Peter Waterhouse

«an dem oberen Querbalken der Tür»



Biagio Marins Gedichte sind in der Dialektsprache der Adriainsel Grado geschrieben, in der Großmutter- und Muttersprache, in der Nachtigall- und Amselsprache, Rosmarin- und Rosensprache, Bäche- und Wiesensprache, sie sind geschrieben mit sehr nahen Worten, und handnah ist diese Welt. Es sind Gedichte der Physis. «Die Wimper hat Schatten», aber keine Worte hat diese Sprache für die allgemeineren Ereignisse und Dinge. Zwar gebraucht Marin auch Worte von draußen, aus dem großen Italien, aus den Verhältnissen der Kommunikation, aber dann sind es übersetzte, aus dem großen Italienisch in ein kleines Italienisch übertragene, zurückisolierte, in die Nähe übersetzte und in die Würde, denn die Würde ist winzig; auch sehr leicht, das Leichteste, das Licht. Die Insel ist wohl die lange Zeit seines Lebens Biagio Marins einziger Ort geblieben; in die damals k.u.k. österreichische Schule ist er nach Gorizia/Görz, ins Friaul, gefahren, ein österreichischer Schüler, der seine ersten Gedichte auch in Deutsch geschrieben hat, Philosophie studiert hat er in Wien und Florenz und zuletzt in Rom abgeschlossen, in den Weltkrieg gezogen ist er als Soldat und Arbeit und Einkommen hat er gefunden in verschiedenen Berufen in Triest und wieder auf Grado. Immer war ihm die Insel die Begleiterin, ihre Sprache hat er fortwährend gedichtet, mehrere tausend Gedichte hat er veröffentlicht, man könnte meinen: für jeden Bewohner der Insel eines, bis zu seinem Tod, vierundneunzigjährig, 1985. Alles in den Gedichten ist Reduktion, Bewegung auf den Tod zu; und wie klar spricht der Dialekt diese Reduktion in seinen zahlreichen gekürzten bis elliptischen Wortbildungen; und wie selbstverständlich werden manche Verbformen nur im Singular gebildet; und wie leicht nimmt er die großen Worte in seine Lautung und begrenzte Geltung, das italienische ondeggiamento in ondesamento, momenti in muminti, und ihrem blauen Farbadjektiv biave gestattet diese Sprache wie leicht die abstrakte Endung und verwandelt es in biavità. So daß wir in der Übersetzung schon nach dem immatriellen Reim suchten, nach dem schwebenden Reim (Marin würde sagen: rime in svolo): «in deinen Schritten kommt Abend / die Wimper hat Schatten». Marins Wortbildungen sind immer Schöpfungen der Nähe, der Mutternähe, Rosmarin- und Wiesennähe; es sind Aufrufe und Erinnerungen; die Sprache benennt und behauptet nicht, sondern erinnert. Warum aber bleibt für diese Sprache 'so vieles' nicht ansprechbar und nicht erinnerbar? Warum spricht sie, im Zweifelsfall, nicht die Fremdsprache, die Staats- und Weltsprache, wie es jeder zu tun gezwungen ist? Das geht nicht! Denn die Seele ist ein Hauch! Mit den wenigen hundert Wörtern, auf die Marin schließlich sein Vokabular einschränken kann, schreibt er von der Landschaft, dem Licht, den Sternen, der Lagune, dem Meer, den Bächen, Blumen, Feldern, dem Wind, sinnliche Einzelheiten, Lebendigkeiten, wieder und wieder, nahezu monoton, aber jedes Wort steht im Prozeß der Sublimation, im Prozeß des Leichtwerdens, des Ineinsgehens, also auch des Sterbens. Sublim, sublimis, das heißt: an dem oberen Querbalken der Tür aufgehängt, und schwebend wird das Wort Frühlicht, schwebend wird das Wort Narzissenfeld und das Wort Mandelbaum - es meint nicht, sondern es sublimiert, es geht über sich hinaus, es feiert. Aber Marin vermag nur in der kleinen, kleinsten Sprache zu sublimieren und zu feiern. Die reiche, große Sprache hat nichts zu feiern. (Größe ist unwirklich.) Die kleine Sprache feiert im kreativen Kern, ihre Sublimation führt nicht ins Jenseits, auch nicht in Staat und Welt, sondern ins Zentrum der Lebendigkeit und Kraft. Ihre Weite ist ganz sinnlich klein; klein, flüchtig, physisch, mandelblütenförmig. Die hier zu lesende Erhabenheit ist augenbrauen- und wimpernförmig. (Nicht Zeus' Augenbraue, sondern die der Dorfbewohnerin.) Ihre Unendlichkeit liegt in der Annäherung an den Wert Null (Grado-Null). Sie macht alles dialektal winzig, fraktal (auch den Himmel) und insulär und konkret da. (Da und Dauer.) Ihre Unendlichkeit liegt im Mineralischen (A-Methystischen), das Dasein ist nicht Rausch, sondern kristallen. Marin spricht und schreibt den Da-Dialekt. Ein Sandkorn ist der erhabene, hohe Himmel; denn es ist so winzig und offen. «Jedes Ding, das ich besitzen will, wird mir undurchsichtig», lautet der Satz von André Gide. Hier besitzt einer nichts; und kann sehen.

(Zu: In memoria / Der Wind der Ewigkeit wird stärker)