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Tim Krohn

Verbrechen & Strafe: 14. Szene




(Dmitrij tritt vergnügt vom Casino her ein.)

Dmitrij
Lasst euch nicht stören. Dunja und ich sind drüben im Casino, Rodja. Deine Schwester wollte, statt zu essen, plötzlich unbedingt ein Spiel machen. Sie hat schon ihren ganzen kleinen Einsatz verloren, aber ich habe eine ausgesprochene Glückssträhne, Rodja, stell dir vor. Kein Grund mehr, mich zu betrinken, ich gewinne und gewinne. Übrigens, mein Lieber, weisst du schon? Der Mörder ist geschnappt, Porfirij hat es mir eben erzählt. Er hat sich selbst gestellt, die Tat gestanden und eine ganze Reihe Beweise vorgelegt. (Er nimmt die Jacke, zwinkert Rodja zu und geht an Porfirij Petrowitsch vorbei hinaus.)

Dmitrij
Offensichtlich haben wir alle heute unsere Glückssträhne.

Porfirij Petrowitsch
Sonja, darf ich eintreten? (Er setzt sich.) Du musst doch sicher sowieso gleich auftreten?

Sonja
Stimmt.

(Sie beginnt sich zurecht zu machen.)

Porfirij Petrowitsch (lachend)
Unerwarteter Besuch, Rodja? Keine Sorge, ich halte Sie nicht lange auf, höchstens auf ein Zigarettchen, wenn Sie erlauben.

Rodja (höchst zufrieden und freundschaftlich)
Aber bitte, solange Sie möchten.

Porfirij Petrowitsch
Ach ja, diese Zigaretten. Das reine Gift, und doch kann ich es nicht lassen. Husten, belegter Hals, Atemnot. Aber wie soll ich das Rauchen sein lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Unglücklicherweise trinke ich nicht. (Er lacht.) Ich komme, um mich auszusprechen, ich schulde Ihnen eine Erklärung. Und vielleicht stehe ich mit einer grossen Schuld vor Ihnen. Erinnern Sie sich noch, wie wir uns vorhin trennten? Ihre Nerven flatterten, Ihre Knie zitterten, mir flatterten die Nerven auch. Und wissen Sie, unser Umgang miteinander war nicht eben gentlemanlike. Marmeladow rettete uns, ich weiss nicht, wie weit wir noch gegangen wären. Sie sind ein extrem reizbarer Mensch. Übrigens traf Ihr Verdacht nicht zu, ich hatte nicht im Sinn, Sie verhaften zu lassen.

Rodja
Aber ... aber weshalb erzählen Sie mir das alles?

Porfirij Petrowitsch
Weshalb?

Rodja
Dmitrij hat mir eben gesagt, dass Sie Marmeladow nach wie vor für den Täter halten.

Porfirij Petrowitsch
Ja, dieser Dmitrij Rasumichin. (Er lacht.) Ich musste ihn irgendwie aus der Geschichte heraushalten, wo zwei sich vergnügen, kann ein dritter nur stören. Dmitrij ist ein Aussenstehender, besorgt um Sie, aber eben doch ein Aussenstehender, er kam weiss wie die Wand zu mir gelaufen ... Warum sollte man ihn da hineinziehen. In dieser Sache geht es schliesslich nicht um Dmitrij, so wenig, wie es hier um Marmeladow geht.

Rodja
Nicht um Marmeladow?

Porfirij Petrowitsch
Ich bitte Sie, lieber Rodja. Marmeladow - den ich wirklich gern gewonnen habe und den ich gründlich studiere - wusste einfach nicht, wo er heute Nacht bleiben soll. Er hat ein Problem mit dem Alkohol und dadurch ein zweites mit seiner Frau und deshalb heute Nacht kein Dach über dem Kopf, unter dem er seinen Rausch ausschlafen könnte.

Rodja (keucht)
Aber wer ist ... dann ... der Mörder?

