sie kommt natürlich aus dem Supermarkt. Und die Kühe wohnen entweder im Zoo, oder sie leben in fortschrittlichen Kindergärten, wo die Kleinen erfahren, daß – igitt – die Milch in einem labberigen haarigen Beutel wächst, der unten an der Kuh in kotverschmierter Schwanznähe festgemacht ist.

Dem stolzen Mut vieler urbaner Zeitgenossen gegenüber sei festgehalten: Alles städtische Leben kommt immer und überall vom Land. Selbst wenn einer noch so viele Vorfahren hat, die ihrerseits schon in Berlin, Zürich oder Paris gerackert haben, irgendwann kommt der Knick in der Familiengenealogie: Eines Tages ging der erste Sohn vom Dorf als Handwerker in die Stadt; verdingte sich die erste Tochter dort als Dienstmädchen. Generationen später dann ein mehr oder weniger herablassend-ahnungsloses Lächeln über das bäuerliche Leben. Es scheint allerdings auch eine Neugier zu geben, wie dieses Leben eigentlich funktionierte. Seit einiger Zeit kann man etwa im französischen, schweizerischen oder deutschen Fernsehen Doku-Soaps sehen, in denen der frühere harte Alltag auf dem Land exemplarisch nachgelebt werden soll. Ausgewählte Kandidaten werden in Leinenkleider gesteckt und auf das Rindvieh und die Rüben losgelassen. Ob sich aus solchen Sendungen Verständnis für das sogenannte einfache Leben – das ja tatsächlich alles andere als einfach ist – ergibt, sei dahingestellt. Im übrigen: Das einstige armselige Bauernleben ist – Industrialisierung und Computerisierung der meisten heutigen Höfe hin oder her – nicht bloß vorbei und vorüber. Auch jetzt noch, und nicht nur in der sogenannten dritten Welt, sondern auch im hochtechnisierten Mitteleuropa, gibt es die abgelegenen, isolierten Höfe, deren Bewohner ein Leben führen, das dem Tierischen oft näher zu liegen scheint als dem Menschlichen.

Die Sprache, heißt es, unterscheidet Mensch und Tier. Und damit ist man bei dem wagemutigen Debütroman «Von wegen den Tieren», der in diesen Tagen in der schweizerischen Edition Urs Engeler erscheinen wird. Noëlle Revaz wurde 1968 als sechstes von neun Kindern in Vernayaz im Kanton Wallis geboren und lebt heute in Lausanne. Sie studierte unter anderem Latein und unterrichtete diese Sprache auch einige Jahre lang. Außerdem schrieb sie Kurznovellen fürs Radio Suisse Romande. Wie ungezählte andere gutgläubige Schreibanfänger schickte sie ihren ersten Roman gleich unter den größtmöglichen Verlagen herum – und bekam vierzehn Tage später eine Zusage des renommierten französischen Gallimard-Verlags.

«Von wegen den Tieren» wurde im Frühjahr 2002 veröffentlicht, und dieser Erstling einer ganz unbekannten Autorin erschien bei Gallimard zusätzlich noch in der prestigeträchtigen «série blanche», die eigentlich bereits durchgesetzten und etablierten Autoren vorbehalten ist. Das ging natürlich nicht ohne Widerstände: Sollte in der ehrwürdigen «série blanche» ein Buch erscheinen, das zunächst den ordinären Arbeitstitel «Vulva» trug? In Frankreich wird auf «gutes Französisch» großen Wert gelegt, und der Verleger wollte im übrigen nicht in Zusammenhang mit skandalumwitterten Büchern wie «incest» oder «baise-moi» gestellt werden.

Noëlle Revaz’ Erstling sorgte allerdings vor allem wegen seiner herausragenden literarischen Qualität in Frankreich und in der Schweiz für großes Aufsehen; hier findet eine Existenz zur Sprache, die im Grunde vor allem eins ist. Sie ist sprachlos. Der Ich-Erzähler Paul ist Bauer. Seine Frau nennt er Vulva, «Drecksvieh, Schwarte, Kartoffelverschwenderin». Meistens macht er nicht so viel Worte, ein paar Maulschellen oder der Stock tun es auch. Es gibt einen ihm unübersehbaren Haufen von Kindern auf dem Hof; diese wuselnden «Kleinen» werden ebenfalls durch Gebrüll und Schläge auf den rechten Weg gebracht. Paul ist der Meister, der Gebieter, der Besitzer. Ein portugiesischer Wanderarbeiter, Jorge oder Georges, schuftet einen Sommer lang als Aushilfe mit auf dem Hof.

