Birgit Kempker

Traurig




«Die traurigsten Liebhaber wachsen in der Schweiz auf, weil es dort die leckerste Schokolade gibt», sagte Iso Kam zu Annegret Speck, die er seit drei Monaten zu lieben versuchte, in Berlin. «Die traurigsten Liebhaber wachsen in der Schweiz auf Bäumen», sagte Iso, um wenigstens etwas in Rätseln zu sprechen, denn er wollte sich nicht ganz verraten, ganz unerkannt bleiben in seiner Taurigkeit wollte er auch nicht gern. «Woher weisst du das», fragte Annegret, «und seit wann?» - «Seit ich in Berlin bin, seit jetzt, wo ich es dir sage, Annegret», sagte Iso, «es tut mir leid, ich wäre gern dein Glück und Sonnenschein gewesen.»
Iso weinte, denn die traurigsten Liebhaber sind in Berlin am traurigsten, weil die traurigsten Liebhaber immer nach Berlin reisen, auch wenn sie schon lange keine Liebhaber mehr sind in ihren Kantonen und die Schweizer Frauen ihnen schon lange weggelaufen sind. Im Zug schon, kaum sind sie eingestiegen, sind sie es wieder, Liebhaber in spe, denn sie fahren nach Berlin und in Berlin sind die Frauen ungeküsst, sie stehen frierend am Bahnhof und warten auf die Züge mit den Schweizer Männern, die ihnen Schokolade mitbringen und sie dann küssen, wenn die Schokolade gegessen ist.
Statt unerschrocken und fröhlich aus den Zügen aus Bern, Lugano und Chur zu steigen und sich die Frauen zu packen und dann zu küssen, packen sich die Schweizer Liebhaber ihre mitgebrachten Znünis und Zvieris aus und beissen herzhaft rein.
«Die traurigen Schweizer Liebhaber trauen sich nicht, in die Frauen rein zu beissen, was die Berliner Frauen gerne mögen, das Reinbeissen. Deshalb nehmen die Berliner Frauen die Schweizer Männer gleich vom Zug weg mit zu sich nach Hause, lassen sie in ihren Bettchen schlafen, von ihren Tellerchen essen, wegen der schweizerischen Schüchternheit, die so schön ist, weil die Buben dabei rote Backen kriegen und so unverdorben und deshalb noch so richtig zu wecken sind und weil sie nicht so scharf und kantig sprechen, wie Papa und Onkel Hugo, weil sie Samt und nämlich Charme und Sahne in der Stimme haben. Wenn sie dann aber nach drei Monaten noch immer schlafen, trotz Samt und Charme, dann ist es eigentlich genug», denkt Annegret und rührt den Kakao in die Milch.
Während Annegret Speck den Kakao schaumig schlug und an die traurigen Schweizer Liebhaber dachte,wie sie in der Schweiz wachsen und wachsen und wie sie dann nicht aufwachen wollen, auch nicht in Berlin, da kochte der Kakao an und dann über und es kam Leben in Iso, denn eines darf ein Kakao, ob in Berlin oder Bern nun wirklich nicht: anhocken und überkochen. In Iso sammelten sich alle ausgeschlafenen Kräfte, seine Muskeln spannten sich, sein Adamsapfel zuckte, seine Hände vibrierten, sein Kinn auch, sein Mund bebte und seine Knie zitterten vor Tatendrang, eine Hitze schoss Iso den Rücken hoch in die Ohren, seine Augen nässten vor Rührung die Wimpern, seine Zunge flatterte haltlos in seinem Mund und er hielt es nicht länger zurück, riss sich das Hemd vom Leib und packte damit den Topf, den er innerlich Pfanne nannte und aber in Berlin jetzt Topf zu nennen verdammt war und rettete, was zu retten war, eine Tasse Kakao und den Topf, den er innerlich Pfanne nannte und den Herd und damit auch Annegrets Ehre.
«Halt», dachte Annegret, «jetzt keinen Fehler machen!» So erregt hatte sie Iso noch nie gesehen, nicht mal halb so erregt, ach was, nicht ein Viertel so erregt, eigentlich nicht mal ein Prozent so erregt wie jetzt mit dem Hemd in der Hand, barbrüstig und aus den Augen funkelte er, dass es Annegret ganz anders wurde. «Dieser Mann hat Probleme», dachte Annegret, «und er hat Feuer, weil er aus der Schweiz kommt, kommen die Probleme auch aus der Schweiz und weil wir hier Berlin ist, ist hier bald auch kein Problem mehr, sondern nur der Rest vom Problem, nämlich Feuer, männliches.» - «Der Topf hat auch eine Seele, du», sagte Iso und dachte zurück an die heimeligen lieben und kompetenten Schweizer Frauen, «und du sollst keinen Kakao verschwenden und keinen Herd ruinieren, Annegret», sagte Iso.
«Übergangsobjekte», denkt Annegret, «er muss Übergangsobjekte bilden, er liebt mich so sehr, dass er zum Schutz den Topf lieben muss, ist er nicht niedlich, wie er da steht mit den heissen Öhrchen. Ich liebe ihn», denkt Annegret und küsst zuerst die Ohren, dann den Rest. Bis zum bitteren Ende.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor