Joachim Sartorius Ein Kopfsprung, ein Lallen und ein wirkliche phonische Droge Süddeutsche Zeitung, 5. Dezember 2001 Wie man dem lastenden Gedächtnis der Wörter entkommt: Zum Beginn der deutschen Werkausgabe des Dichters Andrea Zanzotto Pier Paolo Pasolini hat, wie Andrea Zanzottos Übersetzerquartett im gemeinsamen Nachwort berichtet, von einer «Erfahrung des Nichtwissens» gesprochen, als er dessen Gedichtband «La Beltà» (Pracht), 1968 erschienen, las. Pasolini formulierte damals seine Ratlosigkeit: «Man weiß nie, in welchem semantischen Feld man sich befindet: der Leser gerät in einen beispiellosen Zustand der Entfremdung von seinen Gewohnheiten.» Wenn wir heute «La Beltà» lesen, erfahren wir die gleiche Verwirrung, die gleiche Ratlosigkeit. Wer Zanzotto nach der Verleihung des Preises der europäischen Poesie in Münster erlebt hat – redselig am hinteren Tisch einer Kneipe, das Glas Rotwein vor der Nase, die Baskenmütze auf dem Kopf –, kann jenes Bild eines liebenswürdigen italienischen Landmannes kaum zur Deckung bringen mit diesem Gedichtband, seinem vierten, in dem er nichts anderes als eine neue Sprache versucht, jenseits von Bedeutungen und an Objekte gebundenen Wahrnehmungen. Daraus resultiert zunächst eine enorme Freiheit, eine von Zanzotto beim Leser freigesetzte Freiheit – und eine Musik. Luigi Nono hat noch kurz vor seinem Tod Zanzotto als den größten lebenden Dichter Italiens bezeichnet, wohl weil hier parallele Recherchen vorliegen – neue Sprachen, neue Töne zu finden. Zanzotto zitiert – in dem Gedicht «Gleichwohl noch der Schnee» – Hölderlin: «Ein Zeichen sind wir, deutungslos», und fügt etwas an, das sein Programm sein könnte: «wo aber treten die Achsen zusammen? / Kann es denn sein? Und was wird mit uns? Und du warum, warum du? / Und was und warum tun die riesigen Körper und all die Sachen-Ursachen / und das Funkelnde und das Flunkernde?» Ja, diese Texte funkeln. Zanzotto ist ein mit allen Wassern der Poesie, der Linguistik, des Films, der aktuellen Musik und der bildenden Kunst gewaschener Poet. Es gibt in seinen Gedichten durchaus eine normale, allen verständliche Sprachebene. Es gibt auch eine Ebene, die aller Esoterik abgewandt ist und von Dingen unserer Welt wimmelt: von Barbie bis Milupa, von Interspar, Tevau (TV) bis Fallschirmabsprüngen. Es gibt schließlich auch eine Ebene, die fast die des Heimatdichters ist: Wir finden sein Städtchen (Pieve), seine Landschaft (Treviso), seinen Fluss (Soligo), seine Hügel, Felder, Ernten, Jahreszeiten, Gewitter und Schnee. Aber dann gibt es noch eine Ebene, die diese Gedichte unverwechselbar und einzig macht. Man könnte sie oberflächlich als experimentelle, verstörende, Sprache neu ordnende Ebene bezeichnen. Sie ist, falls wir uns darauf einlassen, fast so etwas wie eine vorsprachliche Ebene, eine Ebene des lallenden, stammelnden Suchens. Das meinte wohl Zanzottos berühmter Kollege Eugenio Montale, als er dessen Lyrik als «wahren Kopfsprung in jenen Vor-Ausdrucksbereich, der dem artikulierten Wort vorausgeht», begrüßte. In diesem Sinne ist das Gedicht «L’elegia in Pétel» – Die lallende Elegie — das geheime Zentrum dieses Bandes, Scharnier zwischen all den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Im Grunde will Zanzotto dem langen Gedächtnis der Jahrhunderte, mehr lastend auf einem italienischen Dichter als vielleicht auf Dichtern anderer Sprachräume, misstrauen, dem Fluch der historischen Erinnerung der Wörter entgehen und zurückfinden zu einem verlorenen Gedächtnis der Kindheit, das ein Zugehen auf die Zerstörungen der Gegenwart erlaubt. Viele Passagen in diesen Gedichten zeugen von einem tastenden Sinn, von ungefügen Versuchen, die «biophysische Struktur der Sprache» wiederzufinden, um mit dem Schreiben zu beginnen. Der Dialekt des Veneto, der betörende Singsang der venezianischen Wiegenlieder helfen ihm bei diesen Versuchen. In einer autobiografischen Notiz benennt er, der nicht leicht «ich» sagt und in der dritten Person spricht, den fernen Ursprung dieser erinnerten, zusammengefügten, erfundenen Sprache: «Er empfand etwas ganz unendlich Süßes, als er Kinderreime, nicht gesungene, nur gesprochene oder einfach vorgelesene kleine Strophen und Lieder hörte, gerade wegen ihrer harmonischen Verbindung mit der Funktion der Sprache, mit ihrem inneren Gesang (…) Und die Großmutter, die eben jene Form von Kultur besaß, die sehr oft noch in den unteren Volksschichten zu finden war (…), trug ihm die Strophen Tassos vor … Diese Harmonie des 'illustren' Toskanischen sickerte durch ihn wie ein wahrer, ein wirklicher Traum, eine wirkliche phonische Droge zusammen mit Fragmenten anderer Sprachen, wirkliche Xenoglossien.» Wir können uns vorstellen, was für eine Herausforderung diese tönende Droge, dieses Amalgam aus verschütteten Kindheitsworten, Bildsplittern, Relikten der literarischen Erinnerung, magischen Formeln für die Übersetzer darstellte. Ohne sich selbst gewährte Freiheiten, ohne Erfindungstollheit und ohne Spaß wäre das Übertragen der «Pracht» gar nicht möglich. Das Eröffnungsgedicht des Bandes wird gleich in fünf deutschen und einer englischen Fassung vorgestellt. Um darauf einzustimmen, dass es hier «eine» Übertragung nicht geben kann? Gewiss ließe sich akribisch viel für und auch ein wenig gegen diese Übersetzungskünstler und -künste sagen. Warum zum Teufel gibt es zum Beispiel immer wieder englische Wendungen in der deutschen Fassung, wo Zanzotto ganz ohne diese Globalisierungssprache auskommt – zum Beispiel «unwritten» für «mai cuciti». Aber solche Details, die gewisse auf Lautmalerischem gründende Überhitztheiten bloßlegen, treffen letztlich nicht den Punkt. Hier haben sich vier Leute enorm viel Mühe gemacht und bewundernswerte Lösungen gefunden. Man denkt an Felix Philipp Ingolds Ausspruch, dass nämlich die Übersetzung, «stumm in der Schwebe zwischen dem zu übersetzenden und dem übersetzten Text, sich als ein ausgeschlossenes Drittes denken lässt, das weder vom Autor noch vom Übersetzer 'begriffen' und folglich auch nicht 'verraten' werden kann.» Dies ist der erste einer auf neun Bände angelegten Gesamtausgabe. Ein solches Projekt hat immer auch etwas Erschlagendes. Die ersten Bände werden beachtet, dann erlahmt das Interesse der Rezensenten. Das darf bei diesem tollkühnen Projekt nicht passieren. Leser, Kritiker, wacht auf! |