Porfirij Petrowitsch (höchst überrascht)
Wer der Mörder ist? Aber Sie sind der Mörder, Rodja. Sie haben gemordet. (Teilnahmsvoll) Ihre Lippe zuckt schon wieder. Sie hatten mich offensichtlich nicht recht verstanden, Rodja. Ich bin doch eben deshalb nochmals hier, um mit Ihnen in aller Offenheit zu reden.

Rodja (flüstert)
Ich habe nicht gemordet.

Porfirij Petrowitsch (flüstert streng)
Doch, Sie waren es, Rodja, Sie und niemand sonst.

(Schweigen.)

Rodja (plötzlich geringschätzig)
Ach, immer dieselben verbrauchten Kniffe. Wird Ihnen das nicht langweilig?

Porfirij Petrowitsch
Kommen Sie, wozu bräuchte ich jetzt noch irgendwelche Kniffe. Sie sehen doch, dass ich nicht gekommen bin, um Sie wie einen Hasen zu hetzen und schliesslich zu erlegen. Ob Sie gestehen oder nicht, ist mir im Moment vollkommen gleichgültig, ich weiss, dass Sie es waren.

Rodja (gereizt)
Und weshalb lassen Sie mich dann nicht verhaften?

Porfirij Petrowitsch
Das ist die richtige Frage, darauf werde ich Ihnen Punkt um Punkt antworten. Erstens ist es für mich nicht günstig, Sie so einfach einsperren zu lassen.

Rodja
Was heisst «nicht günstig»? Wenn Sie sich sicher sind, sind Sie doch wohl verpflichtet ...

Porfirij Petrowitsch
Ach, was hat das denn zu sagen, dass ich mir sicher bin. Ich habe doch selber zugegeben, mehrmals zugegeben, dass ich nichts gegen Sie in der Hand habe. Und wenn ich Sie jetzt einsperren lasse, wie komme ich dann an meine Beweise? Nun, zweitens bin ich hier ...

Rodja (noch immer atemlos)
Stimmt, zweitens?

Porfirij Petrowitsch
... weil es mich wie gesagt drängt, eine Erklärung abzugeben. Ich möchte nämlich nicht, dass Sie mich für einen Barbaren halten, um so weniger, als ich Sie aufrichtig leiden mag. Und daher komme ich drittens mit dem offenen und ehrlichen Angebot zu Ihnen, dass Sie ein rechtsgültiges Geständnis ablegen.

Rodja
Und wenn Sie sich nun täuschen?

Porfirij Petrowitsch
Nein, Rodja, ich täusche mich nicht, und ich werde Ihre Verhaftung nicht lange hinauszögern können. Also überlegen Sie es sich.

Rodja (lächelt boshaft)
Weshalb sollte ich ein Geständnis ablegen, solange Sie, wie Sie selbst gestehen, keine Beweise gegen mich in der Hand haben?

Porfirij Petrowitsch
Rodja, glauben Sie doch nicht, wenn Sie nicht gestehen, könnten Sie in Zukunft in Frieden leben. Weshalb Sie ein Geständnis ablegen sollen? Haben Sie eine Ahnung, mit welcher Strafmilderung Sie rechnen können? Sie entlasten einen Geständigen und verhindern ein Fehlurteil. Die ganze Psychologie lassen wir im Prozess beiseite, Ihre philosophischen Spielereien lassen wir in Rauch aufgehen, Ihre Tat wird als ein Produkt kurzfristiger geistiger Umnachtung erscheinen. Genaugenommen war es ja auch nichts anderes. Ich bin ein aufrichtiger Mensch, Rodja, und halte mein Wort.

(Rodja schweigt traurig, dann lächelt er ebenso traurig.)

Rodja
Ach, das ist nicht nötig. Es lohnt sich nicht, ich habe Ihre Strafmilderung nicht nötig.

Porfirij Petrowitsch (bewegt)
Eben das befürchte ich ja, das befürchte ich, dass Sie keine Strafmilderung benötigen werden. Ich bitte Sie, schätzen Sie das Leben nicht so gering ein, Sie haben noch so vieles vor sich. Gott, sind Sie ein ungeduldiger Mensch.

