Jan Wiele Mein lieber Herr Gesang Oh, Dickerl Besprechung von Hans Thills Gedichtband Karaoke 2 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Dezember 2025 Wenn man in der Lyrik etwas ganz Neues versucht, ist das gefährlich. Es kann sein, dass man damit zunächst einmal Leute mit einer etablierten Kunstauffassung gehörig vor den Kopf stößt (Expressionismus), später aber, manchmal erst von der Nachwelt, als Avantgardist gefeiert wird. Humor in der Lyrik ist besonders gefährlich, weil er, mehr noch als das lyrische an sich, Geschmackssache ist. Einige mögen Ringelnatz, andere finden ihn albern. Einige goutieren die Verse von Wiglaf Droste, anderen sind sie zu derb. Immerhin: Humor in der Lyrik überhaupt zu riskieren, nach dem Tod von Ernst Jandl und Robert Gernhardt, Friederike Mayröcker und Elke Erb, ist mutig. Aber es kann auch gewaltig schiefgehen, sogar bei Autoren, die vermeintlich ganz nah am Puls der Zeit sind. Jüngstes Beispiel: Sibylle Berg. Im Anstrich gegenwärtig, versehen mit ironischen Triggerwarnungen, hat die Verfasserin von gelungenen Zeitromanen wie "GRM" (2019) vor kurzem mit "try praying" einen stilistisch so verstaubten Gedichtband veröffentlicht, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll (vor Fremdscham). So peinliche Gedichte, gereimt in einem epigonalen, aber nicht mal als Wilhelm-Busch-Parodie oder Morgenstern-Hommage gelungenen Ton, hat man kaum je zu Gesicht bekommen. Vielleicht war es auch Sibylle Bergs didaktische Überlegung, der Generation Tiktok, in deren Deutschunterricht nichts mehr vorkommt, was älter als Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" ist, zumindest lyrische Muster des 19. Jahrhunderts näherzubringen. Einen ganz anderen Ansatz zur Vermittlung wählt nun der Dichter Hans Thill. Er nennt sein Prinzip "Karaoke 2", was zunächst einmal darauf verweist, dass er die Werke vorausgegangener Dichter aufgreift und ehrt. Doch singt er sie nicht nach, sondern wagt so etwas wie eine interlineare Interpretation - einfacher gesagt: Er macht zu jeder Zeile eines vorgefundenen Gedichts ein eigenes neues Gedicht, quasi als Fußnote. Dabei durchmisst er Jahrhunderte vom Barock bis zur Gegenwart. Thill nimmt sich etwa Hölderlins "An die jungen Dichter" und kommentiert die Zeile "lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht", wie folgt: "sieben Brüder (Schwaben vielleicht), alle im selben Fleece-shirt und ohne Strimpf gang i net Hoim, Dicker". Wild mischt er Bildungsgut mit Dialekt, reportageartige Schnappschüsse mit Slang. Bisweilen kalauert es auch sehr: "schlimmer als in Oxford am Berg" fühlt Thill sich bei Stefan George; Wordsworth schreckt ihn: "Mein lieber Herr Gesang, ich fass das nicht mehr an." In einem Radiogespräch hat Thill zu seiner Karaoketechnik erklärt, er spiele entweder mit der Lautlichkeit der vorgefundenen Zeile, mit der Sprache oder mit den Motiven. Aber manchmal hat man vielmehr das Gefühl, der Dichter werde hier gespielt - eine Marionette der freien Assoziation. Von Gottfried Benn wissen wir, dass Worte nur die Schwingen zu öffnen brauchen, und schon entfallen Jahrtausende ihrem Flug. Übersetzt in Thills Idiom heißt das: "Dann rasch wird es heiß unter der Kapuze und es kommen dir die alten Töne step by step." Die Verwendung von Jugendsprache durch "Boomer", wie der 1954 geborene Thill einer ist, steht freilich ebenfalls schnell unter Peinlichkeitsverdacht. Aber wie er hier "Dicker" oder "dissen" zwischen Gryphius und Derrida mogelt, wirkt so ausgestellt gebrochen, dass es kaum als Anbiederung verstanden werden kann. Die Gefahr besteht bei dieser Dichtung vielmehr darin, dass man sie bisweilen nicht versteht: Warum auch immer, macht Guillaume Apollinaires "Nuit rhénane" dem Karaokesänger "Klötenweh" in Rolandseck. Aber lustig ist diese Lyrik oft auch gerade ohne dass man weiß, warum: "Nieman (sic) ist eine Ilse" fällt ihm zu Ilse Aichinger ein. Im Sinne einer intertextuellen Dichtung, wie sie als Signum der Moderne gilt, hat Hans Thill hier tatsächlich noch mal etwas Neues geschaffen, die vorgeschobenste Stufe erreicht. So entsteht ein lyrisches Paradox: im Geiste der Retromanie, in der Form durchaus avantgardistisch.
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