Und Paul, der Ich-Erzähler, beschreibt diesen Sommer. Mit Georges kommt gute Stimmung auf, er ist ein fleißiger Arbeiter, eigentlich ein Kumpel. Er, der in Portugal studiert hat und folglich noch als Ausländer sprachmächtiger ist als Paul, rät dem Boss gelegentlich, ein bißchen netter mit der Frau, der Madame Vulva, der «Vulvinha» zu sein. Nur: Die Frau macht einen auf krank, sie jammert immerzu und hat einen Pilz oder einen Krebs in ihrem häßlichen Kugelbauch. Schließlich muß sie sogar ins Spital, wo Georges sie besucht – Paul hat auf dem Hof zu tun und andere Sorgen, nur mit Mühe hat Georges ihm ein Briefchen an die Frau abgerungen. Als Vulva, abgemagert und skalpiert bzw. mit einer Perücke – mit Plastikhaaren, sagt Paul – , zurückkommt, muss sie geschont werden, was Paul für ein abgekartetes Spiel hält. Immerhin hat ihn Georges auf die Idee gebracht, das Zimmer seines verstorbenen Vaters für die Frau einzurichten. Der Sommer geht ins Land, ein Fest wird gefeiert und dann fliegt Georges zurück nach Portugal. Dafür kommt eine Seuche, die Lieblingskuh verendet, die anderen angesteckten Tiere werden zum Schlachthof abtransportiert. Paul kommentiert den Abtransport entsetzt: Da fährt ein brüllender Sarg.

Ort und Zeit, wie sie in dem Roman «Von wegen den Tieren» geschildert werden, sind überall und nirgends. Nur ganz nebenbei setzt Noëlle Revaz ein paar Tupfer, die das Ganze ein klein wenig erden. Diese Details weisen darauf hin, dass man sich etwa in den 90er Jahren befindet; so war 1989 in der Erinnerung Pauls das Jahr, in dem die Kuh Douce kalbte. Auf dem Hof gibt es selbstverständlich Maschinen, Melkmaschinen, auch «Maschinen zum Toasten». Das Wort Satellitenschüssel ist Paul geläufig. Fernsehen ist schön, weil man beim Zehennägelschneiden hören kann, was die Chinesen sagen. Telefonieren liegt ihm nicht; ihm bricht der Schweiß aus, wenn er in das «Sieb» sprechen soll. Deshalb ist er noch lang kein Technikfeind, zum nächsten Weihnachtsfest werden die Kleinen einen Walkman geschenkt bekommen – aber sie sollen die Batterien gefälligst nicht zu schnell herunterbrennen – und einmal schaut ein Vertreter vorbei, der sogar Computer im Kofferraum mit sich führt. Während der Lektüre merkt man schnell, daß dieser technische Fortschritt für einen wie Paul geschenkt ist. Pauls «Sein» wird vom Klee und den Kühen bestimmt, und sein Bewusstsein ist ganz daraus geprägt.

Das bedeutet einerseits ein äußerst sachliches Verhältnis zur in sich geschlossenen Welt des Hofs. Romantisiert wird hier nicht, von Idylle kann keine Rede sein. (Auch das Rindvieh lernt mithilfe von Fußtritten und herumgeworfenen Holzscheiten, wer der Meister ist. Diese ganzen Kühe sind, zumindest zu Beginn des Romans, bloß fette Gras- und Heusäcke, aus denen man den Rahm macht.) Andererseits hängt Paul auf eine beinahe innige Weise an den Tieren.