Rodja
Was habe ich denn noch vor mir?

Porfirij Petrowitsch
Das Leben. Sind Sie ein Prophet? Was wissen Sie denn? Sie werden ja nicht ewig im Gefängnis bleiben.

Rodja (lacht)
Denn ich bekomme ja Strafmilderung.

(Er steht auf und lässt sich gleich wieder auf den Stuhl fallen.)

Rodja
Was soll's.

Porfirij Petrowitsch
Schön, was soll's. Sie haben es verlernt, einem Menschen zu vertrauen, und glauben, ich wolle Sie einwickeln. Was Sie jetzt brauchen, ist einfach Luft. Nichts als etwas Luft.

Rodja
Wer sind Sie? Wer sind Sie, mit mir so zu sprechen?

Porfirij Petrowitsch
Ich? Wer ich bin? Ein Mensch, der nichts mehr erwarten kann, als dass ein Arzt herzhaft über seine erweiterte Lunge lacht. Sie dagegen ...

Rodja (unterbricht ihn)
Wann werden Sie mich verhaften lassen?

Porfirij Petrowitsch
Oh, ich denke, ein, zwei Tage kann ich Sie noch mit gutem Gewissen durch die Stadt spazieren lassen.

Rodja (unterbricht ihn)
Und wenn ich weglaufe?

Porfirij Petrowitsch
Sie laufen nicht weg. Ein Trottel würde weglaufen, ein Sektierer ... An Ihre Theorie glauben Sie nicht mehr, und was sonst wollen Sie auf Ihre Flucht mitnehmen? Sie kommen ohne uns nicht aus.

(Rodja greift nach der Jacke. Porfirij Petrowitsch steht mit ihm auf.)

Porfirij Petrowitsch
Werden Sie einen Spaziergang machen? Ich jedenfalls werde einen kleinen Spaziergang machen. Es ist ein hübscher Abend, ich hoffe nur, es gibt kein Gewitter. (Lächelt) Wobei uns eine kleine Abkühlung auch nicht schaden würde.

Rodja
Bitte bilden Sie sich nicht ein, Porfirij Petrowitsch, ich hätte eben ein Geständnis abgelegt. Sie sind ein sonderbarer Mensch, und ich habe Ihnen aus blosser Neugierde zugehört. Ich habe nicht das mindeste gestanden, denken Sie daran.

Porfirij Petrowitsch
Jaja, ich weiss schon, ich werde daran denken. Sieh einer an, Sie zittern ganz schön. Gehen Sie etwas nach draussen, wirklich. Auf alle Fälle hätte ich noch eine klitzekleine Bitte an Sie, sie ist etwas heikel, aber wichtig. Wenn - das heisst für alle Fälle, ich selbst glaube ja nicht daran und finde, das würde Ihnen überhaupt nicht zu Gesicht stehen ...
(Swidrigajlow kommt vom Casino und flezt sich in einen Sessel. Er war zuvor bereits einmal ins Séparée gekommen, hatte eine Weile unbeteiligt dagesessen und war schweigend wieder gegangen.)

Porfirij Petrowitsch
... wenn Sie im Lauf der nächsten Stunden Lust verspüren sollten, der ganzen Sache auf eine andere, phantastische Art ein Ende zu setzen und vielleicht Hand an sich zu legen, dann bitte hinterlassen Sie ein kurzes, einigermassen präzises Briefchen. Ein paar kurze Zeilen, nicht mehr als einen Hinweis, wo wir das Beil finden, das wäre nobel. Dann also auf Wiedersehen. (Er geht.)

Porfirij Petrowitsch
Ach, die brauche ich wohl nicht, ich komme ja wieder.

(Er wirft von der Tür aus seine Jacke über einen Stuhl und geht hinaus. Rodja bleibt im Raum stehen. Schweigen.)

aus: Bienen, Königinnen, Schwäne in Stücken


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