Der Georges kennt sich aus mit den Kühen… er redet ein bißchen und sie kommen, sie reiben sich zart an ihm… ich lasse mir nicht den Hut hochgehen, weil das kann nicht sein, dass der Georges in Handumdrehn das Vertrauen von mehreren Jahren Hofarbeit abkassiert. Sie spüren genau, wer hier der Meister ist und wer der dicke Portugiese, und sie wissen auch, wem sie das Dach und das trockene Heu verdanken. Ein Neuer kann ihnen zwar den Kopf verdrehen, … und sie laufen hin, weil sie dumm sind, anstatt wenn sie überlegen würden, dann sähen sie, wo der Kopf ist und der Meister und der Kummer, den sie ihm bereiten, aber es sind ja alles nur Weibchen… Irgendwann wird der Georges weg sein und die Kühe vergessen ihn und holen sich ihre Zuneigung bei mir ab…Wenn sie so allein auf dem Feld stehen, ist es eine Augenweide, … wie sie am Fell die Helligkeit vom Himmel aufnehmen, gerade so, wie es ihnen die Natur von Anfang an gegeben hat: Ohne Leine, ohne das Seil,… sondern frei an der Luft, und wenn ihnen danach ist, den Schlenkertrott reinzuhängen oder aber ungebunden hinter dem Baum zu schauen, ob es da fetter sprießt fürs Gebiss, und weit weg von den Absperrungen und Sorgen, dass sie überhaupt nicht daran denken und fröhlich sind wie Eva anno dort einmal … Ich trete zwischen sie hinein, mitten in die Schädel und Hörner, und sie riechen mich, sie kennen mich beim Ohr, sie drehen sich her, wenn ich sie rufe, weil es immer zum Guten ist, wenn ich auftrete, immer bringe ich nur Gutes, und sie kommen ruhig hergelaufen, sie stupsen am Ärmel fürs Salz, so dass ich links in der Tasche und in der rechten abtaste, ob es etwas zu verteilen gibt, und sie warten, auch wenn ihnen ihr Paul nichts hinhalten kann, sie protestieren überhaupt nicht und bleiben so und schauen und lächeln fast, wenn man denkt.

Man könnte sagen: Also doch eine zwar hornviehmäßige, aber sehr sinnliche, kaum entfremdete, unverstellte mehr oder weniger heile Welt, die von der Zivilisation höchstens rudimentär gestreift wird. «Von wegen den Tieren» ist aber viel mehr als ein Roman aus dem bäuerlichen Leben: Der Roman reicht weit hinaus über die Topoi, die man aus der sonstigen Literatur übers Land kennt. Es gibt ja nach wie vor den affirmativen Blut- und Boden- Naturkitsch. Und es gibt dagegen die Bücher des in Großbritannien geborenen Autors John Berger; viele seiner Romane sind eine von tiefem Humanismus geprägte Würdigung der Landarbeit, ein behutsamer Versuch, diese Arbeit vor dem Vergessen zu retten. Von «Behutsamkeit» oder «Würdigung» kann man bei Revaz nun nicht gerade sprechen; gegenüber John Berger wirkt ihr Buch geradezu brachial.

Man würde der Autorin aber auch nicht gerecht, wollte man ihren Erstling mit den kritischen mundartlichen Bauernromanen etwa eines Franz Xaver Kroetz vergleichen. Ja, doch, hier gibt es sozusagen wie beim alttestamentarischen Adam den Kampf mit den Unbillen der Natur, schwerste körperliche Arbeit, es gibt den ambivalenten, gewalttätig-zärtlichen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier. Aber ist der Roman tatsächlich nur eine einzige Rede von der Dichotomie «Kultur» – gleich Bauer – versus «Natur» – gleich Tiere? Bekanntermaßen bezieht sich die unheilvolle logozentristische Schwarzweißmalerei im weiteren auch auf das Geschlechterverhältnis. Hier der eine, starke, aktive, gebietende Mann, da die andere, die er braucht, um sich zu konstituieren, die schwache, passive, gehorsame Frau.

Und diese Dichotomie wird von Noëlle Revaz auf unerhörte, provozierende Weise ausgestaltet. Angesichts des Themas Geschlechterkampf gerät einem der bäuerliche Kontext unversehens beinahe in den Hintergrund, der Hof scheint nurmehr als eine Metapher, oder als die Bühne, auf der Noëlle Revaz das Gewaltverhältnis zwischen Männern und Frauen in Szene setzt. Man befindet sich hier gewissermaßen in einer Diktatur, und da gibt es keine Widerrede, d a s ist das Verfahren des Textes. Hier wird weder geklagt noch angeklagt, sondern dieser Roman ist eine einzige Übererfüllung, eine einzige zustimmende Überzeichnung. Die archaische Struktur des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen ist bekannt, sie ist oft genug kritisch aufgespießt worden; man denke etwa an die Texte der Marie Luise Fleißer.

Bei ihr gibt es allerdings einen weiblichen Blick. Fleißers Protagonistinnen, gebeutelt und misshandelt, sehen und kommentieren so hellsichtig wie boshaft männliches Gehabe, männliche Lächerlichkeit, männliche Gewalt. Es gibt da ein wie immer prekäres Gegengewicht, einen Widerspruch. Elfriede Jelinek, um ein anderes Beispiel zu nennen, vermittelt in vielen ihrer äußerst sprachartistischen Texte eine derartige Distanz zu Männern wie Frauen, dass im Leser oder der Leserin nichts als Kälte zurückbleibt; Opfer und Täter sind rettungslos ineinander verknäult, und keinesfalls laden die Männer und Frauen zur Identifikation ein. Hier liegt ein deutlicher Unterschied zu Revaz’ Buch: Der Text, die Autorin, macht sich auf geradezu schamlose Weise zum Komplizen Pauls. Frau Vulva selbst wird absolut negiert, sie taucht überhaupt nicht auf, es sei denn in Pauls interpretierender Rede.

Das Buch von Noëlle Revaz artikuliert – wie auch Jelinek, wie auch Fleißer – einen Furor, und das nicht zu knapp. Es ist aber kein kaltes Feuer, das hier entzündet wird – vielmehr handelt es sich irritierenderweise um ein nicht nur witziges, sondern auch um ein warmherziges Buch: Die Autorin ist geradezu verschworen mit diesem Holzklotz von Paul, mit diesem Brutalo, dessen Gedankenwindungen in ihrer ganzen Frauenfeindlichkeit frohgemut wiedergegeben werden. Weibliche Leser können des öfteren in wildes Gelächter ausbrechen. Revaz kratzt den Lack ab, aber gründlich, und das Lachen, das sie provoziert, liegt nahe beim Schrecken – es hat allerdings, das zeigte eine private kleine Umfrage, auch etwas Befreiendes für die Leserin. Paul spricht aus, was seine zivilisierten Geschlechtsgenossen zwar nicht mehr zu sagen wagen, was sie aber alle schon gedacht haben.

Und er tut es nicht elegant und spitzfindig, nicht perfide, nicht in immer neuen eleganten, elaborierten Sprachschleifen, sondern direkt und grob. Dieselbe private Umfrage unter Männern zeigte der Rezensentin die Kehrseite der Münze: Eben noch hat «der Mann» als Leser sich lachend identifiziert, naja, vielleicht schon, doch, ein bißchen jedenfalls, da ist er schon auf durchaus glitschigen Gelände, er fühlt sich ertappt, er steckt in einer Zwickmühle. Was ist von Paul und seinen Ansichten insachen Liebe zu halten?

Manchmal in der Nacht, wenn ich … höre, dass sie ruhig atmet, gehe ich ihr zwischen die Beine und mache ihr schnell mein Geschäft, nicht dass sie mir noch ihren Weiberkram nachservieren kommt… Das sind keine Sachen, die ich nach außen herauslassen würde: Über so etwas redet man nicht, man erwähnt außenherum nichts, man tut nichts, das erraten ließe, was in der Nacht sein kann, wenn man eine im Bett hat und wie einen Schub von seiner herrschaftlichen Natur verspürt, die im Körper wächst und macht, dass man einander befruchtet… Von diesen Dingen ist mir aus Ehrgefühl nie ein Wort und nie auch nur ein einziger Kommentar entschlüpft, und die Vulva hat es richtig gelernt, nachdem sie am Anfang der Ehe, wo das Geschäft fertig gewesen ist, gesagt hat: «Das war nicht gut». Oder: «Mir tuts weh.» Oder: «Das hat vielleicht etwas gemacht.» Seit ich die Ohrfeige und die Warnung ausgegeben habe, dass es stumme Sachen sind, von denen es keine Wörter dafür gibt, sagt sie es nicht mehr, … sie sagt nur ihre Seufzer oder die Tränen, aber keine Sätze oder entheiligende Wörter, die die Werke der Liebe beschmutzen… Es stimmt nicht, Liebe dazu zu sagen, wo man nichts spürt in der Seele, außer die Lust, zuzugreifen und es ihr ordentlich zu besorgen. Man müsste «die Gier» oder «das Rasen» sagen… und doch weiß ich, was man spürt, wenn man ist, wie wenn man liebt: Man schaut und seufzt, man hat die ewige Angst, dass etwas Schlimmes passiert und es ihr das Horn absplittert und der Tierarzt kommen muss. … Die Vulva macht nichts Derartiges, sie hat mir nie Wärme oder eine Schwäche in den Armen verursacht, nie hat sie bei mir den Sorgenmotor angeworfen, dass man bei Mondlicht nicht schlafen kann, weil sie keine Zärtlichkeit einflößt, höchstens eine Schwäche für Maulschellen und das Verlangen, es gerade durchzuziehen, damit es so rasch wie möglich vorbei ist.

Die Geschlechterdifferenz ist, so sagen es inzwischen viele gender-Theorien, sie ist unüberwindlich. Noëlle Revaz gestaltet den «einfachen», brutalen Grundwiderspruch: Hier die Frau, reduziert auf ihre Vulva, bedrohlich in ihrem Begehren, abstoßend in ihrem Bedürfnis nach Zärtlichkeit – und da die selbstgewissen Patriarchen - Georges ist sozusagen die zivilisiertere Variante von Paul. Georges weiß, die Frauen brauchen eine gewisse Portion Zuwendung, ein bisschen Ansprache und Hätschelei, dann folgen sie, wie Kühe, einfach besser. Nun könnte man sagen: «Von wegen den Tieren» ist ein Roman, der durch spielerische Wiederholung bzw. mit den Mitteln des Angriffswitzes einmal mehr ein unendlich altes Thema aufgreift, übrigens, ohne eine Lösung anzubieten.

Die Figuren bleiben im Wesentlichen die, die sie sind. So kann Paul gegen Ende zwar denken, er könne der Vulva mal was Nettes sagen – aber wie gleich anfangs findet der Gedanke nicht ins Wort, der Text kreist in sich. Daß der Roman gleichwohl alles andere als deprimierend wirkt, daß er vielmehr durch seine Komik so oft entzückt, hat natürlich mit der Sprache zu tun. Und es ist an der Zeit, nicht nur die Autorin, sondern auch ihren Übersetzer Andreas Münzner zu würdigen. Ein Text wie der von Revaz verlangt das, was man in aller Emphase eine «Nachdichtung» nennen kann. Diese Nachdichtung ist Münzner, der seinerseits Lyrik schreibt und 2002 bei Rowohlt den Roman Die Höhe der Alpen veröffentlichte, überzeugend gelungen; das eigenartig Vertrackte des Originals findet in der Übertragung eine ihrerseits eigenartige, und dabei in sich schlüssige Entsprechung. Noëlle Revaz hat sich in ihrem Roman eine in Rhythmus und Tonfall unverwechselbare eigene Sprach-Welt erarbeitet, d a r i n liegt das Entscheidende an diesem Debüt. Der Roman befreit sich aus dem sogenannten realistischen Diskurs, er durchquert ihn, um einen anderen, imaginären, fremden Raum zu erreichen. Hier wird ja nicht einfach orale Sprechweise zitiert und imitiert. Sondern hier findet sich ein wildes Patchwork aus Regionalismen, Fachsprache, ein künstliches Idiom aus falsch verbundenen Redewendungen, verdrehter Grammatik bis in die schrägen Präpositionen – und wieder einmal zeigt sich, was die artifiziell hergestellte «arme», die «verhunzte», oder, um mit Ernst Jandl zu reden, die «heruntergekommene» Sprache für Reichtümer bereithält.

Der erste riesige Schrecken kommt von der nackten Haut auf dem Schädel… das setzt einem den Schock, so ein Kopf ohne Haare mit alles nackt auf der Glatze. … Man darf die Kranken nicht zu hart anfassen, erläutert der Georges, … fängt an, von der Dicken zu brüllen, «So Vulvinha, haben wir gut geschlafen?» … dass die ganze Scheune bebt, mit danach den großen Lachsalven, dass sogar ich, wo ich nicht gerade zartbespannt oder dünnfellig besaitet bin, dem Georges sage, er soll aufs Maul hocken und meine Rübe in frieden lassen. Gewiss kapiere ich, dass wenn ich brülle, die Vulva ihre Migränen kriegt, anstatt dass, wenn ich zart flüstere und halbstimmig flöte, … die Vulva sich im Siebzehnten fühlt, dass sie sich mit den Engeln um die Wette wiegen kann. … Man könnte glauben, die ganze Hofwelt dreht sich nur um sie: Man darf die kleine Vulva wegen ihrem Bauch nicht verschrecken, man darf ihr nicht widersprechen, sie darf nichts tragen… Was kann dieser Bauch schon so Besonderes an sich haben? … Vielleicht ist es gerade der richtige Augenblick, mich ein bisschen um sie zu kümmern und mit ins Bett zu steigen, … nicht aus echter Lust, obwohl die bei der Anwendung immer kommt, sondern damit es sich zwischen den Parteien wieder ausgleicht und es gemäß den Worten vom Georges selig unter den Laken wieder frisch zündet…

Noëlle Revaz’ Sprache ist ein einziger Spott und Hohn auf den klassisch hohen Ton, der ihr doch aus der Arbeit mit dem Lateinischen nur zu vertraut ist. Auf der syntaktischen Ebene wird eine starre, fest fixierte Sprachkonzeption von ihrem ehernen Sockel gestürzt. Und infolgedessen stürzt auch die Vorstellung von einem Subjekt, von einem Ich, das als reflexive Identität bestimmt wird. Das Ich ist nicht Herr seiner Rede, diese in der psychoanalytischen und poststrukturalistischen Theorie ausgearbeitete These wird hier noch einmal mit leichter Hand und – das ist das besondere – vor allem auch mit emotionalem Vermögen inszeniert.

Paul, ach, Paul: Jawohl, er ist der Mann, der Bauer, der Gebieter, der Besitzer – aber was ist er denn nicht noch alles. Er ist Hanswurst, Schmierenkomödiant, glücklicher und bespuckter Vater, kindlicher Briefeschreiber, er ist ein geradezu mütterlicher Geburtshelfer bei den Kühen, auch ein Dichter und Philosoph kann er werden – und diese verwirrende Vielfalt weist, abstrakt gesehen, auf Folgendes hin: Er ist nicht die oberste Instanz, der Herr im Haus. Nicht er ist das Subjekt seiner Sprache – sondern Paul ist Effekt seiner Sprache. So ist er nicht «ein einer, ein Einziger.» Der Roman «Von wegen den Tieren» mag an der Oberfläche ein geschlossenes System schaffen – und doch befreit er die Leser aus der Falle der dichotomischen Denkweise. Was ganz wie aus einem Guß zu sein scheint, die unwidersprochene Rede Pauls, lebt von ihren Lücken und Brüchen, von Widersprüchen, Vertauschungen und Überschreitungen.

Pauls Monolog ist in vieler Hinsicht ein Paradox, und so ist er nicht zuletzt gleichzeitig schamlos und von einer Reinheit, die berührt. Noëlle Revaz hat ein Buch geschrieben, das auf mehreren Ebenen lesbar ist: Ein Roman, erstens, übers Landleben; die hier beschriebenen Kühe bleiben ja Rindviecher. Aber das Buch ist zweitens auch ein Roman übers Menschenvieh, über die Dornenkrone der Schöpfung, über die Gewalt zwischen Mann und Frau. Und drittens zeigt der Roman: Das Menschenvieh konstituiert sich durch seine Rede, und in dieser Rede ist es unbehaust, ein unsicherer Geselle. Man gerät ins Staunen, wenn man ihm auf seinen krummen Wegen folgt.



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